Lieber Christoph,
ich komme noch einmal zurück auf Dein erstes posting:
lilaloufan hat geschrieben:Und das „Tor“ ist ja nicht ein Tor zu einander, sondern eines derer, die sich den Beiden im Verlauf des weiteren Weges öffnen.
Und die Gleichsetzung von Eins und Alles (ἕν τὸ πᾶν) heißt keineswegs: „Wir werden zur Einheit.“ Sondern das Gedicht spricht von dem Gefühl, dass es „am Rande des Hains (ἄλσος?)“ einmal nichts geben werde, was aus der einen großen Einheit herausfiele und neben dieser ein Sonderdasein führte.
Ja. So sehe ich es auch.
Das „Wir“ in diesem Gedicht aus der frühen (und damals auf Wunsch von Lou nicht veröffentlichten) Sammlung „Dir zur Feier“ ist gleich zu Beginn da. Es gibt hier keine langsame Annäherung – denn sie scheint nicht nötig zu sein. Die beiden, die da »einsam beisammen« stehen, scheinen einander seit Urzeiten vertraut zu sein.
Und sie sehen einander offenbar tatsächlich »in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel« (wie Rilke es einige Jahre später im Brief an Emanuel Bodman ausdrücken wird).
Es gibt nichts (und niemanden), das von diesem Einheitsgefühl ausgeklammert wäre, und wogegen sie ihr Herz - bewußt oder auch unbewußt, im Wohlgefühl ihrer Umarmung - verhärten würden.
Und so geht das Tor nicht
zu, an das sie einander geführt haben, fast ohne es zu wissen, sondern es geht
auf... und die beiden sind „eins“, nicht bloß miteinander, sondern mit
allem, zum Beispiel auch mit dem Oleander, in dessen Sich-Wiegen sie ganz selbstverständlich einbezogen sind...
Da ist kein „Entflammtsein“, das dem im Wege stehen würde. Und es scheint die Gefahr nicht zu geben, von der Rilke Jahrzehnte später in der achten Elegie sprechen wird:
- Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern... Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Wegen des ähnlich lautenden Titels denke ich auch an eine frühe Novelle Rilkes: „Alle in einer“ – Harald hat sie einmal
hereingestellt... ich habe sie eben noch einmal gelesen; sie scheint auf den ersten Blick nichts mit dem Thema dieses Gedichtes zu tun zu haben. Und doch...
Mich berührt vor allem die zweite Zeile dieses Gedichtes:
- stehn wir einsam beisammen
Und ich denke an vieles, was Rilke über das „Einsamsein“ gesagt hat:
Im „Stunden-Buch“ ist
„Einsamsein“ die Voraussetzung für das Empfangen von „Offenbarung“:
- Denn nur dem Einsamen wird offenbart
und vielen Einsamen der gleichen Art
wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Und im schon erwähnten
Brief an Emanuel Bodman vom 17. August 1901 heißt es:
- Es handelt sich in der Ehe für mein Gefühl nicht darum, durch Niederreißung und Umstürzung aller Grenzen eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, vielmehr ist die gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.
Es ist eine große Aufgabe, zum Wächter der Einsamkeit eines anderen Menschen bestellt zu sein.
Damit kann meiner Ansicht nach weder eine bedingungslos allem zustimmende „Verehrung“ gemeint sein noch auch ein übergriffiges „Belehren“, wenn man „Fehler“ beim anderen zu erkennen meint.
Dennoch kann es sich bei solchem „Wächtersein“ auch nicht um bloßen unverbindlichen Respekt vor der Freiheit des jeweils anderen handeln. Dazu reichte bereits
Höflichkeit aus, und es brauchte nicht »dieses größte Vertrauen«, das ein Mensch zu verleihen hat...
An der Einsamkeit eines anderen Menschen Wache zu halten, bedeutet für mich sehr viel mehr.
Es hat zu tun mit dem, was Bettine von Arnim als das „Amt der Engel“ bezeichnete (Du hast das vor längerer Zeit einmal
zitiert).
Dieses Amt wird sowohl liebevoll-zustimmendes „Gewährenlassen“ beinhalten als auch hin und wieder ein not-wendiges „Aufrütteln“ – jedes zu seiner Zeit, ganz so, wie es nicht das eigene Bedürfnis, sondern die „Einsamkeit“ dessen erfordert, zu deren Wächter ein Mensch sich bestimmt sieht.
Das zu unterscheiden, fällt uns nicht immer leicht...
Aber ich empfinde deutlich: der Traum, dem Rilke in diesem frühen Gedicht Ausdruck verleiht, kann sich erst dann erfüllen, wenn es zwei Menschen gelingt, dieser Aufgabe aneinander gerecht zu werden und einander daher den Himmel nicht mehr zu „verstellen“, sondern erst recht sichtbar zu machen.
Herzlichen Gruß,
Ingrid