Rilke "Der Tod ist groß"

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Mona
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Beitrag von Mona »

Hallo,

wer sagt denn, dass Rilke ohne Chauffeur fuhr ? Vielleicht wollte er ja auch die Aussicht genießen ?!

Mona :lol:
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Sorry, diesen Einwand verstehe ich jetzt nicht ganz. Fakt ist: Rilke ließ sich vom Chauffeur fahren. Fakt ist: Rilke tut stellenweise so, als wäre er allein. Daraus ergibt sich für mich: Der Chauffeur zählt nicht mit als menschliches Wesen.
Rilke selbst drückt sich so aus, als wäre er allein, während wir dank Helle wissen, dass Chauffeur Pierro ihn fuhr - natürlich wollte er die Aussicht genießen, sonst hätte er sich doch nicht die Route überlegt.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
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lilaloufan
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Der Chauffeur und der Tod

Beitrag von lilaloufan »

Ob „allein“ nicht einfach heißt: ohne die „Ergänzung“, die man in anregender Gesellschaft empfindet!

So kann man doch, wenn man sonst en famille an die Ostsee zu reisen pflegte, einmal eine adventure-tour durch Kenia buchen, in turbulenter Reisegruppe, in der man nicht unbedingt gemeinsame Interessen entdeckt oder auch nur sucht – und allen erzählt man: Diesmal fahre ich allein! Das heißt ja durchaus nicht, man verachte die Mitreisenden oder ignoriere ihr Menschsein.

Ja, auch den ersten Urlaub ohne die flügge gewordenen Kids, die im Vorjahr schon maulten, sie würden lieber ins Pfadfinderlager als mit Papa und Mama…, unternimmt man – allein!, und meint damit: Nur wir beide!

Ich sehe nicht, was Rilke hier „passiert“ sein soll. Rilke konnte sich mitten im Getümmel der Salons ins gesuchte Alleinsein zurückziehen – aber er konnte auch Zweisamkeit – honni soit qui mal y pense – sehr genießen. Na, und seht mal:
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Muss er Marie nicht auch wirklich vermisst haben (trotz Pierros Gegenwart), zunächst – bis ihn die Landschaft halbwegs „entschädigte“?

Weiß man denn eigentlich, ob Pierro ein schweigsamer Lombarde war oder ein con furore parlierender Südländer? (Womit ich nicht sagen will, dass man die Zurückhaltenden übersehen mag!)

Und Brecht: Hat er nicht vielleicht in entgegengesetzter Einseitigkeit bevorzugt die beachtet, die „die Felsbrocken herbeigeschleppt“ haben für „das siebentorige Theben“? Und die Könige - immerhin auch Menschen - geringgeschätzt? - In seinem Sinne müsste man fragen: Wer saß im Wagen?
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JFK allein?

Wie auch immer: Rilke reiste nicht wirklich allein. Der Tod - womit wir beim Thema wären - reiste mit. Und wagte zu weinen. Denn er war es, dem Rilke einen Großteil seiner Produktivität abrang. Die fiel Rilke nicht ähnlich zu wie ein gerade mal großzügig überlassenes (übrigens: "wendiges“!) Auto – samt Chauffeur.
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stilz
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Beitrag von stilz »

Ich danke Dir, lilaloufan, für den letzten Absatz...

Der Tod ist groß.

Genauso, wie Rilke es schreibt... mitten im Leben, mit lachendem Mund... habe ich letzte Woche einen mir sehr, sehr nahestehenden Menschen verloren, von einem Augenblick auf den anderen...



Nun.
Unser Leben, so wie es war, wie es ist... das wäre gar nicht möglich ohne diesen Tod, der immer und überall mitreist.

Das ist mir gerade jetzt sehr bewußt.


Liebe Grüße an alle

Ingrid
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Gut. Preisen wir die, die anderen großzügig - ob mit, ob ohne Chauffeur- ein Fahrzeug überlassen, wenn die es gerade brauchen (meiner Tochter ist gerade auch so ein Glück widerfahren), und stellen wir in Rechnung, dass zu Rilkes Zeiten der Besitz eines Führerscheins lange nicht so verbreitet und selbstverständlich war wie heute.
Gruß
gliwi
p.s. Ich wollte es eigentlich nicht schreiben, aber nachdem du das geschrieben hast, Ingrid,möchte ich noch anhängen, dass er auch in mir seit kurzem laut vernehmlich ist, nachdem ich mich auch "mitten im Leben" meinte, und dass dieses Gedicht das erste war, das mir zu meiner Situtation einfiel. Ja, es ist wirklich eines der ganz großen Gedichte in deutscher Sprache.
Zuletzt geändert von gliwi am 15. Aug 2006, 19:02, insgesamt 1-mal geändert.
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lilaloufan
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"das Leben gegen den Tod hin offen"

Beitrag von lilaloufan »

@stilz, du bist ja wieder im Lande! Willkommen!

