Ding-Gedichte

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Jabberwocky
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Beitrag von Jabberwocky »

Hallo erstmal, dies ist mein erster Beitrag hier

Ich arbeite gerade an einem Vorstag über Rilke und mir ist bei meinen Gedanken über den Charakter des Dinggedichts immer wieder ein Gedanke in den Kopf gekommen: das Stoff-Form Prinzip Schillers und sein sinnlicher, Form- und Spieltrieb. (Hauptsächlich beim Überdenken folgenden Zitats: "Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein ; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit." )
Vielleicht geht es einfach darum das bloße sinnlich wahnehmbare (im gegnsatz zum intellegibel wahrnehmbaren), den bloßen Stoff auf die höhere Ebene der Form anzuheben. Der reine Stoff ist den Wechselfällen des Schicksals unterworfen: regnet es, wird er nass; fällt er hinunter, zerbricht er (beispielsweise). Als das Ding an sich, als sinnlicher Trieb der eine Sythese mit dem Formtrieb eingegangen ist, ist der überdauernde, der unabhängige, allgemeine Teil des "Dings" hervorgehoben und das ist es glaube ich was Rilke interessiert. Die ewige Melodie des Dings an sich.
Zuletzt geändert von Jabberwocky am 3. Jan 2007, 19:11, insgesamt 1-mal geändert.
Andrea
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Beitrag von Andrea »

Hallo,

hier nur in Eile eingworfen (sitze auf der Arbeit): vom 'Ding an Sich' zu reden bedeutet auch, dass es dazu im Gegensatz ein Ding als Erscheinung geben muss. Dass Rilke diese (Kantische) Unterscheidung geteilt hat, bezweifle ich stark.

Aber von einer 'Erhöhung' des Dinges von seiner bloßen Materialität hin zu seiner Form scheint mir durchaus eine gute Formulierung in die richtige Richtung zu sein. Allerdings unter vorbehalt, dass Rilke - ähnlich oder sogar gleich Rudolf Kassner - nicht so zwischen Stoff und Form unterscheidet, wie unser postaufklärerischer Wissenschaftsbetrieb, die Feuilletons und das Bürgertum, sondern es ihm (besser: ihnen) eher um Gestalt geht, was sozusagen Materie und Form gleichzeitig sieht, ausdrückt und sozusagen denkt.

Soviel vorerst von

Andrea
Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.
Jabberwocky
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Beitrag von Jabberwocky »

Andrea hat geschrieben:sondern es ihm (besser: ihnen) eher um Gestalt geht, was sozusagen Materie und Form gleichzeitig sieht, ausdrückt und sozusagen denkt.

Aus diesem Grund erwähnte ich Schiller zum Vergleich und nicht Kant. Die Inkompatibilität die Kant zwischen Stoff und Form, Sinnlichkeit und Sittlichkeit usw. sieht ist bei Schiller aufgehoben und so einem Empfinden nach auch bei Rilke. Ein wunderschönes und kräftiges Beispiel hierfür wäre die bildende Kunst, eine Plastik beispielsweise. Ein unbehauener Klotz, als Marmorstein lediglich ein sinnlich wahrnehmbares Ding wird bearbeitet von künstlerischen Händen. Hierbei wird seine eigentlich Essenz, das was ihn abgesehen von seiner äußeren Erscheinung wirklich und zutiefst ausmacht freigelegt und es entsteht das Ding wie Rilke es in seinen Gedeichten versucht klarzumachen. Dadurch macht er es so "bestimmter" aber ohne es einzuschränken. Vielmehr verschafft er ihm eine Freiheit über alle Begebenheiten einer materiellen Daseinsform. So entstand eine Einheit von Form und Materie, eher als eine Differenzierung.
helle
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Beitrag von helle »

Man kann natürlich von einem bestimmten Begriff des Dinges auszugehen, ob von Kant, Schiller, Kassner oder anderen geprägt und ihn auf Rilkes Sicht der Dinge anlegen und Rilkes "Ding"-Vorstellung damit vergleichen oder damit in Beziehung setzen. Das wäre eher deduktiv. Alternative wäre, zu zeigen, wie sich Ding und Dingwelt in Rilkes Werk darstellen, eher deskriptiv also, auch wenn es kritisch ausfiele. Das eine wäre ein allgemeines Interesse, die Wahrheit des Dinges, à la Heidegger, das Ding in seinem Sein usw., das andere wäre eher ein partikulares, literar- oder kulturhistorisches Interesse.

Bei Rilke kann das Ding ja alles mögliche sein, er geht überhaupt nicht terminologisch, geschweige systematisch daran, einen Aufriß "des Dinges" zu liefern, mit dem man irgendetwas anfangen kann, für ihn, glaube ich, existieren die Dinge in ihrer bunten und zusammenhanglosen Vielheit, in der Biographie ebenso wie im Werk. Ich weiß nicht, ob der Begriff des Dinggedichtes dabei nicht auch für einige Verwirrung gesorgt hat, nach ihm hätten in den »Neuen Gedichten« etwa Gegenstände, Kunstwerke (Torso), Blumen, Tiere (!), Menschen (!), Landschaften, auch biblische oder mythologische Vorgänge (!) u.a.m. Dingstatus, lesenswert dazu ist Leppmann, S. 260f.

