In
Posting #12190; „Suche Drei-Sterne-Gedicht“, 17.11.2009 zitierst Du, liebe Ingrid:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:- … Wir Vergeuder der Schmerzen.
Wie wir sie absehn voraus in die traurige Dauer,
Ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja
Zeiten von uns, unser winter-
Währiges Laubwerk, Wiesen, Teiche, angeborene Landschaft,
Von Geschöpfen im Schilf und von Vögeln bewohnt.
Ich kann im Augenblick noch nicht
dort, will aber
hier darauf eingehen.
Wie ist das Rätsel zu lösen, dass Rilke über Schmerz einmal schreibt,
Rainer Maria Rilke aus Duino an Elsa Bruckmann am 11. April 1912 hat geschrieben:Es ist unleidlich, körperlich aufgehalten zu sein, ich begriff nie, wie Menschen es anstellen, aus irgendeinem Malaise geistig Nutzen zu nehmen, mir ists nur wie eine Kränkung, sooft mirs widerfährt, und ich kann mir nur erst wieder im Äußersten eine große Verwendung solcher Leiden vorstellen, wenn sie unermesslich geworden sind, im Martyrium, wo es dann fast keinen Ausweg gibt, als eine Schmerzmenge, die leiblich nicht mehr unterzubringen ist, mit ihrem allen Andrang in die Seele hinüberzuwerfen: als wo der Schmerz, woher er auch stammen mag, sofort zur puren Kraft wird, etwa wie im Kunstwerk das Schwere, ja selbst das Hässliche über dem reinen Dasein, das es annimmt, sich nur noch als Stärke, als Entschlossenheit und Fülle des Lebens offenbart. Aber im kleinen körperlich zu leiden, stellenweise, ist sinnlos, etwas, wovor ich Sorge habe, wie vor einer Zerstreuung.
dann
Rainer Maria Rilke an Ilse Erdmann am 9. Oktober 1915 hat geschrieben:Mir will körperlicher Schmerz so durchaus unsinnig erscheinen, dass meine Seele, wo er auftritt, ihm nachgibt, als ob er sie aus dem Raum, den sie sonst einnimmt, einfach verdrängte. Ich kann ihn nicht anders als höchstens eine Intensitäts-Erfahrung hinnehmen, wie wir ja sicher das Intensive längst aus ihm kennen, ehe wir, momentan, in der Freude, in der Entzückung, in verdichteter Arbeit es wieder finden. Ich möchte glauben, dass ganz kleine Kinder in ungeheuren Intensitäten von Genuss, Schmerz und Schlaf sich durchmachen, später gibt es Zeiten, wo ein körperliches Wehtun gleichsam das einzige Beispiel des Intensiven an uns bleibt, so zerstreuend geht das Leben mit uns um. – Im Sterben dagegen muss leiblicher Schmerz oft eine böse Beirrung sein, da er gewiss das Hiesigste ist, ungültig sozusagen dem Allgemeinen gegenüber, in das der Sterbende sich richtet. Die eigensinnige örtliche Betonung des Schmerzes, die zur Einseitigkeit zwingt, widerspricht wahrscheinlich der Neigung des Sterbenden, ein schon weltisches Teilnehmen zu versuchen…
und dann:
Rainer Maria Rilke an Gertrud Ouckama Knoop ≈2. Januar 1922 hat geschrieben:…dieses, dass der Schmerz ein Irrtum sei, ein im Körperlichen entspringendes dumpfes Missverständnis, das seinen Keil hineintreibt, seinen steinernen Keil, in die Einheit Himmels und der Erde.
Als Rilke dann, im „inkommensurabeln anonymen Schmerz“ (15. Dezember 1926 an Rudolf Kassner) der zum Tode führenden späten Akutphase im letzten Tagebuch-Eintrag notierte:
Rainer Maria Rilke am 21. Dezember 1926 hat geschrieben:heilloser Schmerz im leiblichen Geweb
da war der Schmerz unermesslich geworden, nicht mehr „sinnlos“, „Irrtum“, „Missverständnis“, sondern „pure Kraft“:
Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé am 13. Dezember 1926 hat geschrieben:Das siehst Du also wars, worauf ich seit drei Jahren durch meine wachsame Natur vorbereitet und vorgewarnt war: nun hat sie’s schwer, schwer durchzukommen …
Und jetzt, Lou, ich weiß nicht wie viel Höllen, du weißt wie ich den Schmerz, den physischen, den wirklich großen in meine Ordnungen untergebracht habe, es sei denn als Ausnahme und schon wieder Rückweg ins Freie. Und nun. Er deckt mich zu. Er löst mich ab. Tag und Nacht!
