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Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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nadine
Beiträge: 1
Registriert: 30. Aug 2005, 19:30

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Beitrag von nadine »

kann mir jemand die Bedeutung dieses Gedichtes erörtern?:

Rose o reiner Widerspruch, Lust,
niemandes Schlaf zu sein unter so vielen Lidern.

Rilkes Grabstein

Bin für jede Antwort dankbar.
Nadine
helle
Beiträge: 343
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Beitrag von helle »

Berechtigte Frage. Ich kenne diesen Spruch schon so lange, und kann Dir trotzdem keine befriedigende Antwort geben. Übrigens muß es wohl heißen: "oh reiner WIderspruch" und "unter soviel Lidern".
Mir ist der zweite Abschnitt zugänglicher und ich würde ihn, etwas platt, so übersetzen: so viele Tote ruhen hier, und eigentlich möchte ich keiner von ihnen sein. Nach einer aus der Antike überlieferten Auffassung werden Tod und Schlaf als Geschwister, gelegentlich sogar als Zwillinge vorgestellt, und daß Rilke von "Lidern" und von "Schlaf" spricht, zeigt für mich, wie wenig er die geläufige Vorstellung des Todes akzeptiert und wie sehr er die Vorstellung eines eigenen Todes dagegenhält (das ist auch im "Malte" so).
Mir fällt aber schwer, den Zusammenhang mit dem Beginn des Grabspruchs zu finden. Er verbindet etwas Abstraktes, den Widerspruch, und etwas Konkretes, die Rose. Vielleicht steht dahinter, daß dieser WIderspruch in der Rose selbst auftritt, die einerseits ganz Natur ist und andererseits etwas höchst Kunstvolles. Ich glaube zwar, es gibt eine Verschränkung zwischen beiden Teilen des Grabspruchs, aber benennen könnte ich sie nicht.

Gruß H.
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Hallo,

es gab in diesem Forum schon früher Diskussionen über Rilkes Grabspruch...
Diesmal möchte ich mich auch beteiligen:

Am liebsten nehme ich den Grabspruch zunächst einmal ganz wortwörtlich, und da sehe ich die vielen "Lider" der Rose, nämlich ihre Blütenblätter, aber sie behüten nicht, wie unsere sonst gewohnten (Augen-)Lider, jemandes Schlaf...
Darin liegt ein gewisser "Widerspruch".

Aber dieses Bild ist noch nicht alles, denn es gibt auch noch die "Lust, niemandes Schlaf zu sein..." -
Und hier bin ich natürlich auf meine persönlichen Assoziationen angewiesen:
Ich denke zB an die biblischen "Lilien auf dem Felde", die sich um nichts sorgen müssen (weiß leider nicht genau, wo das steht), und an den Gegensatz zwischen dem oftmals mühseligen menschlichen Leben und der scheinbar so einfachen und sorglosen Schönheit einer Rose.
Und an die Sehnsucht danach, es auch so einfach zu haben, sich geborgen fühlen zu dürfen, Ruhe, Gelassenheit, Schönheit, Duft zu "erleben" und auszustrahlen...

Wäre das nicht eine Lust, wenn diese Sehnsucht sich schließlich im Tode erfüllen könnte?


Soweit meine sehr persönliche Interpretation, sicherlich auch dadurch "eingefärbt", daß ich gerade erlebe, wie mein Vater mit sehr schwerer Krankheit zu kämpfen hat...

Lieben Gruß

Ingrid
helle
Beiträge: 343
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Beitrag von helle »

Danke für den Hinweis auf die frühere Diskussion, die ich mir erst daraufhin angesehen habe. Etwas erschüttert hat mich ja die Vermutung, Rilke habe diese Verse mit dem Gedanken an eine Wiedergeburt verfaßt, um sich also in einem späteren Dasein an (s)ein früheres zu erinnern, und "reiner" könnte auf "Rainer" verweisen, darauf wäre ich im Leben nicht gekommen, jedenfalls nicht in diesem.

