Rilkes Tamina-Bericht

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lilaloufan
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Rilkes Tamina-Bericht

Beitrag von lilaloufan »

Hallo rundum,

großes Pech mit unserem „unkaputtbar“ gewesenen alten Audi lässt uns den Sommerurlaub zu Hause im Wohnwägelchen verbringen, und nun komme ich einmal dazu, das ganz hervorragende Buch von Silke Pasewalck einmal zu lesen, das du, @Renée, in http://www.rilke.de/phpboard/viewtopic.php?p=1598#1598 sehr recht einmal „gehaltvoll“ genannt hast. Vielleicht werde ich hier einmal eine ausführlichere Laudatio auf dieses Buch halten, falls mich der Arbeitsdruck nach dem Urlaub nicht vollends in Beschlag nimmt.

Im Anhang steht eine Reisebeschreibung (Rilkes Brief an Mary und Antoinette Windischgraetz, 15.VII.1924), die so plastisch ist, dass sie einen für alle entfallenen Ferienfahrten dieses Jahres entschädigen kann. Diese Lektüre möchte ich gerne allen ebenso glücklich Daheimgebliebenen – und hernach allen aus fernen Reisen erlebnissatt Heimgekehrten – zur Verfügung stellen:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:«Liebe Prinzessin Mary und liebe Prinzessin Antoinette, länger darf mein Tamina-Bericht nicht aufgeschoben sein -, sonst verhärtet am Ende die Bruchfläche unseres gemeinsamen Weg-Fragments, an der wir neulich (nach der so- und so-vielten Biegung) umkehren mussten, -verhärtet, so, dass sich nichts mehr daran ansetzen lässt. Dass wir umkehrten, war wirklich in der Ordnung; wir hätten das Ganze an jenem kurzen Vormittag nicht mehr leisten können. Nun war’s ein Nachmittag, in den unsere Unternehmung fiel, (zu Wagen übrigens), denn am Tage nach Ihrem Fortgehen, der einzige, der noch zur Verfügung stand, sollte Nanny Wunderly die Schlucht mit mir sehen: (dass wir zu zweit waren, hat uns dann übrigens Ihr Nicht-dabei-sein ungemein fühlbar gemacht -, seien Sie's nun noch nachträglich ein klein wenig von Kirchdorf aus!)

