Zeit und Ewigkeit in den "Neuen Gedichten"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Zeit und Ewigkeit in den "Neuen Gedichten"

Beitrag von stilz »

lilaloufan hat geschrieben:Hier habe ich "zu-fällig" in der Osterwoche (!) einen Aufsatz gefunden, den ich für wirklich lesenswert halte: http://www.nthuleen.com/papers/150paper.html. Und ein früherer derselben Autorin in English: http://www.nthuleen.com/papers/940Brilke.html; dort wird der Akzent mehr auf den τυπος "Dinggedicht" gelegt.
Ich danke lilaloufan sehr für diese links (besonders auch für den englischen)!

Nancy Thuleen geht in ihren Aufsätzen davon aus, daß es innerhalb der „Neuen Gedichte“ einen kleinen Extra-Zyklus gibt, der sieben Gedichte umfaßt, in deren Zentrum die „Blaue Hortensie“ steht und der „uns vom Tod ins Leben und dann wieder zurück leitet“.

Ich möchte das, was sie schreibt, ein wenig modifizieren.


Die Erblindende

Für Thuleen bezieht sich die Zeile „als wäre etwas noch nicht überstiegen“ auf den Tod.

Meiner Meinung nach ist aber in diesem Gedicht die zu übersteigende Schwelle nicht der Tod, jedenfalls nicht so, wie er im allgemeinen verstanden wird.
Sondern das, was es für die Erblindende zu „übersteigen“ gilt, das ist ganz einfach der Moment des vollständigen Erblindens. Soweit ist sie noch nicht, noch sieht sie, wenn auch nicht mehr sehr viel, daher der tastende, verhaltene Gang, das „andere“ Fassen nach der Teetasse…
Und solange sie noch etwas sehen kann, hängt sie an diesem Gesichtssinn, kann nicht anders als versuchen, sich wie gewohnt auf ihn zu verlassen, wenn auch das Ergebnis unvollkommen ist...
Sie ist sich dessen bewußt, ihr Lächeln tut fast weh.
Wenn es einmal soweit sein wird, daß der Gesichtsinn sie ganz und gar verlassen hat, dann wird sie sich voll Vertrauen ohne ihn orientieren und ihre natürliche Anmut nicht nur zurückgewinnen, sondern steigern. Das ist in ihrem Verhalten jetzt schon zu spüren.


In einem fremden Park

„Zwei Wege sinds…“


und nur einer dieser zwei Wege wird hier geschildert. Es ist derjenige, der „dich weitergehen läßt“, ohne daß „Du“ eine bewußte Entscheidung triffst.

Das „Du“ in diesem Gedicht ist meiner Meinung nach nicht (wie bei Thuleen) ein Zweiter, den das „Lyrische Ich“ beobachtet. Sondern dieses „Ich“ stellt sich sich selbst gegenüber und spricht dieses Gegenüber mit „Du“ an; und gleichzeitig ist auch der Leser mit diesem „Du“ angesprochen, der Leser, dem es wohl immer wieder ganz ähnlich gehen wird, der sich auf diesem einen Weg „weitergehen läßt“, ohne bewußt den Entschluß dazu zu fassen.

Es ist ein Weg in die Vergangenheit. Das „Du“ scheint immer wieder etwas zu suchen und mit leisem Erschrecken zu finden …
Death "verlockt" the figure to stay, sagt Thuleen, der Tod verlockt das „Du“ zum Bleiben…Bei Rilke heißt es allerdings:

“Und was verlockt dich für ein Gegensatz, etwas zu suchen in den sonnigen Beeten…“

Nicht der Tod an sich ist es, der „Dich“ verlockt. Sondern wohl eher der immer wieder unbegreifliche Gegensatz zwischen dem Leben des Augenblicks und dessen Vergänglichkeit…

Warum wird dieses Finden nicht geringer?“ Warum kannst „Du“ Dich nicht daran gewöhnen, daß es Vergänglichkeit nicht nur gibt, sondern daß sie wie eingewebt ist in alles Lebendige, daß nichts sich festhalten läßt, solange es lebt, daß alles erst dann einen endgültigen Platz zugewiesen bekommt, wenn es vergangen ist…

„wie verloren“ siehst „Du“ schließlich die Falter… die Falter, auch sie sind vergänglich und daher jetzt schon „verloren“. Aber sie flimmern um den Phlox, sich ihrer eigenen Vergänglichkeit nicht bewußt…

Auch hier geht es, obwohl der Schauplatz ein Friedhof ist, meiner Meinung nach nicht in erster Linie um „Tod“, sondern um „Vergänglichkeit“. Das ist ein Unterschied!
Tod… darunter verstehen wir normalerweise diesen Moment des Aufhörens des irdischen Lebens, das Zurücklassen alles Stofflichen, das Herausziehen der lebendigen Seele aus dem Leib, dessen Ver- und Zerfall dann durch nichts mehr aufzuhalten ist…

Vergänglichkeit aber gibt es schon während jedes einzelnen Augenblicks des irdischen Lebens.