Aber beschäftigt hat mich eine andere Sache, nämlich, daß in einem Beitrag die "Lust" und was von ihr gesagt wird, unmittelbar auf die Rose bezogen wird wie in einer Anrufung – daß also die "Lust, niemandes Schlaf zu sein ..." die Lust der Rose sei, und also ihren widersprüchlichen Charakter oder gar ihr Wesen meine. Ich habe Rilkes Grabspruch dagegen immer so empfunden, daß er von zwei verschiedenen Phänomenen spricht (die ich allerdings nicht sinnvoll aufeinander beziehen konnte), nämlich hier die "Rose", und dort die auf eine Sehnsucht des Autors bezogene "Lust". Also ein Nebeneinander von Rose und Lust eher als ihre Identität, aber da bin ich nun nicht mehr sicher.

Mir scheint, Stilz geht aber ebenfalls von der Einheit von Rose und Lust aus, wenn sie die "Lider" als Blütenblätter versteht, was ich zwar keineswegs "wortwörtlich" sondern vollkommen metaphorisch finde, und ich frage mich, welchen Sinn es ergibt, wenn der Name oder Inbegriff der Rose die Lust sein soll, niemandes Schlaf zu sein. Das sehe ich eigentlich nicht, aber ich bin allein für die Aussicht, es könne so gemeint sein, dankbar, heute Abend jedenfalls, aber vielleicht auch für länger.

H.
Marie
Beiträge: 308
Registriert: 9. Mär 2003, 21:27
Wohnort: rhld.-pfalz

Beitrag von Marie »

Hallo Helle,
der Interpretationsspielraum dieser Verse ist schlicht unermeßlich - das macht sie ja gerade auch so faszinierend.
Aber der Abstecher zum Thema Wiedergeburt müsste dich eigentlich nicht erschüttern, da dieses Thema für Rilke belegtermaßen absolut "salonfähig" war (und schon damals - einschließlich aller Mystizismusableger - wie heute auch wieder, "in" war)
Gruß :D
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Hallo,

ha, Helle, natürlich hast Du recht, und mein Verstehen der "Lider" als Blütenblätter ist metaphorisch, klar! - Es schien für mich nur so sehr klar zu sein, daß mit "soviel Lidern" nur die Blütenblätter gemeint sein können, daß ich diese Metapher gar nicht mehr als meine Interpretation gesehen habe.
Ich war auch einfach noch nie auf die Idee gekommen, die einzelnen "Abschnitte" könnten nicht aufeinander bezogen sein!

Zu dem Gedanken, der Grabspruch könnte eventuell - mit dem Hintergrund des Glaubens an die Wiedergeburt - auch ein Versuch sein, sich selber in einem späteren Leben an sein eigenes früheres zu erinnern... mich erschüttert ein solcher Gedanke nicht, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieviel davon reine (oder auch "raine"?) Spekulation ist. Schließlich ist ein Grabspruch immer auch für die gedacht, die später lebend vorbeikommen und ihn lesen, oder?

Noch etwas anderes:
Hier unter "Biografie" finde ich den Grabspruch mit folgenden Zeilenumbrüchen:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.


Kann mir jemand sagen, ob das von Rilke so gedacht war? - Ich war zwar vor Jahren mal in Raron an seinem Grab, kann mich aber nicht mehr erinnern, wieviele Zeilen es waren.
Wenn es so stimmt, wie es hier steht, dann müßten wir eventuell auch noch von der Möglichkeit ausgehen, daß die "Lust" gar nicht die ist, "niemandes Schlaf zu sein", sondern ganz für sich allein dasteht, oder?
Aber ich muß schon sagen, dann verstehe ich es immer weniger... und möchte am liebsten bei meinen Gedanken aus dem vorigen posting bleiben!

Lieben Gruß

stilz
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