Also, die Schluchtstraße, indem sie immer in Krümmungen, am Bett der Tamina entlang weiterführt, bleibt immer die gleiche, wie Sie sie gesehen haben; manchmal kehren die Felsen, rechts oder links, etwas mehr Härte heraus, manchmal ist das Grün überwiegend und dann scheint alles heiterer, weicher und offener für einen Augenblick. Irgendwo, wo die Felsen besonders weit überhingen, dringt die Strasse durch ein gesprengtes Tor, aber auch da verliert sie nichts an Bequemlichkeit, und folgt überall (als ein jüngstes, um einige Jahrtausende nachgeborenes stilles Geschwister) der lauten Tamina, deren alle Bewegungen sie wiederholt, überzeugt, dass es die richtigen seien. Ab und zu eine leichte Steigung, die den Wagen verlangsamt, so dass er wirklich an die vierzig Minuten braucht, bis zu dem Platz, wo das Hotel Pfäffers, ein älterer Bau, anstelle eines noch älteren, einfach und klösterlich errichtet, den Weg verstellt. Nur durch dieses Haus wird nun der übrige Theil der Schlucht zugänglich. Das Hôtel kehrt einem eine schmale Giebelseite zu, eintretend, ist man völlig überrascht durch die außerordentliche Länge und Flachheit des breiten klösterlichen Ganges, der sich nun, als Fortsetzung des Weges, anbietet. Später, als wir schon in der Schlucht und gewissermaßen von ihr verschluckt waren, fiel mir ein, dass die Folge flacher Kreuzgewölbe, die ihn eindecken, einem Gaumen -, sein ganzes langes Innere einem Rachen, dem Rachen eines Ungeheuers -, nicht unähnlich sei; hat man ihn in seiner ganzen Länge durchmessen und wird, jeweils, von dem Bauwerk an wildeste und seltsamste Gestaltung der Natur weitergegeben, so kann man sich wirklich im Inneren eines Drachens glauben, dessen ungeheueren Leib die zu weitester Wölbung sich fast völlig schließenden Felswände ausmachen. Ehe es aber soweit ist, verzweigt sich unser Gang in kleinere Gänge, es geht Stufen abwärts und ein wenig um die Ecke, immer an gleichmäßigen Zimmerthüren entlang; ein Zimmer steht zufällig offen: es ist von äußerster Einfachheit ländlich, ein wenig streng dabei, die tiefe Lage des Hauses zwischen den Schluchtwänden macht sich auch da geltend. Schließlich eine hölzerne Treppe abwärts, zu den immer noch primitiven Bädern, und nun findet man sich, endlich, am anderen Ende des merkwürdigen Gebäudes, das mit einem hohen weiten, von Säulen unterstützten Saal abschließt, der offenbar den Badegästen als Warte- und Promenier-Raum zu dienen hatte. An zwei Stellen war, (nicht mehr fließend) die warme Quelle zu Trink-Brunnen in ihn eingelassen, - das alles heute vernachlässigt und leer, man vermochte kaum, sich Leute in heutigen Kleidern dort vorzustellen. Der Eindruck der Verlassenheit wurde verstärkt, durch das schmale übermäßig-hohe Holzgehäus einer alten Stehuhr, die als einziger Gegenstand die Längswand in aussichtsloser Weise möblierte: längst ohne Uhr, sah sie aus, wie eine Gouvernante, die alle Sprachen vergessen hat und nur noch Anstand marquiert. Drei hohe, fast kirchliche Bogenfenster nahmen die Endwand des Saales ein, und durch sie sieht man schon der Schlucht entgegen, die einen, beim Austritt, über eine kleine Lichtung hin, fast sofort aufnimmt und mit ihrem Hell-dunkel ihrer hohen, vom Dröhnen des Flusses erfüllten Geräumigkeit nicht allein umschließt, sondern beinahe verwandelt. Und nun geht man, vielleicht zehn Minuten lang (aber es scheint viel mehr) auf einem an die linke Wandung angeschlossenen Brettersteg, viele Meter über dem drängenden und stürzenden Fluss und wieviel hundert Meter unter den Lichtspalten, durch die ein entfernter grüngoldner Tag hereinspiegelt, dessen Glanz, kaum eingedrungen, nur dazu beiträgt, das Unheimliche der Wendungen und Wölbungen in der enormen Höhle phantastisch zu beleben. Was hat, in Jahrtausenden, dieses zwischen die Felsen gerathene Tamina-Gewässer für ein Temperament entfaltet, ehe es, jetzt, im tiefer und tiefer gegrabenen Bett, verhältnismäßig zahm, seine immer noch geräuschvolle Wanderung fortsetzen konnte. Aber wie die Leistung seiner Kraft und seiner eingeengten Erregung noch überall in den Wandungen erkennbar ist; so lass ich mir's auch nicht nehmen, dass wir in dieser Umgebung, in diesem fast ganz verschlossenen Felskessel mehr gehört haben, als nur den heutigen Lärm des Flusses und seinen physischen Widerhall. Wie sollte nicht auch früheres Dröhnen da noch mit- und nachwirken?; die ganze unabsehliche Vergangenheit dieses jahrtausend alten Gedröhns überliefert sich sicher dem seltsam überfüllten Gehör, und was sichtbar ist, die in ungeheueren Muldungen akustisch ausgeschliffenen Wände, kommt diesem Eindruck des Gehörs so eigenthümlich zustatten, dass nicht viel Einbildungskraft dazu gehört, sich vorzustellen, die maaßlose Gewalt der Geräusche habe, ihrerseits, neben dem thatsächlichen Andrang der Gewässer an der Formung des gigantischen Innenraumes mitgewirkt: so dass hier ein Ueberschuss von ständig thätiger Tonkraft Spuren ihrer Leistung in das benachbarte Gebiet des Sichtbaren hinübergeworfen hätte. Eine derartige Vermuthung kommt mir nicht zum ersten Mal: wie oft, in großen Kathedralen, in der Notre-Dame zu Paris, in St. Marco oder auf dem Mont St. Michel, hab ich mich hinreißen lassen, zu glauben, dass, durch Jahrhunderte, die immer wieder aufgeregten Orgelwellen nicht ohne Einfluss geblieben seien auf die Biegung der Gewölbe, das Ineinanderwachsen der Ornamente, oder die gebrauchtere Glätte der Pfeilerkaneelen und der Säulen -.. Vielleicht wird es, nach Jahr und Tag, nicht einmal so waghalsig und abenteuerlich gewesen sein, eine solche Nebenwirkung des Klanges zu behaupten: ordnen sich nicht Eisenfeilspäne zu Figuren beim Klang einer nahe angestrichenen Saite? Wie sehr die Welt in Wechselwirkungen ineinander spielt, dies einerseits, und auf der anderen Seite die Entdeckung, dass die, unseren verschiedenen Sinnen zugekehrten Erregungs-Elemente einander irgendwo, in einer noch nicht entdeckten Peripherie berühren: diese immerhin möglichen Thatsachen, werden für unsere Nachkommen kaum mehr verwunderlich sein; Versuche und Ueberraschungen werden zusammenwirken, sie mehr und mehr herauszustellen.

