Also, liebe
gliwi, genau dieser hier von
stilz zitierte Satz geht halt leider grob an dem vorbei, was ich meinte.
Habe nicht gerade auch ich in diesem Forum Rilkes spürbares «
Ringen um Begriffe, die ganz genau das sagen, was er ausdrücken wollte», in vielen Beispielen aufgezeigt? Da empfinde ich ihn als Meister - und als erfolgreich ringend. Nur, beim genauen Hinsehen,
Marie spricht ja ganz differenziert davon, hat doch da irgendetwas gefehlt; ich nenne dieses „Irgendetwas“, um anzudeuten, wie wenig es ist, ein Quäntchen, weil es das Wort ‚Qualchen’ nicht gibt, eine qualité presque négligeable, von der uns die Chaosforschung heute sagt, sie könne die entscheidend intermittierende sein.
Ich sehe in Rilke einen Menschen, der das sorgfältige und in jedem Wort authentisch verantwortete Denken kultiviert hat wie kaum ein weiterer, so mein Eindruck - und der doch dem uns gewohnten Denken in einer gewissen hier von Dir, @
Paul A., „existentiell“ genannten Schicht nicht jenes Etwas, jenes Quäntchen hinzufügt, für das man wiederum neue Worte prägen müsste, weil alle bestehenden Begriffe (wie z. B. „lebendiges“ Denken) längst verbraucht oder verhöhnt oder jedenfalls missdeutig geworden sind.
Aber doch, auch Du @
Marie sprichst davon, RMR habe es ein bisschen daran fehlen lassen, „
lebendiger Teil der spirituellen Welt zu sein“, und genau das: auf lebendige Weise zur spirituellen Welt beizutragen, das würde ja nicht gehen mit „totem“ Denken, mit ver-ständigem im Sinne von Ratio und nicht verstehendem im Sinne von έρμηνεύειν.
Nun erweist Rilke, dass er kaum steigerbar „lebendig denken“ KONNTE! Wer von uns kann „
Weltinnenraum“ - als einen durch uns durchgehenden
einen Raum -
denken?
Aber dieses konnte er; wie sonst hätte er das so konkretisieren können, wie es dem bloßen Fühlen fremd bliebe? Ein Beispiel: wie die Rose „
die Welt da draußen | und Wind und Regen und Geduld des Frühlings | und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal | und Dunkelheit der abendlichen Erde | bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug, | bis auf den vagen Einfluß ferner Sterne“ - „
in eine Handvoll Innres“ verwandelt. Was eine ökologische Botanik in kosmische und wesensimmanente Faktoren auseinandergliedern müsste, um es einem toten Denken handhabbar zu machen, denkt er hier in Eins, ohne das in der Erscheinung ja Gegliederte zu nivellieren.
Wo also liegt, bei aller Rilkeschen überfließenden Fülle, der
Mangel, der Dir @
Marie erneut auffällt, wenn Du schreibst:
Marie hat geschrieben:Ohne einen heimgekehrten Geist keine spirituelle Einheit.
Rilke blickt in die Naturerscheinungen, auf die ihren Wert in sich habenden Dinge, und er blickt in die Menschenseele mit ihrem vor Bildern von Leben und Tod ausdramatisierten Streben nach Erkenntnis und Liebe, und beide Blickrichtungen verfolgt er mit so lebendigem Interesse, dass er bemerkt, wie die beiden so erblickten Horizonte in eine gemeinsame Unendlichkeit weisen, was seinem Denken ein Beweis ist für das individuable Einssein.
Ich wiederhole mich. Wofür bleibt Rilke, der so tief fühlende, so licht denkende, so diszipliniert arbeitende Dichter, blind?
Ich komme noch einmal auf das Epiphanie-Geschehen. Da fasst Rilke von zwei Seiten her das seidenzarte Tuch, das das (mit dem luciferischen Geschenk des bloßen Verstandes-Denkens nicht erfassbare) Zentralmysterium der Menschheitsgeschichte verschleiert, gewissermaßen in Händen und ruft der Maria zu:
- Siehst du, diese Könige sind groß,
und sie schleppen dir vor deinen Schooß
Schätze, die sie für die größten halten,
und du staunst vielleicht bei dieser Gift -:
aber schau in deines Tuches Falten,
wie ER jetzt schon alles übertrifft.
Er bemerkt das, aber er sucht dieses Übertreffen in der
vatergöttlichen Sphäre des „Schoßes“, im EX DEO NASCIMUR zu begreifen. Das ist die eine Seite, in der kennt er sich aus, besser als alle: Jedes „Ding“ dieser schöpfergöttlichen Welt, jede „Kreatur“, „sieht“ er ja „anders“, blickt in ihr Wesentliches. - Die andere Seite ist die dessen, was das trinitarische abendländische Gottesbild den „
Heiligen Geist“ nennt. Auch von dieser Seite her versucht Rilke dem gerecht zu werden, „
was jetzt die Nacht erhellt“. Seine Briefe sind voll von Erweisen einer tiefen Verbundenheit mit diesem das innere Leben erneuernden Gottes-Geist, den er zu Recht nicht unnötig mit Namen belegt.
Der glühend verehrten
vatergöttlichen Welt tritt er mit der Haltung des staunend liebenden Kindes entgegen und steigert diese hin zu einem lebendigen Denken, das sogar die Umwandlung von „
Und Gott schuf den Menschen“ zu „
Wir bauen an Dir | mit zitternden Händen“ vollziehen kann: den Beitrag des Menschen zur Entwicklung eines Gottes!
- Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug: wenn ich zerscherbe?
...
Bin dein Gewand und dein Gewerbe;
mit mir verlierst du deinen Sinn
...
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.
Zum
Heiligen Geist erhebt er sich mit einer Geste ernster Geistesgegenwart, die in dem nicht alt Gewordenen schon früh aus Be-geisterung eine Art von Weisheit erweckte, wie sie sonst im Greisenalter erst reift.
Von diesen beiden Seiten her nähert er sich den Geheimnissen von Werden, Entwicklung und Tod.
Aber
das, was den Tod überwand, der Gottessohn, bleibt ihm verborgen.
Da weiß er nur in Aussicht zu stellen: „
Er erfreut“. Nicht: „Er erlöst“.
Könnte in diesem Gedankengang eine Spur liegen zu dem vermissten „Quäntchen“?
fragt
Christoph