Abschied

Auch hier würde ich nicht (wie Thuleen) auf die Idee kommen, daß es sich um einen Abschied handelt, weil jemand gestorben ist.
Sondern es ist ein ganz normaler, alltäglicher Abschied, wie er in unser aller Leben dauernd vorkommt. Und natürlich können wir niemals wissen, ob das Leben uns wieder zusammenführen wird, ob es ein Abschied für längere Zeit, gar einer für immer ist…
Das Kleinerwerden und Winken läßt mich am ehesten daran denken, daß jemand am Bahnsteig zurückbleibt, während der Zug losfährt, in dem der Abschiednehmende sitzt.

Ja. Und diesem unaufhaltsamen Sich-Entfernen schaut der Abschiednehmende „ohne Wehr“ zu, und gleichzeitig scheint ihm bewußt zu sein, daß jeder Abschied etwas Endgültiges hat. Die Zeit läuft weiter und bringt Vergänglichkeit mit sich, und ganz egal, ob die beiden sich vielleicht schon morgen wiedersehen werden oder auch nie mehr in diesem Leben: so, wie es war, wird es nie mehr sein. Die Bedeutung, die sie füreinander haben, kann sich so schnell ändern: „ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen…“

Ich denke daran, daß wir alle unsere Zellen ständig erneuern, in sieben Jahren werde ich keine einzige der Zellen mehr an mir haben, die im Moment meinen Leib bilden… im Stofflichen ist das so. Im „Nicht-Stofflichen“ müssen erst gar keine Zellen ausgetauscht werden, da kann es viel schneller gehen, Gedanken und Gefühle sind viel flüchtiger als Zellen…

Auch von dieser Art der Vergänglichkeit handelt der „Zyklus“, den Nancy Thuleen innerhalb der „Neuen Gedichte“ zu entdecken meint.


Todes-Erfahrung

Ja. Hier geht es tatsächlich um den Tod, den Tod eines geliebten Menschen, der so nahegeht, daß er das eigene Leben verändert und „wirklicher“ macht, indem man sich der Vergänglichkeit dieses und allen Lebens bewußt wird.
Ich komme darauf weiter unten zurück.


Blaue Hortensie

Darüber ist schon sehr viel gesagt worden. Und ich empfehle wirklich, vor allem Thuleens englischen Aufsatz zu lesen, noch nie habe ich eine so wunderbare Interpretation der „Blauen Hortensie“ gelesen.

Thuleen spricht von der „regeneration of life“ als „the poem's central event“.

Ja. Die Hortensie ist eine Pflanze. Und als solche in der Lage zu einer „Wiederauferstehung“ schon während ihres irdisch-materiellen Lebens, an der wir zwar nicht selbst teilhaben, die wir aber betrachten können, „man sieht ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen“.Oder, wie Nancy Thuleen es sagt:
Only the flower -- not the paint-pots, the writing paper or the child's pinafore -- can possibly renew itself in this way. Only the flower has an eternal life, both as thing, as natural phenomenon, and as artwork in poetry.
(Nur die Blume – nicht die Farbentiegel, das Briefpapier oder die Kinderschürze – kann sich selbst in dieser Weise erneuern. Nur die Blume hat ein ewiges Leben, sowohl als Ding, als Naturphänomen, als auch als Kunstwerk in der Dichtung.)


Vor dem Sommerregen

Nochmal die Natur.
Auch hier wird ein Gegensatz gezeigt, der allerdings noch viel „kleiner“ ist als „Tod und Auferstehung“ der Hortensie.
Das, was „fortgenommen“ ist aus dem Grün… das ist der Sonnenschein, und das sind auch die Geräusche. Eine Regenwolke hat sich vor die Sonne geschoben… der Regenpfeifer ist der einzige, der angesichts dieses plötzlichen „Sonnentodes“ nicht verstummt…

Die Dinge im Haus haben damit nichts zu tun, sie kennen keinen Regen, dürfen gar nicht hören, wovon hier die Rede ist.
„…das ungewisse Licht von Nachmittagen“, in denen fürchtete man sich als Kind. Jetzt nicht mehr. Denn inzwischen weiß man, daß die Sonne nicht für immer verschwunden ist, sondern nach dem Regen wiederkehren wird…



Im Saal

„Wie sind sie alle um uns“… sowohl in einem Saal, als auch in der Vorstellung, wenn man ein Buch liest oder ein Bibelot betrachtet… die Menschen, die sich davor scheuen, sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewußt zu werden, die deshalb versuchen, in jeden Augenblick so zu „blühen“, als gäbe es kein Nachher…
Dieses Bild des „Blühens“ ist der Pflanzenwelt entnommen, ich denke daher wieder an die Hortensie und ihre unbewußt erlebte „Auferstehung“… und ich denke natürlich auch an die „flimmernden Falter“, die nicht wissen, was der Friedhof bedeutet, über den sie flimmern…

Aber diese „unbewußten“ Menschen hindern uns nicht, unser Leben dennoch in anderem Bewußtsein zu leben und daher auch das „dunkel sein“ nicht auszublenden.