Kennst du diese Briefstelle: «Und jetzt stehe ich zum Tode so, dass er mich mehr in denen erschreckt, die ich versäumt habe, die mir unerklärt oder verhängnisvoll geblieben sind, als aus denen, die ich, als sie lebten, mit Sicherheit liebte, wenn sie auch nur einen Augenblick in der Verklärung jener Nähe aufstrahlten, die der Liebe erreichbar ist. – Die Menschen hätten bei einiger Einfalt und Freude am Wirklichen (als welches von der Zeit völlig unabhängig ist) nie auf den Gedanken [zul.] kommen brauchen, dass sie das, womit sie sich wahrhaft verbanden, irgendwann wieder verlieren könnten: Kein Sternbild steht so zusammen; nichts Getanes ist so unwiderruflich wie menschlicher Zusammenhang, der ja schon im Augenblick, wo er sichtbar sich schließt, stärker und gewaltiger im Unsichtbaren vor sich geht, im Tiefsten: dort, wo unser Dasein so dauernd ist wie Gold im Gestein; beständiger als ein Stern. Darum gebe ich Ihnen recht, […] wenn Sie meinen, über die zu trauern, ’die fortgehen’. Ach, uns kann nur fortgehen, wen wir nie besaßen». An einer anderen Stelle spricht er davon, wann immer ihm ein Mensch durch den Tod genommen wurde, habe er hernach gewachsene Aufgaben empfunden, höheren Grad von Verantwortung.

In Duino habe Rilke die Anwesenheit von Raymondine und Polyxène (Maries jugendlich verstorbene Tanten mütterlicherseits) real erlebt; ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe.
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stilz
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Beitrag von stilz »

Danke, lilaloufan, für diese Briefstelle! Ich kannte sie nicht, was ist das für ein Brief?

Genauso empfinde ich es auch: ich kann diesen geliebten Menschen und das, was er mir war, niemals "verlieren"... und bin nicht nur unendlich traurig darüber, daß er so nicht mehr ist, sondern gleichzeitig auch unendlich glücklich darüber, daß er war... daß wir waren...
Und ich spüre auch sehr stark so etwas wie einen "Auftrag", also "gewachsene Aufgabe"...

Und gliwi: auch für mich war dieses Gedicht das erste, das mir einfiel...

Ganz lieben Gruß an alle

stilz
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lilaloufan
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Briefe 1907-1914

Beitrag von lilaloufan »

S. 35

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
helle
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Beitrag von helle »

"Auf Augenhöhe" mit Rilke wird sich hier wohl niemand fühlen, daß ihm hier keiner die Schnürsenkel lösen kann, ist schon klar. Aber ich schätze gerade die Möglichkeit des Forums, auch mal unzensiert über Rilke reden zu können, auch wenn das anderen weniger behagt. Hagiographie gab's ja genug in der Rilke-Literatur. Und da ich nun mal dabei bin:

hat mich bei der Lektüre der Rilke-Chronik doch verblüfft, was für ein Edelschnorrer vor dem Herrn, bzw. vor den Damen Rilke war; es würde allerhand Arbeit machen, die Namen all derer aufzulisten, bei denen er die Hand aufgehalten oder auch nur nicht weggezogen hat. Man kann sagen "so what", das Gegengewicht, Rilkes Dichtung, diese zarte Pflanze, die vielleicht wirklich nur auf einem von anderen bereiteten Humus gedeihen konnte, legitimiert das allemal, legitimiert selbst diese jahrzehntelange bittstellerische und (sorry, gliwi) unmännliche Haltung, mit Gratis-Mieten und -Aufenthalten, Reisen erster Klasse (chronisch, wie Verleger Kippenberg beklagt), immer erstem Haus am Platz (hübsch ist, als man ihn anfangs der Schweizer Vortragsreise in einem Mittelklassehotel Nähe Bahnhof unterbringen will, sein Kommentar "etwas phantasielos"), bis hin zu "Kleidern und Schuhen", womit ihn "nach Thunlichkeit auszurüsten" er 1920 beiläufig Sidonie Nádherný von Borutin bittet. Ich weiß nicht, ob es eine Arbeit über Rilke und das Geld und den Lebensstil gibt, aus der man genaueres erfährt. Mir bleibt, wenn ich entsprechende Rilke-Briefe lese, ein schaler Beigeschmack, auch wenn ich daran denke, welcher materiellen Not und persönlichen Anspruchslosigkeit andere ihre Dichtung abgerungen haben, etwa Hölderlin die Hymnen und Elegien oder Johann Christian Günther seine bedeutenden und schönen Verse.

