Mondnacht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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rotwinny
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Mondnacht

Beitrag von rotwinny »

Hallo Leute,

ich habe mich vor einigen Tagen mit dem Gedicht "Wir wollen, wenn es wieder Mondnacht wird" von Rilke auseinandergesetzt und würde gerne meine Ansätze hier zu Diskusion stellen. Vielleicht habt ihr ja noch ganz andere Ideen :)

-Der Garten wird als zauberhaft, unerreichbar und beseelt beschrieben.
- Das lyrische Ich möchte dort an den Gittern irgendeine Traurigkeit der Stadt, die im Kontrast zu der Natur im Garten steht, vergessen.
- Das lyrische Ich berichtet dem lyrischen Du von dem Garten.
- Es gibt noch einen Kontrast zwischen Tag und Nacht bzw. zwische Licht und Dunkelheit.
- Der Moment im Mondlicht ist ein kostbarer und zerbrechlicher Moment.
- Die "Traurigkeit zu großer Stadt" hat ev. etwas mit der Industralisierung zu tun
- Allgemein nehme ich an das das Gedicht zum Ende des 19 Jh. und dem Verfall (Fin de Siecle) gehört. Es erinnert an die Dekadenz und der Schönheit im Nidergang.

LG

Rotwinny

Wir wollen, wenn es wieder Mondnacht wird

Wir wollen, wenn es wieder Mondnacht wird,
die Traurigkeit zu großer Stadt vergessen
und hingehn und uns an das Gitter pressen,
das von dem versagten Garten trennt.

Wer kennt ihn jetzt, der ihn am Tage traf:
mit Kindern, lichten Kleidern, Sommerhüten, -
wer kennt ihn so: allein mit seinen Blüten,
die Teiche offen, liegend ohne Schlaf.

Figuren, welche stumm im Dunkel stehn,
scheinen sich leise aufzurichten,
und steinerner und stiller sind die lichten
Gestalten an dem Eingang der Alleen.

Die Wege liegen gleich entwirrten Strähnen
nebeneinander, ruhig, eines Zieles.
Der Mond ist zu den Wiesen unterwegs;
den Blumen fließt der Duft herab wie Tränen.
Über den heimgefallenen Fontänen
stehn noch die kühlen Spuren ihres Spieles
in nächtiger Luft.


Rainer Maria Rilke, Herbst 1902, Paris
*~"Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort."~*


(Eichendorff)
gliwi
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Re: Mondnacht

Beitrag von gliwi »

Hallo, liebe Interpreten,
das Thema des nächtlichen verwunschenen Gartens lässt mich sofort an Eichendorff denken. Seine Gärten und der hier haben viel gemeinsam: das Beseelte, die Figuren, das Mondlicht...Der ist nun allerdings ein Stadtgarten, in dem tagsüber eifrig promeniert wird, aber nachts wird er abgesperrt, unzugänglich. Er hat sozusagen seine "Tagschönheit" und seine "Nachtschönheit". Die Tagschönheit kennen alle, aber die unzugängliche Nachtschönheit kennt nur das lyrische Ich. Sie ist es, die den Kontrast zur "zu großen Stadt" bildet mit Einsamkeit, Stille, klaren Wegen...
Soviel mal.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Re: Mondnacht

Beitrag von stilz »

Hallo Rotwinny,

nun auch noch ein paar Bemerkungen von mir:

Du sprichst vom „lyrischen Ich“ und vom „lyrischen Du“ --- so kommen diese Begriffe ja eigentlich nicht vor in dem Gedicht.
„Wir wollen“, schreibt Rilke, und nur ein einziges Mal, zu Beginn des Gedichtes.
Für mich ist das fast wie „Vorhang auf!“ im Theater. Wir, wir Menschen, der Dichter gemeinsam mit seinen Lesern, wollen dem nachspüren, was es bedeuten kann, in einer Mondnacht am Gitter eines städtischen Parks zu stehen.

