Hallo!
Ich finde dieses Thema ganz interessant. Als ich darüber nachgedacht habe, schien mir die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit noch verschwommener als früher.
Hier sind einige Gedanken zu deiner Frage:
Wissenschaft projiziert neue Sprachstrukturen in die Welt : Ich will jetzt nicht Werbung machen, aber man muss nur an Reinigungsmittel denken, die unser Heim "hgyenisch" sauber machen, oder an "Fruchtzwerge" die -- ach irgend etwas ganz Wissenschaftliches mit Wachstum (und das sagt ein 10-jähriger!). Oder "Wärme ist, wenn die kleinen Teilchen schneller um den Kern zu rotieren beginnen." -- aus einer Werbung für Heizanlagen. Undenkbar vor der Endeckung der physkalischen Energiegesetze.Vor 150 Jahren konnte der alltägliche Mensch nichts mit "hgyenisch", "antibakteriell", "Klimaanlage", "ökologisch vorteilhaft", "Zukunftsmodell", "Testsieger" usw. anfangen.
Dass die Literatur neue Weltstrukturen in die Sprache projiziert lässt sich auch sehen.
Man denkt sofort an Metaphern, die erst durch die Literatur geläufig geworden sind: ursprünglich sind nicht einmal "Haut, weiss wie Schnee", "rabenschwarzes Haar", "smaragdene" Augen akzeptabel -- weil es eben ein Monster sein muss, was solche Eigenschaften im ganz wörtlichen Sinne besitzt. Aber Literatur schafft eine Distanzierung von der Wirklichkeit und erlaubt Denkausflüge, die dann zuerst in der Literatur gelaüfig werden, und später können sie sich im alltäglichen Leben einbürgern.
Neue Weltstrukturen: wir sagen, dass eine ganz besondere Freundschaft eine "Wahlverwandschaft" ist; wir sagen "es ist ein (zu) weites Feld" wenn etwas ganz schwer zu erklären, überwinden usw. ist; wenn wir den Realitätsstatus von etwas beurteilen, dann ist "Dichtung" das Eine und "Wahrheit" das Andere ...
In der Literatur finden sich Verwörtlichungen von Phänomenen, die den menschlichen Geist -- eine Gesellschaft -- beschäftigen; d.h. dass diese Phänomene in der Literatur ihre Strukturierung, Modellierung finden, und wenn sie (gesellschaftlich, psychologisch) relevant genung sind, finden sie den Weg aus der Literatur in die Welt. Sobald sie aber in der Welt sind, formieren sie (mehr oder weniger) das Denken der folgenden Generationen: das Modell der Wahlverwandschaft, z.B., ist schon hier, ich kenne es. Und wenn ich eine ganz besondere Freundschaft mit jemandem habe, kann ich darüber im Sinne einer "Wahlverwanschaft" denken, oder etwa im Sinne von "Schwester / Bruder im Gott". Dabei brauche ich Goethes Werk oder die Bibel überhaupt nicht kennen, weil die Modelle, die sie bieten, schon in der Sprache sind.
Und nun zur Rilke: das sehr bekannte Modell für die Einsamkeit, geistliche Verstummung, Traurigkeit eines Lebewesens ist der Panther. Viele Menschen rund um die Welt werden wissen, was du meinst, wenn du sagst, dass es dir wie (Rilkes) Panther geht. Muttersprachler werden sicher genauer wissen, welche andere Termini aus Rilkes Werk in die deutsche Sprache aufgenommen worden sind -- und wenn in die Sprache, dann auch in die Weltstrukturen.
Zu deiner Frage "Wie kann man diesen Satz in der modernen Literatur interpretieren?": Für die moderne Zeit ist es bezeichnend, dass es eine grosse Zahl von Texten gibt -- und somit (potenziell) eine ungeheuere Menge Modelle und Weltstrukturen. Nur wenige können sich in die allgemeine Sprache einbürgern, die meisten bleiben spezifisch für bestimmte soziale Gruppen. Wenn man "Rose" sagt, wird dass bei den Lesern dieses Forums einen ganz anderen Effekt haben als wenn man das wo anders sagt.
Ein anderes Problem ist auch, dass es heute keine für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindliche Lesart gibt. (Zumindest wird das so gesagt, obwohl es doch eine starke Neigung zur Vereinheitlichung gibt. In der Schule lernt man doch, dass "der Panther ein Symbol für die Einsamkeit des Menschen" ist ...) Es wird also eine Vielfalt von Verstehensweisen vorausgesetzt, und das ist gegenproduktiv für die Bildung von Weltmodellen, die in die Sprache aufgenommen werden könnten. (Da ein Phänomen oder ein Wort eine hohe Frequenz aufweisen muss, um in die (allgemeine und nach der Zahl der tatsächlich gebrauchten Einheiten relativ begrenzte) Sprache aufgenommen zu werden.)
Eine andere charakteristische moderne Erscheinung (die möglicherweise mit den vorigen zwei in Verbindung steht -- Überangebot von Weltstrukturen und nicht verbindliche Lesarten) ist das Zitieren. Zitieren erlaubt hinwerfende Mischungen von Weltmodellen: auf einer Seite kann man buddhistische, einsteinsche und Jeans-Werbung-Weltmodelle identifizieren. Die neue Weltstruktur, die die Literatur hier bringt, ist ein Spiegelbild unserer Zeit: eine Mischung, in der man Sinn findet, wenn man ihn gerade finden will, "muss aber auch nicht so sein".
Aber die Literatur selbst bietet auch verschiedene Weltstrukturen / Weltmodelle als Ganzes: Ich kann von Kindheit denken (dass ein Text vieldeutig ist, sei hier im Auge zu behalten): wie in Rilkes "Kindheit" aus dem Buch der Bilder ("Da rinnt der Schule lange Zeit ...") oder wie in "Kindheit" aus den neuen Gedichten ("Es wäre gut viel nachzudenken ..."): das erste Gedicht (und damit Weltsicht) scheint mir viel trauriger und aussichtsloser zu sein als das zweite.
Eine unglückliche Liebe kann so wie in Goethes "Werther" modelliert sein -- betörend, tragisch und vernichtend; oder kritisch und ironisch wie in Thomas Manns "Der Bajazzo": "Man geht an keiner unglücklichen Liebe zugrunde. Eine unglückliche Liebe ist eine Attitüde, die nicht übel ist. In einer unglücklichen Liebe gefällt man sich. Ich aber gehe daran zugrunde, dass es mit allem Gefallen an mir selbst so ohne Hoffnung zu Ende ist!"
Dazu lässt sich noch viel sagen.
Gruss,
Nejka