Interpretation für "Morgue"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Christoph S.

Interpretation für "Morgue"

Beitrag von Christoph S. »

Erstmal das Gedicht selbst:

Da liegen sie bereit, als ob es gälte,
nachträglich eine Handlung zu erfinden,
die mit einander und mit dieser Kälte
sie zu versühnen weiß und zu verbinden;

denn das ist alles noch wie ohne Schluß.
Wasfür ein Name hätte in den Taschen
sich finden sollen? An dem Überdruß
um ihren Mund hat man herumgewaschen:

er ging nicht ab; er wurde nur ganz rein.
Die Bärte stehen, noch ein wenig härter,
doch ordentlicher im Geschmack der Wärter,

nur um die Gaffenden nicht anzuwidern.
Die Augen haben hinter ihren Lidern
sich umgewandt und schauen jetzt hinein.

Das is die Hälfte von meinem Hausaufsatz (11te Klasse) und ich wär froh wenn mir jemand da ein bisschen helfen könnte (im Sinne von Ideensuche)
Verstanden hab ich bisher soviel, das es um 2 tote Obdachlose geht, die, möglicherweise an einem "wichtigen" Ort (wg der Wächter) gefunden werden und dort zur Schau gestellt werden.
Ansonsten blick ich noch nicht wirklich durch :roll:
Für Literaturhinweise wär ich auch dankbar.
Vielen Dank schomal!
Christoph S.
Gast

Beitrag von Gast »

Das Gedicht 'Morgue' ist in der Sammlung der 'Neuen Gedichte'. Rilke hatte im Juli 1906 das Pariser Leichenschauhaus, in dem unbekannte Tote identifiziert wurden, besucht und wohl kurz danach das Gedicht in der strengen Sonettform (gehört eigentlich zu einem hohen Stil) geschrieben. die Kommentierte Ausgabe weist auch auf das Gedicht 'Leichenwäsche' (1908) hin. Das 'Morgue'-Thema findet sich auch bei den Dichtern der französischen Décadence und den deutschen Expressionisten. Henri Murger schrieb im Vorwort zu 'Die Boheme': "Die Boheme ist die Vorstufe zum Künstlerleben, der erste Schritt zur Akademie (francaise), zum Hospital oder zur Morgue." Seitdem gilt die Morgue nicht nur als Ort der anonymen Toten, sondern auch als Ort der unglücklichen toten Künstler.

In Rilkes Sonett liegen im 1.Quartett, zwei Tote nebeneinander in der Kälte des Leichenschauhauses. Die Toten haben nichts miteinander zu tun, sind zufällig nebeneinander gebettet und ihr Tod ist für fremde Besucher auch nicht in einen ihnen bekannten Schicksalszusammenhang zu bringen. Ein Versuch, Zusammenhänge (zwischen Leben und Tod) herzustellen, der nachträglich unternommen wird, aber kaum gelingt.

Im 2.Quartett ist der Gedanke weitergeführt. Ohne Identifizierung des Toten ist das Leben und sein Fall nicht 'abgeschlossen' . Die Suche nach dem Namen des Toten im Inhalt der Taschen ist ein äußerlicher Vorgang und vermag das tiefere Schicksal der Unglücklichen nicht zu klären. Die Leichenwäscher haben das Gesicht gesäubert, aber der Mund drückt immer noch den Überdruß vor dem bürgerlichen Leben aus (Selbstmord?).

Das 1.Terzett zeigt, dass diese Reinigungsversuche den Charakter der Toten (d.h. deren distanzierte Einstellung zum Leben) noch verstärkt zum Ausdruck bringen, selbst wenn die Angestellten der Morgue glauben, damit Ordnung geschaffen zu haben. Der ordentliche Tote zeigt den Abscheu des Lebens noch stärker und reiner als der vom Zufallsfund noch entstellte.
Der syntaktisch nicht abgesetzte Übergang in das 2.Terzett zeigt (fast eine Pointe), dass die Toten einzig und allein auf die Besucher und deren Erwartungen nach ordentlich präsentierten Toten hin zugerichtet wurden. Die letzten beiden Zeilen unterstreichen: Die Toten haben kein Interesse an Besuchern und Welt mehr. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Blick geht nach innen.