Und wir wollen „die Traurigkeit zu großer Stadt vergessen“.
Für mich ist das nicht „irgendeine“ Traurigkeit. Sondern es geht sehr konkret darum, daß die Stadt „zu groß“ ist, sie faßt zu viele Menschen zusammen, allerdings zu einem nur scheinbar Zusammengehörigen. Denn auch wenn sie Tür an Tür wohnen mögen, so sind sie einander doch nicht wirklich Nachbarn, wie man sie in Dörfern oder auch noch kleineren Städten findet, Nachbarn, die einander kennen, sich miteinander austauschen, einander mit Milch oder Zucker aushelfen oder auch mit größeren Diensten, wenn’s mal nötig sein sollte, Nachbarn, die eine Rolle spielen füreinander, wie es zB in den „Geschichten vom lieben Gott“ anklingt („Und sollte auch jemand anderer Meinung sein, die Autorität meines Nachbars ist mir maßgebend.“) oder auch, wenn auch weniger „schön“ :wink:, in der siebenten Elegie („Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar/uns nicht bestätigt oder beneidet.“) .
Zu große Städte kennen, wenn überhaupt, eine ganz andere Art von Nachbarschaft. In der 49. Aufzeichnung des „Malte“ kann man darüber nachlesen…

Von solcher Traurigkeit mag Ernst Krenek gesprochen haben in seinen „Gesängen des späten Jahres“, da heißt es: „Rings um uns wachsen Mauern, täglich, stündlich, riesig. Am hellen Tage sind sie unsichtbar. Aber im Traum fühlen wir ihr Wachsen, Stein um Stein legt sich auf unsre Brust, …“

Wir können versuchen, das alles zu vergessen. Dazu müssen wir uns „an das Gitter pressen“, eben weil wir in einer Stadt sind, in der es üblich ist, die Parks und Gärten am Abend abzusperren, und sogar auch die Springbrunnen abzudrehen.
Und wir müssen uns wirklich an das Gitter pressen, denn erst dann sehen wir die Stäbe nicht mehr, die zwischen uns und dem nachts verbotenen Garten sind, erst dann können wir tief eintauchen in diese andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Natur, die sich, wenn man sie in Ruhe läßt, nicht kümmert um irgendwelche Mauern, die Menschen zwischen sich wachsen lassen… hier gibt es noch „Nachbarschaft“, „der Mond ist zu den Wiesen unterwegs“, und die Wege sind „eines Ziels“...

Ein ganz eigenartiges Bild ist das der „Figuren“, die sich „leise aufzurichten“ scheinen. Und die „lichten Gestalten an dem Eingang der Alleen“ sind nicht nur „stiller“, sondern auch „steinerner“ als am Tage…

Ich frage mich, ob das vielleicht zu bedeuten hat, daß sich die Statuen von der sie umgebenden Natur, den Bäumen, Teichen und Blumen, in stärkerem Maße unterscheiden als von den Menschengestalten in „lichten Kleidern, Sommerhüten“, die sie tagsüber umgeben… ?


Über all dem Kritischen, das über eine solche „zu große“ Stadt gesagt werden kann, wollen wir allerdings nicht vergessen: dieser Park, mit seinen steinernen Statuen, den künstlichen Teichen und Springbrunnen - er ist gerade aus einer solchen Stadt gewachsen, ohne sie gäbe es ihn nicht.

Ich denke an die erste Elegie „Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft
seliger Fortschritt entspringt - ...“
und noch an ein anderes Zitat, das mir leider im Moment nicht einfällt (ich bin nichtmal sicher, ob es von Rilke ist), wo es darum geht, daß gerade dort, wo es Trauriges, Schweres, Schreckliches gibt, auch das "Helfende" wächst...

Soweit meine Gedanken zu diesem Gedicht.

Lieben Gruß,

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
gliwi
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Re: Mondnacht

Beitrag von gliwi »

Hallo stilz,
du meinst:
Nah ist
und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch.
aus: "Patmos" von Hölderlin.

A propos: gerade die sich aufrichtenden Steinfiguren erinnern mich an Eichendorff, in der Novelle "Das Marmorbild" steht ja eine solche Steinfigur, die zum Leben erwacht, im Mittelpunkt.
Wer ist "wir"? Auch ich würde es nicht aufspalten in "ich" und "du". Für mich umfasst es den Dichter und seine Gemeinde - die, welche seine Gedichte lesen, die nimmt er mit an dieses Gitter.
Gruß
gliwi
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