Am 3. Juni 1921 schreibt Rilke 14 Briefe. Das liegt dann wohl über dem Durchschnitt.
Gruß h.
helle
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Beitrag von helle »

meinen voranstehenden Beitrag habe ich Schussel falsch einsortiert, er hätte unter "persönliche Briefe" gehört. Freundlicher Weise hat mich lilaloufan darauf aufmerksam gemacht, danke schön.
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lilaloufan
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DER TOD IST GROß

Beitrag von lilaloufan »

Eigenartig, dass wir gerade bei diesem Thread solch unplanbare Unterbrechungen erfahren, erst hin zur Frage nach Pierro dem Chauffeur der Gräfin, und nun dies, das ich dich eigentlich anregen wollte hier zu löschen und am passenden Platz einzusortieren.

Ich finde es immer wieder unerträglich, wenn ich den Eindruck habe, Rilke solle von seinem Werk – oder das Werk von Rilke – getrennt werden. Ich meine wirklich „getrennt“, also nicht methodisch gelöst um der werkimmanenten Deutung willen, sondern abgetrennt wie das Knie, das durch die Welt geht, aber eben als Amputatum seines Lebens beraubt ist. In den aktuellen Diskussionen um Grass als „leeren Moralisten“ haben wir etwas in gewissem Sinne Vergleichbares, vielerorts Niveauloses: Nun sei der Kerl charakterlich diskreditiert, und hat’s MRR nicht schon immer gesagt? usw.

Wen eigentlich bezichtigst du hier in vielsagender Art, Rilke-Hagiographie betreiben zu wollen? Ich schätze an diesem Forum sehr, dass es nicht ums Preisen des Unerreichbaren in Rilkes Geist geht, sondern dass auch die kritisch befragende Auseinandersetzung mit ihm und mit seinem Werk weitgehend um den Tiefgang bemüht ist, der dem Gegenstand einzig angemessen ist. Und zweitens, dass noch die allereinfachste Frage – wenn sie denn echt ist – ernst genommen wird.

In diesem Thread – Der Tod ist groß – sind noch etliche Fragen offen.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
helle
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Beitrag von helle »

Zum Beitrag von lilaloufan: Ob Du Dir den hagiographischen Schuh anziehst oder nicht, ist mir relativ gleich, ich hatte ja eigentlich von der Rilke-Literatur gesprochen. Daß umgekehrt Auslassungen wie "immer wieder unerträglich" und "vielerorts Niveauloses" weniger "vielsagend" und ganz ohne Insinuation sind, kann man bezweifeln. Und das Wort "bezichtigen" weise ich zurück, das ist mir zu eifrig.

Wenn ich mich zu Rilke manchmal etwas pampig äußere, dann nicht weil der Hund so gern den Mond ankläfft, sondern weil ich sein Verhalten, dochdoch, aber auch sein Werk nun mal sehr ambivalent finde, sein Werk einschließlich der Briefe, die in der Regel schon als Artefakt konzipiert sind (da beginnt das Problem). Und ich meine nicht, daß das eine das Knie und sonst nichts ist, und das andere ist etwas anderes, und beides hat nix miteinander zu tun, sondern ich glaube, es gibt eine Relation zwischen Rilkes künstlerischen und menschlichen Qualitäten, mit ihren extremen Stärken und Schwächen. Zugegeben, das aufzuweisen müßte vom Werk her geschehen.

Gruß h.
Björn Rank
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Gedanken

Beitrag von Björn Rank »

Die Gedanken so weit Du sie spanntest,
dein tun, dein handeln. In tiefen Gefühlen sich verlieren.

Niemals verzweifeln, die Liebe empfinden.
Unendlich vertrauen, das Wesen sein.

Wie hast Du gelitten, dein Schmerz ist nichts gegen meins.

Dein Pein, deine Qual, ist Hoffnung für alle die fühlen.
Im Bett und im Winde, sie Ihre Seele fühlen.

Lass deine Qualen auch meine sein.
Together
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