Meine eigene (höchst laienhafte) Vermuthung, die auch durch die Eindrücke in der Taminaschlucht wieder belebt worden ist, hab ich noch nie anders, als vor mir selber, ausgesprochen; ich forme sie hier zuerst, Ihnen zu Ehren, Prinzessin Antoinette, der Musik zu Ehren, die Sie gewählt haben. Denken Sie, wenn Musik nicht allein ein Gemüth, eine Seele zu erschüttern vermöchte, sondern sogar Macht hätte, einen Körper umzubilden, ein Gesicht zu verändern ..., vielleicht eine körperliche Wunde zu heilen! ... Was hindert uns, daran zu glauben?

(Zwei Stunden später:) Um aber nun die Tamina-Unternehmung nicht zu fälschen, wird es Zeit zu sagen, dass es sich gar nicht um alles das handelt, wenn man am Endpunkt der merkwürdigen Wanderung angekommen ist -; nicht um Lärm oder Leistung des Tamina-Flusses (auf alten Plänen erscheint er unter der Bezeichnung ,Camina'), ja nicht einmal um ihn selbst. Alles dieses Auffallende und Aufbegehrliche scheint nur da zu sein, um der daneben, an verschiedenen Stellen, entspringenden Heilquelle eine umso größere Heimlichkeit zu sichern; wie still kommt sie, aus allen ihren Ursprüngen, körperwarm, in der steinernen Brunnenstube zusammen, in der sie gefasst worden ist. (Ich musste denken, wie in manchen ältesten Kultgebräuchen der Menschheit die Priester verpflichtet waren, gleichsam um das vollkommene Geheimnis zu verbergen, im Augenblick der göttlichen Erscheinung oder Offenbarung Lärm zu schlagen, damit der Gott, in seiner natürlichen Stille und Tiefe, dahinter sein eigenstes Wesen haben könne, ohne verrathen zu sein.)

Stellen Sie sich also vor, dass nach langer Schluchtwanderung (streckenweise geschah sie unter dem Schutz eines im Bade geborgten alten Regenschirms!), der Holzsteg in einen größeren Felsvorsprung mündet; dieser liegt noch in der gleichen Dämmerung, über ihm stoßen die steilen Felswände, von beiden Seiten her noch zusammen, wie das den ganzen Weg über meistens der Fall war -, blickt man aber voraus, der Tamina entgegen, - wohin kein Pfad mehr vorwärts führt, - so sieht man sie wieder im freien Sonnenglanz, mit offenem Getös aus sich herstürzen. Die Felsen scheinen wie von Engelshänden auseinander gebogen, oben blaut der Himmel herein, und das reine Gewölk erscheint in blendender Weiße; ein lichter Rand Grüne zeichnet sich glücklich in unerreichbarer Höhe davon ab: ähnlich muss die Welt einem wieder versprochen sein, der aus dem Hades hervorstiege; dieses Blau, dieses Grün, das reine Weiß des Gewölks und, alles verbindend, dieser schwebende Glanz des verweilenden und gespiegelten Lichts: wie neu, wie heiter, wie unübertrefflich und vollzählig erscheint dem aus der Schlucht Aufblickenden dieses große Versprechen des Tags. Flöge oben, im fernen Freien, noch ein Vogel durch, so ergäb’s einen fast erschütternden Ueberfluss.

