Umbruch einer Zeit

Rilkes Roman.

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Gast

Umbruch einer Zeit

Beitrag von Gast »

Hallo,

was meint Ihr: kann man in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" bei den Fragen Maltes in der 14. Aufzeichnung ("... ist es möglich... ?...") auch den Umbruch der Epoche / der Art zu Schreiben erkennen - also den Aufbruch in die moderne Literatur (weg vom Naturalismus...) ? Sozusagen eine neue Art des Schreibens ? Die Welt wird anders wahrgenommen , also muss auch anders geschrieben werden ...?

Freue mich sehr über Kommentare und Meinungen dazu .

Freundliche Grüße von B.
Malvina

Malte und Lou

Beitrag von Malvina »

Hallo,

eine weitere Frage zu diesem Thema: Ich habe irgendwo gelesen, dass es Briefe von Rilke an Lou Andreas-Salome gibt mit seinen Paris Erfahrungen , die dann als Vorlage für Paris Erlebnisse "Maltes" verwendet wurden . Wo finde ich diese Briefe, von wann datieren sie und was meint Lou Andreas-Salome dazu , falls es von ihr eine Antwort gibt ?!

Würde mich sehr über Antworten freuen !

Freundliche Grüße von Malvina :lol:
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Liebe Malvina.

R. M. Rilke schreibt an Lou Andreas-Salome über seine Erlebnisse in Paris zum Beispiel in einem Brief vom 18. Juli 1903 - aus Worpswede bei Bremen. In diesem Brief lassen sich Motive entdecken, die dann später in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" wieder vorkommen.

Lou antwortet auf den Brief vom 18. Juli 1903 folgendes:

Lou Andreas-Salome an Rilke nach Worpswede
Westend bei Berlin, Rüsterallee 36.
22. VII. 1903.

Lieber Rainer,

mitten im Lesen Deines letzten Briefes geschah es mir, daß ich auf Augenblicke ganz Deiner vergaß - so drängte sich mir auf, leibhaftig bis ins Geringste und doch auch wieder dran hinauswachsend bis in`s menschlich Gewaltige, was Du schilderst. Und die eigenthümliche Beseelung kam über mich, die auch von Eindrücken des Elends ausgeht, wenn nicht nur das Leben sie schuf, sondern nach dem Leben auch noch der Schaffende, Umschaffende. Denn darin irrst Du Dich: daß Du alle diese Dinge nur hülflos miterlitten hast, ohne sie im höhern Prozeß zu wiederholen. Sie sind alle da: nicht mehr nur in Dir, jetzt auch in mir, und außerhalb unserer als lebendige und selbstberedte Dinge, - nicht anders als irgend ein Lied das Dir kam.

Den "Mühseligen und Beladenen" bist Du der Dichter. So gern würd ich den Doppeleindruck zu Worten verhelfen, den das Wiedersehn mit Dir mir macht! Einerseits mahnt es mich an die zeitlich entferntesten Eindrücke von Dir, etwa noch an Vor-Wolfratshausensche, und an die ersten Jahre, wo Du noch so viel körperlich littest; sehr gut begreife ich, daß Dir selbst, im Zusammenhang mit Paris, die Erinnerung an die Militairschulzeit sogar gekommen ist: an entlegenste Stimmungen. Andrerseits aber ist mir`s jetzt im Gegentheil, als ständest Du schon, wo Du auch in den besten spätern Zeiten nur zuweilen gestanden hast: ungetheilt bei Dir selbst. Schon daß Dir etwas so andauernd widerstehn konnte, ohne Dich doch schließlich Dir selber zu entwenden, beruht auf erhöhtem Widerstand durch Zusammenfassung. In Zeiten der Kräftigung, des Übergangs, geriethest Du wiederholt in Gefahr, Dich durch täuschendes Kräftebewußtsein, in flacherer Hingebung an die Dinge, in`s Zufällige zu verspielen. Mit der Kraft, die wuchs, entschwand ihr sozusagen ihr tiefster Gegenstand, - anstatt daß sie sich, wie ein Großer zu einem Kinde, herabgebeugt hätte zu den Eindrücken des frühern, hülflosern Erlebens, sie alle hinaufzuführen an`s Licht, - mit ihren schweren Erinnerungen angethan wie mit Genie für alles, was jemals litt.

Einseitig und ungeschickt zwar, äußerte ich im Grunde doch nur diese Empfindung, wenn ich manchmal zu Dir sagte: aus Deiner Militairschulzeit käme Dir noch einst Dein Werk. Nun ist`s Dir gekommen: der Dichter in Dir dichtet aus des Menschen Ängsten. Denke nicht, dies sei irgendwann ebensogut möglich gewesen! Es gehört so viel Muth und Demuth dazu; Du hättest Dich von Leichterm abwenden lassen, und Du hättest das Elend gefälscht gesehn, - oder, um irgend etwas herauszugreifen: von dem Mann in Paris, der mit dem Veitstanz kämpfend herumgeht, hättest Du, bildlich und seelisch gesprochen, in der Gemeinschaft selber was angenommen, und die Dinge veitstänzig betrachtet: h e u t e s c h i l d e r s t D u i h n. Indem Du`s aber thust, öffnet sich das Martyrium seines Zustandes erst in Dir, packt Dich mit der Klarheit der Einsicht, - und, was Dich thatsächlich von ihm unterscheidet, wird gerade zur Gewalt des Miterlebens, die ohne alle mildernden Selbsttäuschungen des Erlebenden ist. Man kann in solchem Sinn von einem: "rechtfertigenden Leiden" des Künstlers sprechen, während alle die andern Leidenden um ihn, denen er zur Auferstehung verhilft, "nicht wissen, was sie thun".

Jenes "Wirklichste", von dem Du neulich schriebst, daß Du Dich dran festklammern möchtest, wenn innere Ängste alles von Dir fort scheuchen und Dich einer fremden Welt preiszugeben scheinen, - dies einzig Wirkliche hast Du ja bereits in Dir, angesetzt wie ein verstecktes Samenkorn und drum Dir noch nicht gegenwärtig. Du hast es darin, daß Du wie ein Stückchen Erde geworden bist, worin alles was da hineinfällt, und sei`s auch das Zerbrochenste, Mißrathene, Widerwärtigkeit und Abfall, sich einheitlich verarbeiten muß zur Nahrung für den Samen, der gesäet ist. Und da schadet es nicht, wenn es zu Beginn aussieht wie ein über die Seele ausgestürzter Kehrichthaufen: es wird alles zu Erde, es wird Du. Nie warst Du der Gesundheit so nah wie jetzt!

Hier ist es sehr still und friedlich: auf einer alten großen Linde im Garten sitzt ein kleines Eichhörnchen, verirrt aus den Wäldern, und darunter sitzt Schimmel, unbeweglich hinaufstarrend, wie hypnotisirt. Ja, schick mir die "Worpsweder" und Rodin!

Lou

Ob es wohl noch weitere Briefe von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salome gibt zu diesem Thema ?!

Liebe Grüße von Barbara :lol:

ps.: der im Brief erwähnte "Schimmel" war übrigens Lous Hund .
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