Der Arzt Dr. Théodore Hæmmerli, der am 9. Dezember, von einem medizinischen Kongress zurückgekommen, Rilkes „unerhörte Qualen“ begleitete, berichtet Jean Rudolf von Salis («Rilkes Schweizer Jahre», 1975, p. 278): „Worte des Trostes lehnte er unbedingt ab, er wollte, dass man dieses Leiden
wisse“.
R. von Salis schreibt übrigens (
dies zur Ausgangsfrage dieser Diskussion): „Er wünschte nicht, dass man ihm Verschlechterungen mitteile, noch dass man ihm Medikamente oder Betäubungsmittel gebe. (Während der Behandlung wurde darauf geachtet, dass die notwendige Schmerzdämpfung durch narkotische Mittel die Grenzen der Bewusstseinstrübung nicht überschritt.)“
Nun zurück zu dem Ausgangsort in Posting 12190:
Ingrid hat geschrieben:Hier scheint sich das Rätsel zu lösen, weshalb Rilke davon ausging, „wir müssen versuchen, das größeste Bewußtsein unseres Daseins zu leisten“, um uns „für die Zeiten künftigen Erblindens/zu füllen mit gefühltem Augenschein.“
Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: wir müssen versuchen, das größeste Bewusstsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt …, hieß es im Hulewicz-Brief.
Sollte Schmerz – nein, nicht die Migräne, die nach Erich Kästner „Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat“ bedeutet, sondern eben der inkommensurable, das Menschenmaß auslotende Schmerz (Laokoon fällt mir ein), die „Passion“ – etwas von dem vorausnehmen können, was die Menschenseele sonst hinübernähme als Unverwandeltes? Klingt eine
SALVATORIS IMITATIO hier an?
»Au début de l’èté« 1925 war Rilke mit dem 25-jährigen Camille-Schneider von Paris ins Elsass gefahren und am Folgetag „nachmittags im Auto nach Colmar und ins Unterlinden-Museum. (…) ›Il m’abandonna un instant pour examiner un par un des volets du retable … En quittant la haute voûte, il se retourna, montra le retable d’un doigt qui évoquait pour moi celui de Saint Jean dans la crucifixion,
et affirma : ‚Dire que Goethe n’est jamais venu découvrir cette grandiose métamorphose des siècles et des hommes’‹«, berichtet Camille-Schneider (Schnack-Chronik, p. 984). [Schon am 17. September 1909 war Rilke im Musée d’Unterlinden an Grünewalds Retable d’Issenheim gewesen.]
Diese »grandiose métamorphose«, diese Bild gewordene Imagination der Verwandlung von Zeitlichem und Menschlichem ins Unsichtbare – die Goethe nicht hat ansehen können, da sie vor den Napoleonischen Schergen in Issenheim ausgelagert war –, könnte die Rilke gestärkt haben, der noch 1903 (Stundenbuch III) dichtete: «Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe…» Sollte Rilke dort mit diesem Bild tief in sich auch das aufgenommen haben, dem er „nie recht ins Gesicht sehen mochte“ (an Kassner, s. o.). Es ist der Schmerz, den die Ergotismus-Erkrankten,
für die das Altarbild eine heilende Imagination darstellen sollte, so gut kannten. Der Schmerz auch, der dem Leben gegenüber ein „Mehr“ darstellt, nicht eine bloße Beschränkung. Den Schmerz, sei es der leibliche, sei es der, den wir fühlen, wenn „etwas uns fortgenommen wird“ (s.
Posting #12180), der allerdings auch immer eine Versuchung darstellt, den Himmel zu beklagen und sich dem Stofflichen (dem Medikament) zu verschreiben.
Hier das ganze Bild:
Klaus Dörner hat in seinem Buch: »Der Gute Arzt«, das ich mehr als empfehlen, das ich
PREISEN möchte, folgendes geschrieben:
- "Je weniger er [der Mensch] sich der Gefahr
ausliefert, desto mehr glaubt der
Mensch von heute sich von ihr bedroht.