Wenn Du nicht unbedingt (sorry) vom philosophischen Begriff ausgehen willst, wäre überhaupt sinnvoll, Dich ein bißchen in der Biographie Rilkes umzusehen, welches Verhältnis er zu den Dingen als Gegenständen hat, schon als Kind und Jugendlicher, aber auch später, zu Spielzeug und Puppen, zu Blumen, Stoffen, Kleidern, Häusern, Möbeln, Bildern, Statuetten, Maschinen usf., interessant in manchem dazu das Buch von Lou Albert-Lasard, »Wege mit Rilke«.

Wenn ich viel Zeit und Lust hätte, würde ich Rilkes Verhältnis zu den Dingen, bis hin zum Kult der Dinge in Paris, aus dem Glauben an ihre Belebtheit untersuchen, mir scheint eine Art Animismus vorzuliegen, der den Dingen Leben und Seelentätigkeit unterstellt. Darin sind sicher Reste von Kinderglauben und prälogischen Bewußtsein, so wie für Kinder Dinge lebendig sind, oder wie man Steine oder Bäume als Träger von Bewußtsein oder Tiere als Formen der wiedergeborenen Seele ansehen kann, so sieht Rilke Lebendigkeiten jenseits des common sense, je mehr man ihn liest, desto mehr Beispiele dafür findet man. Das ist auch sicher nicht nur infantiles Zeug, sondern vielleicht ist er uns in diesem Auffassen einfach voraus, auch wenn er hier und dort mal etwas schwafelt. Natürlich ist dieser animistische Aspekt nur einer unter anderen, und vielleicht mir persönlich auch nur näher als ein terminologischer.

Viel Erfolg jedenfalls,
helle
stilz
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Beitrag von stilz »

helle hat geschrieben: Wenn ich viel Zeit und Lust hätte, würde ich Rilkes Verhältnis zu den Dingen, bis hin zum Kult der Dinge in Paris, aus dem Glauben an ihre Belebtheit untersuchen, mir scheint eine Art Animismus vorzuliegen, der den Dingen Leben und Seelentätigkeit unterstellt.
Nun - so systematisch kann ich es auch nicht angehen (Lust schon, aber Zeit... :wink: )

Aber wir können ja immer wieder mal Fundstücke dazu zusammentragen, diesmal aus den "Geschichten vom lieben Gott" (Ein Verein, aus einem dringenden Bedürfnis heraus :lol: ):

Ein Zaun, ein Haus, ein Brunnen – alle diese Dinge sind ja meistens menschlichen Ursprungs. Aber wenn sie eine Zeit lang in der Landschaft stehen, so daß sie gewisse Eigenschaften von den Bäumen und Büschen und von ihrer anderen Umgebung angenommen haben, so gehen sie gleichsam in den Besitz Gottes über und damit auch in das Eigentum des Malers. Denn Gott und der Künstler haben dasselbe Vermögen und dieselbe Armut, je nachdem...

Lieben Gruß!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
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Beitrag von helle »

Ich nehme ein kleines, vielleicht etwas unscheinbares Beispiel, das ich aber gerade zur Hand habe und deutlich genug finde. "Ach, freuen Sie sich doch manchmal", schreibt Rilke an Herrn von Salis-Seewis im Sept. 1920 in einer Schilderung von dessen Anwesen, in das er gern einmal, möglichst im nächsten Frühjahr, eingeladen werden möchte, "freuen Sie sich doch manchmal, daß diese Stiegengeländer unten korbig ausgebogen sind, vielleicht für die breiten paniers der Damen, vielleicht auch nur, um in all dem Gerank der Rosenbüsche nicht steif und unteilnehmend dazustehen." Das ist natürlich etwas augenzwinkernd, als hätte sich das Geländer diese Form selbst ausgesucht und nicht vom Architekten verliehen bekommen. Für die Selbständigkeit oder Selbsttätigkeit, die Rilke den Dingen zuspricht, ist die kleine Wahrnehmungsverschiebung aber charakteristisch und absichtlich, man könnte sagen, die Wirkung wird von ihrer Ursache getrennt und bildet nun ein Eigenleben aus.

Grüße
h.
binibein
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Beitrag von binibein »

Hallo Ihr Rilke-Freaks alle miteinand,

Jabberwocky schrieb:

(Hauptsächlich beim Überdenken folgenden Zitats: "Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein ; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit." )

Ich übersetze gerade einen Text über ikebana, in dem dieses Zitat vorkommt - ich mache die Übersetzung aus dem Englischen, der englische Text wurde aus dem Japanischen übersetzt - was dabei von dem Zitat übrigblieb, ist ein Graus. :shock: Bin daher sehr froh, das Orginal-Zitat auf diesem WEge gefunden zu haben - noch glücklicher wäre ich allerdings, wenn mir jemand auch noch den nächsten SAtz dieses Zitats sagen könnte????? Ihr wisst doch bestimmt, wo das steht.... ich bin zwar durchaus Rilke-begeistert, habe aber nicht wirklich Ahnung....

Danke im Voraus!! :)
binibein
stilz
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Beitrag von stilz »

Hallo binibein,

schau mal, unter http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=4764#p4764
gibt Paula eine Antwort auf Deine Frage... und es fällt auch gleich der nächste Satz, um den es Dir ja geht:

Das Modell scheint, das Kunstding ist.

Immerhin ein Satz mehr, und ein sehr bedeutender, wie ich finde. Vielleicht ist Dir damit geholfen?

Lieben Gruß!

stilz
(bisher noch niemals "Rilke-Freak" genannt :lol: :lol: :lol: )
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