Da nun, von dieser Plattform aus, die noch im Finstern liegt, über dem dröhnenden Fluss, aber schon, vor sich, den Ausblick hat ins glücklich Offene -, betritt man, durch einen etwa fünfzehn Schritte langen, leicht gekrümmten Felsgang, den Innenraum, darin, hinter einer Brüstung, tiefgelegt, aber das Niveau ab und zu ändernd, die Quelle sich sammelt. Lautlos. Die alte heilsame Quelle. Ihre Wärme und der Dunst ihres Wassers erfüllten den kleinen Gang, der durch da und dort in den Fels gestellte Kerzenreste nothdürftig erleuchtet wird. Dieses Souterrain, nicht eben breiter, als dass einer hinter dem andern tastend weiterkommt, ließ mich an die Felsstollen denken, die sich, meilenweit, unter der ,Petscherskaja Lawra', dem Höhlenkloster von Kiew, hinziehen. Dort ruhen, auf steinernen Lagern, in Nischen, zu denen die engen Gänge sich rechts und links in gewissen Abständen erweitern, heilige Mönche, des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, deren Leiber nicht zerfallen; man berührt ihre aufrecht zum Beten gefalteten Hände, wie die Hände von frommen Schläfern ... (Wie verwandt, fiel mir ein, mögen die Kräfte sein, die aus der Tiefe der Erde heraufwirkend, dort ein Wunder des Todes vollzieh’n -, hier eines versprechen, das, unendlich hülfreich, auf Seiten des Lebens steht!) Es hätte mich nicht gewundert, die von den Kerzen unruhig erleuchtete Quellenstube (in der man das Wasser kosten durfte), als Capelle eingerichtet zu finden (wo wäre ein Ort vorbestimmter für solche Auslegung!) Allerdings zu dieser Stimmung passte wenig die Art des Brunnenwarts, der uns am Eingang der Grotte in Empfang genommen hatte. Dieses ,in Empfang genommen' kann nicht wörtlich genug verstanden sein: wir gehörten diesem Mann, der, gewohnt, mit den meisten Fremden nicht reden zu können, theils weil er ihre Sprache nicht versteht, theils weil der fortwährende Lärm der Tamina jeder Sprache zuvorkommt, die Ausflucht genommen hat, ohne Umschweife ,handgreiflich' mit den Besuchern zu verfahren. Erst zieht er ihnen, in Anbetracht der Dampfbadwärme, die ihnen bevorsteht, Mäntel und sonstige Hüllen ab, auch den sich wehrenden, und zwingt sie später, beim Austritt, mit ebensolcher Gewalt in ihre Ueberzüge hinein. Dann lockt und lenkt er, ebenso zugreiflich, die durch die unerwartete Abschälung verwirrten Gäste in die Finsternis seiner heißen Höhle hinein, mit ,Melker-Händen', wie Iwan Traklov (dem Blick Chodovieckis Ehre machend), in entrüsteter Eingebung, versicherte. Sie sehen ihren empörten Widerstand und wie sie drinnen keinen Tropfen des berühmten Wassers kosten mochte, aus dem von dem trockenen Unhold kredenzten Glas. Mit ihm wieder hinaustretend und von ihm gewaltsam verpackt, suchten wir, über und unter uns, in den Felswänden die alten Balkenlöcher auf, die die Lage der alten und ältesten Badstuben erkennen ließen, jener heroischen Badekammern der früheren Jahrhunderte, die nur vom Felsrand her, mittels Leitern und Stricken erreichbar waren, und in denen der mühsam Herabgelassene dann Tage und Nächte dem Einfluss des Heilwassers überlassen blieb. Auch das ließe sich in einem großen romantischen Sinne ausmalen. Indessen hatte die Nüchternheit und Strenge unseres Führers uns so aufrührerisch gestimmt, dass wir uns geneigt fühlten, mehr die komischen Seiten dieser absonderlichen gemeinsamen Aussetzung zu imaginieren ...

Ich überlasse es, meine lieben Prinzessinnen, Ihrer Jugend und Fröhlichkeit, in dem angedeuteten Sinne fortzufahren. Nachdem ich Ihnen (meinem Versprechen gemäß) einen gründlichen Bericht zugemuthet habe, sollen Sie sich vergnügen, seine Schauerlichkeit und seine tiefsinnigen Vermuthungen, mittels einiger lustiger Vorstellungen, abzuschütteln; womit Sie am Schönsten entlohnen und entlassen

Ihren getreu, für immer ergebenen Rainer Maria Rilke

P. S.: Sechzehn Seiten: verzeihen Sie dem Chronisten seine gewissenhafte Ausführlichkeit. Ueber der Erfüllung seiner Pflicht, ist ihm nicht mal Raum geblieben zur Anfrage nach Ihrer Ankunft. Wir haben Sie weiter in Gedanken begleitet – und nun kann ich mir denken, wie man Sie in Meilen entbehrt! Ich, als ¼ Quartett, bin in Ragaz wirklich einsam und untröstlich zurückgeblieben. Am Abend zähle ich die Alterszahlen der Personen zusammen, mit denen ich tagsüber zusammenkomme ...: Sie glauben nicht, bis zu wievielstelligen Summen ich es bringe! (Ein perfektes Schlafmittel).

Darf ich Sie bitten, Ihren Eltern, wenn auch unbekannter Weise, in aller Ergebenheit empfohlen zu sein.»
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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