Die Angst vor Krankheit hat mit der
Zeit zu einem Aufschwung der Wissen-
schaft geführt, der Fortschritt in der
Medizin erzeugt geradezu eine irratio-
nale Angst vor jeder Art von Krankheit,
bis wir anfangen, ,unter unserer Ge-
sundheit zu leiden'" {Zygmunt Bauman}. In der Medizin
wächst "die imaginäre Gefahr, während
wir die echten Gefahren immer mehr in
den Griff bekommen. Jenseits einer ge-
wissen Schwelle wandeln sich die In-
strumente unserer Befreiung in Hilfs-
mittel unserer Erniedrigung. Und wir
erleben das Ende der großen Befrei-
ungsrevolte ...: Die Forderung nach
Autonomie verkommt zu einer heftigen
Suche nach Hilfe. ...Wer Herr seiner
selbst und der Welt sein wollte, wird
Sklave seiner eigenen Ängste, hat keine
andere Kraftquelle mehr als den Hilferuf
und lebt nur noch, indem er sich auf die
verschiedensten Arten von Krücken
"stützt." Dies bestätigt die Diagnose Bau-
mans, daß der Versuch der Menschen,
sämtliche Ambivalenzen, Andersheiten,
Fremdheiten restlos aufzulösen, wegzu-
rationalisieren, nicht nur erfolglos ist,
sondern die Zahl der Ambivalenzen
eher vermehrt; denn: 'Leid um jeden Preis
vermeiden zu wollen bedeutet, es
schlimmer zu machen, zwingt einen je-
den auf ein Übel zu starren, das, je mehr
man es fürchtet, immer größer wird.'"
Und in einem Aufsatz: «Über die allmähliche Umwandlung aller Gesunden in Kranke» hat Dörner es noch radikaler zusammengefasst:
- „Mit zunehmender Wirksamkeit schmerztherapeutischer Verfahren wird die Zahl der Schmerzkranken nicht etwa kleiner, sondern größer,
a) weil gerade die Therapieerfolge die Erwartung und den Rechtsanspruch auf
Herstellbarkeit von Schmerzfreiheit bzw. Leidensfreiheit auslösen, weshalb
b) Schmerzen schon bei immer geringerer Intensität als unerträglich erlebt werden und
nicht mehr als gesund, normale Befindlichkeitsstörung, schicksalhaft; damit wird
c) immer mehr von der normalen Sinnestätigkeit der Schmerzempfindung nicht mehr als
positiv wichtiges Signal für Gefahren oder auch nur Widerstände im Rahmen einer
gesunden und damit vitalen Lebensführung gewertet, sondern nach der ideologischen
"Ethik des Heilens", als krankhaftes und damit von anderen chemisch oder psychisch
Wegzumachendes aus dem eigenen Kompetenzbereich ausgegrenzt. Während
d) bisher stets der eigene Umgang mit Störung, Schmerz oder Leiden die Quelle jeglicher
kreativer Leistung war, droht jetzt die Verwechslung der nur noch selbstbezogenen,
unendlich steigerungsfähigen Gesundheit mit der unendlich steigerungsfähigen
Schmerz- und Leidensfreiheit. All dies wird
e) auch noch in dem Maße gesteigert, wie die Diagnostik und Therapie des Schmerzes ei-
genständig institutionalisiert wird und damit Eigeninteresse gewinnt.“
Und dort im Weiteren:
„Die Verteidigung oder Hinausschiebung der Grenzen meiner
- Verfügbarkeit und damit meiner Freiheit gegenüber helfend-entlastenden Zugriffen
betrifft aber auch einen basalen Grundbestand meiner Schmerzen und Leiden (als Vor-
aussetzung meiner personalen Reifung) sowie meiner Angst und anderer Gemeinsinne
als Voraussetzung meiner Empfangsbereitschaft für den Anspruch des Anderen auf und
seinen Einbruch in mich. Überhaupt habe ich mir mein Recht auf Krisen, Grenzsituati-
onen und andere Lasten wie Behinderung, Krankheit, Altern, Sterben und Tod als zu
mir zugehörig zu sichern, wenn ich mein Leben wirklich erfahren und Widrigkeiten
biographisch nutzen will.“
Dörner ist in seiner Ethik stark von Emmanuel Levinas beeinflusst.
Ist nicht Rilke Vorläufer solcher Gedanken, durch sein Wort und Werk und durch sein Leben und Sterben?
Christoph