Liebe Paula, und auch alle anderen im Forum!
Endlich hab ich den "Malte" fertiggelesen, mitsamt den beiden Niederschriften des ursprünglichen Schlusses.
Und ich finde das sehr nett von Rilke (oder vom Herausgeber?), daß er den Hinweis
"Tolstoj" dazuschreibt, denn von selber wäre ich wohl nicht draufgekommen, wer dieser
"große Todesfürchtige" ist, von dem Rilke/Malte sagt, er habe
"das gesegnete Erdreich seiner Natur zerstört".
Ich bin überhaupt keine Literaturexpertin, aber ich habe auf
http://www.bautz.deeinen Artikel von Martin Tamcke gefunden, und deshalb weiß ich jetzt viel mehr über Tolstoi als zuvor:
Lebensdaten: 1828 - 1910, seine Mutter stirbt 1830, ab da ist seine Tante Tatjana (sie stirbt 1874) seine Vertraute. Nach dem Tod seines Vormunds 1841 übersiedelt er auch zu ihr.- Das muß also die
"große Liebende" Tatjana Alexandrowna sein...
Er ist natürlich Schriftsteller, "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" machen ihn weltberühmt...
Es folgt soziales Engagement... und dann gibt es eine tiefe Krise, 1879 erscheint, zunächst handschriftlich, seine "Beichte", und ab jetzt setzt er sich vor allem mit religiösen Themen auseinander, es gibt viel qualvoll-Kritisches... bekannt geworden ist zB die "Kreutzersonate" (die ich natürlich auch noch nicht gelesen habe...)
Schließlich reagiert die Kirche, indem sie ihn exkommuniziert, und der Staat, indem er ihn unter geheime Polizeiaufsicht stellt.
1899 trifft Rilke auf der ersten Rußlandreise mit Tolstoi zusammen.
1901 lehnt Tolstoi den Nobelpreis ab.
Liebe Paula, ich denke, mit diesen Informationen sind die beiden "ursprünglichen Schlüsse" gut zu verstehen!
Rilke war offenbar der Auffassung, Tolstoi hätte sich mit seinen früheren großen Werken ( die
"das Schicksal Eingebildeter und Erfundener" beschrieben)
"seinem einzig möglichen Gott" viel mehr genähert als später, da er - voll von Todesfurcht und durchdrungen von dem Gefühl, es vor seinem Tod noch "richtig" machen zu müssen -
"sich bangsam zu dem fertigen Gott entschloß, der gleich zu haben war, zu dem verabredeten Gott derer, die keinen machen können und doch einen brauchen".
Wer nun "recht" hatte, Rilke oder Tolstoi... das kann ich natürlich nicht beurteilen, dazu bedarf es wahrscheinlich doch einiger Theologen.
Martin Tamcke schreibt übrigens am Schluß seines Artikels:
Unstrittig ist, daß Tolstoi als Laientheologe und Religionsphilosoph eine Herausforderung darstellt, die gegenwärtig immer noch nicht eingeholt oder gar theologisch umfassend gewürdigt worden ist.
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Und noch zu dem Thema
"Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht":
Dieser "Er", der jetzt so schwer zu lieben ist, ist weder Rilke noch Malte, sondern der "Verlorene Sohn", der zurückgekehrt ist.
Rilke interpretiert dieses biblische Gleichnis offenbar so, daß dieser "Verlorene" deshalb fortgeht, weil er es nicht erträgt, geliebt zu sein, mit dieser menschlichen Liebe, die festhält und nicht imstande ist, den Geliebten loszulassen.
Der Fortgegangene lernt langsam, wie man lieben kann und dem/der Geliebten dennoch die Freiheit lassen,
"den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren".
Und schließlich sehnt er sich danach, auch selbst in dieser Weise geliebt zu werden, und er spürt, daß nur Gott dazu imstande ist, und macht sich also auf das, was er für seinen Weg zu Gott hält...
Und dieses
"Der aber wollte noch nicht" am Ende der Aufzeichnungen bedeutet wohl entweder, daß dieser "Weg zu Gott" des Verlorenen Sohnes noch nicht zu Ende ist, oder sogar, daß es gar nicht möglich ist, diesen Weg "zu Ende" zu gehen und dann dadurch die Erfüllung zu finden, weil ebendiese "Erfüllung" gerade darin liegt, auf dem Weg zu sein, und nicht im Ankommen am "Ziel"...
So verstehe
ich es zumindest, und es scheint mir sehr viele Parallelen zu geben zwischen Rilkes "Verlorenem Sohn" und seinem "Tolstoi" --- und wohl auch zu Rilke selbst und seiner Kunst, in der es auch viel mehr um den oft qualvollen "Weg" zu gehen scheint als um ein "seliges Ankommen".
Mich würde sehr interessieren, welche anderen Auffassungen zu diesen Stellen des "Malte" es hier im Forum gibt!
Liebe Grüße
Ingrid
P.S.: Ich wäre froh, wenn Rilke an vielen anderen Stellen ebenso genau angemerkt hätte, von wem er eigentlich redet... ich komme mir schrecklich ungebildet vor, wenn ich seitenweise keine Ahnung habe, um welche konkreten Menschen und Situationen es eigentlich geht! - Trotzdem meine ich oft, das "Thema" irgendwie zu begreifen.