Hallo Lisa,
am Montagabend kam ich von einer Reise zurück und fand Dein letztes Posting. Ich bin zunächst wirklich erschrocken. Ein «Liebesgedicht»??????? Ich war nur zu müde gleich zu posten, sonst hätte ich gleich abgewehrt. Sogar in der Nacht hat es mir eine Weile keine Ruhe gelassen: Sooo wollte ich doch nicht verstanden worden sein.
Dienstagfrüh hatte ich dann keine Zeit, weil ich gleich in die Konferenz gehen musste, und mein Entsetzen über den Begriff «Liebesgedicht» wich anderen Gedanken. Heute Abend nun kann ich Dir ganz gelassen schreiben.
Wenn wir den Begriff «Liebesgedicht» all jener Trivial-Vorstellungen entkleiden, die wir von schmachtenden Poeten unter Veroneser Balkonen haben mögen, dann mag es „Liebes-Gedichte“ sogar von Rilke geben. «Wie soll ich meine Seele halten» zum Beispiel wäre dann,
aber nur dann, ein «Liebesgedicht».
Liebe im Sinne von Liebe-
Erleben war ohne Zweifel auch ein Lebens-Thema für Rilke - aber in seiner poetischen Aufgabe, in seiner „Großen Arbeit“, wandte er sich der Liebe im Sinne von strömender, verwandelnder Liebe-
Kraft zu. Im
ersten Sinne betont er oft, vor allem in Briefen, dass Liebe-Erleben sich zuletzt nicht von Mann zu Frau, von Frau zu Mann, sondern von Mensch zu Mensch erfüllen werde, und das sinnliche Wohlgefühl, einander im geschlechtlichen Liebe-Erleben hingegeben zu sein, bereitet das genusshaft vor, wer wollt’s missen? Im
zweiten Sinne wiederum, als geistiges Vermögen, ist Liebe etwas Menschheitliches, ein Hingegebensein nicht an das Flüchtige des augenblicklich attraktivsten Favoriten, sondern an seine ewige Individualität, existentiell - und niemals durch Exklusivansprüche bewehrbar noch durch Exklusivitätsschwüre beengbar.
In einem
solchen Sinne durchdringt Liebe (Agape) nicht nur verriegelte Türen, sondern alles, Turbulenz und Stille,
Weinen und
Lachen,
Lebenswege und
Todesmomente. «
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel, und schlägt sie ewiglich.» (
Matthias Claudius)
- Und: In einem solchen Sinne beginnt Liebe beim hingegeben ruhenden Blick auf eine Erscheinung, erlauscht deren Wesen, lebt sich ein in dessen Daseins-Sinn - legt vor allem nie eine Bedeutung hinein in die Erscheinung, sondern liest, „vertraut“ werdend, das "zeitlos Gegenwärtige" heraus. In Rilkes Ideal, als «intransitive Liebe», ist sie ganz Haltung, nimmt kein Objekt, bietet dem Du sich dar. So betrachtend könnte ich ebenso leicht und gültig befinden, Rilke habe keine einzige Zeile von Art der poetologischen Kategorie «Liebesgedicht» geschrieben (sondern allenfalls aus liebewarmer Seele verfasste Gedichte mit der Gebärde des Liebenden etlichen Frauen zugeeignet), wie ich (der Salzstreuer steht griffbereit) behaupten kann, Rilkes Gesamtwerk sei "ein großes «Liebesgedicht»".
{Diesen Absatz hab' ich am Donnerstagmorgen noch ergänzt.}
p_#8438: Hier hat
stilz die Frage nach
Agape behandelt, da kannst Du Dich orientieren.
- (Ich weiß @stilz, die Frage, die Du mir am Ende Deines Postings, auf das ich hier verlinke, stellst, hab’ ich mir noch immer nicht beantwortet…)
Also, Lisa, wir haben’s Dir nicht leicht gemacht eine passable Note zu kriegen, aber ich hoffe, wir haben ein paar Fragen angestoßen, die vielleicht erst dann so richtig zu leben beginnen, wenn die Schulzeit mit all ihren „Leistungs“-Kursen vorüber ist, irgendwann in Deinem eigenen Leben.
Danke jedenfalls dafür, dass Du Dich darauf eingelassen hast, uns auch die ratlosen Versuche anzuvertrauen, die Dir zu Deinen Hausaufgaben eingefallen sind! Die können wertvoller sein als jedes Expertenwissen, sogar dann, wenn sie inhaltlich „ganz daneben“ sind. Denn sie hinterlassen ein Rumoren
. Rumoren nämlich kann sich steigern zum Interesse. Und dieses gehört zum Allerkostbarsten: In ihm lebt - unser Ich.
Herzlichen Gruß!
Christoph