Letzter Abend

Auch hier geht es um ein plötzliches Innewerden der Vergänglichkeit. Der Tod ist ganz deutlich einbezogen, als ganz nahe Möglichkeit… beide werden sich dessen bewußt, trotz der festlichen Stimmung, und trotz aller (oder gerade im Gegensatz zur!) „Frische“, die von draußen hereinweht…



Jugend-Bildnis meines Vaters

Hier gibt es sogar drei Schichten von Vergänglichkeit.
Der Vater, dessen Jugend lange vergangen ist… der zum Zeitpunkt, da dieses Gedicht herausgegeben wird, schon verstorben ist…
Die Daguerreotypie, die den Augenblick, den sie zum Inhalt hat, zwar „festhält“ und überdauert, aber doch auch schon von Vergänglichkeit gezeichnet ist, auch sie wird nicht ewig bestehen…
Und dann noch die Hände, in denen sie gehalten wird. Auch diese Hände sind in jedem Augenblick mit „Vergehen“ beschäftigt („Wir alle fallen. Diese Hand da fällt…“) - selbst wenn sie noch viel länger leben werden als die Daguerreotypie…




Ja, es ergibt einen Sinn, diese Gedichte als zu einem „Zyklus“ zusammengefaßt zu betrachten.
Ich freue mich sehr über diese Anregung!

Und ich möchte noch etwas hinzufügen.

Thuleen schreibt zum Gedicht „Todes-Erfahrung“:

…the self realizes, if only temporarily, the eternality of a different life, and the limitations of his own. He has no power to achieve this eternal existence, however, and must continue to play at life, "nicht an Beifall denkend." The self is powerless over death, but has come to recognize the connection between death and life, the circular nature revealed by the eternal truth.

(…das Selbst erkennt, wenn auch nur zeitweilig, die Ewigkeit eines anderen Lebens, und die Grenzen seines eigenen. Es hat allerdings nicht die Macht, diese ewige Existenz zu erreichen, und muß weiterhin spielen im Leben/angesichts des Lebens {??? Thuleen sagt nicht, wie Rilke, „das Leben spielen“!}, „nicht an Beifall denkend“. Das Selbst hat keine Macht über den Tod, aber es hat gelernt, die Verbindung zwischen Tod und Leben zu erkennen, die zyklische Natur, die durch die ewige Wahrheit enthüllt wird.)

Nun. Ich finde, „das Leben spielen, nicht an Beifall denkend“ ist eine sehr bedeutende Zeile.
Sie drückt für mich etwas aus, das ich bei Rilke immer wieder finde: daß es nämlich dennoch, aller Vergänglichkeit zum Trotz, eine Macht über den Tod geben könnte. Es ist genau das: jeden Augenblick des Lebens als Kostbarkeit empfinden und hingegeben „spielen“, das Leben preisen, ohne sich von Gedanken an den Tod davon abhalten zu lassen. Aber nicht in derselben Weise wie die Falter oder auch die Hortensie, sich des Geschehens unbewußt.
Sondern gerade im Bewußtsein der Vergänglichkeit und der Unausweichlichkeit des irdischen Todes werden die Farben jeden Augenblicks leuchtender, dieses Bewußtsein kann das ganze Leben verändern, und der Tod wird ein Teil dieses Lebens, er wird er-lebt, in jedem Augenblick, und scheint gerade dadurch seine dunkle, unheimliche Macht, seine Eigenschaft, nur Tod zu sein, zu verlieren…
Und nicht nur der Tod ist ein Teil des Lebens. Sondern das Leben, jeder Augenblick des Lebens, ist Teil der Ewigkeit. Die unvergängliche Ewigkeit ist aus solchen vergänglichen Augenblicken gemacht…

Thuleen sagt:

Only as a "thing" -- either in art as a "Kunstding" or in an almost Platonic existence as a "Ding" itself -- can the eternal be achieved.
(Nur als ein „Ding“ – entweder in der Kunst als ein „Kunstding“ oder in einer fast Platonischen Existenz als ein „Ding an sich“ – kann die Ewigkeit erreicht werden.)

und:

The flower can rejoice even in death, for it, unlike the poetic selves in the previous poems, instinctively understands the nature of time.
(Die Blume kann sich sogar im Tode freuen, denn sie versteht, im Gegensatz zu den poetischen Subjekten der vorigen Gedichte, instinktiv das Wesen der Zeit.)

Das ist der Unterschied: die Blume versteht es instinktiv, das Wesen von Zeit und Vergänglichkeit.
Wir können, wenn wir uns dazu entschließen, uns dessen jederzeit bewußt sein.
Meiner Meinung nach können wir, auch wenn wir dadurch natürlich nicht zum „Ding“ oder gar „Kunst-Ding“ werden, unserem Leben durch solches Bewußtsein die Qualität von „Ewigkeit“ geben.


Du mußt dein Leben ändern.
So verstehe ich das „Motto“ auf dieser Tasse von rilke.de… ob man nun Kaffee oder Tee daraus trinken mag, oder vielleicht sogar, wie ich am liebsten, Schokolade ;-)
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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