Ich meine, das ist eine radikale Absage an die Welt wie sie ist; man könnte darin auch die Haltung des Dichters selbst gegenüber einer neugierigen, sensationssüchtigen Menge erkennen. Ein Publikum, das ihn nicht versteht, das ihm gleichgültig ist - sein Blick (seine Vision) geht nach innen.

Vielleicht das als Einstieg - ganz ohne Sekundärliteratur. Verbindungen zu anderen Rilke-Gedichte gibt es natürlich jede Menge

Viel Glück bei der weiteren Interpretation
d.u.
Christoph S.

Dankeschön

Beitrag von Christoph S. »

Wow, herzlichen Dank jetz hab ich erstmal was zum schreiben!!!
:D :D :D
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo,

auch im Malte-Roman, der ohnehin viele düstere Impressionen des großstädtischen Lebens (Paris) beinhaltet, ist die Morgue erwähnt: "Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es. (...)" Rilke erzählt von 2 Toten, die möglicherweise gemeinsam in den Tod gegangen sind. Die Textstelle ist recht bizarr, da neben dem fatalistischen Grundton auch schon das orphische Thema anklingt: "Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All zurückgebend, was nur das All erträgt."
Ist vielleicht als Ergänzung für die Interpretation nützlich?!

Viele Grüße M.
Christoph S.

Beitrag von Christoph S. »

Och ich denk das werd ich schon irgendwie unterkriegen :D :D :D
Dankeschön!
e.u.

Beitrag von e.u. »

Ja, die Stelle im 'Malte' ist auch wunderbar. Gut ist dazu der Randkommentar in der (billigen) Ausgabe der Basisbibliothek Suhrkamp (von H.Schmidt-Bergmann), eine Ausgabe, die für Schule usw. wunderbar zu benützen ist.
Von den zwei Totenmasken ist allerdings nur eine aus der Morgue abgenommen:
Es ist die der berühmten 'L'Iconnue de la Seine', die in unzähligen Gipskopien in den bürgerlichen Wohnzimmern der Jahrhundertwende standen (und als Wasserleiche in der Literatur ein langes Leben führt). Inzwischen scheint das Geheimnis der schönen Dame geklärt zu sein (viele Websites dazu!). Die Maske hat 'Malte' allerdings nicht direkt genommen, sondern bei einem Mouleur gesehen.
Die andere Totenmaske ist wohl die von Beethoven.
Aber die verzerrte Totenmaske findet sich auch in 'Der Tod des Díchters' (auch in den 'Neuen Gedichten'), Hintergrund ist wohl ein Malheur, das bei der Abnahme der Totenmaske des Dichters Paul Verlaine (gest.1896) geschah. Auch hier, wie in 'Morgue' am Schluss die Wendung von der Außen- zur Innen-seite. Das ergänzt sich in diesen Gedichten wunderbar.
Aber vielleicht führt das schon weit weg von der Hausaufgabe.

e.u.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo,

danke, e. u., für den Hinweis mit Beethoven. Als "wandelndes Lexikon" bist du unschlagbar! (Und wenn ich dir schon Honig ums M... schmiere: Ich hatte weiter unten unter "An die Erwartete" auch eine woher-stammt-das-Frage gestellt...das kriegst du doch bestimmt auch raus?! )
Die Malte-Stelle ist durch deinen Kommentar für mich noch interessanter geworden: Ich nehme an, Rilke kannte die Herkunft der Masken, dennoch verknüpft er in diesem Abschnitt die beiden Leben/ Tode miteinander: "Er, in dem IHRE Klarheit und Dauer war;" und impliziert die tragische Liebesgeschichte, die über Leid und Tod in den Welten-Gesang des Orpheus mündet. (Dann ist der Name Beethoven soz. die Initialzündung für diese Verknüpfung?) Vielleicht führt das zu weit, aber Rilke hatte wohl unbestreitbar einen Hang die Liebe mit dem Tod zu verbinden bzw. in diesem Fall umgekehrt: 2 Tote in eine Liebesgeschichte zu "betten"...? Auf jeden Fall ist diese Textstelle immer wieder faszinierend.

Liebe Grüße M.
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Volker
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Im ernsten Beinhaus wars ...

Beitrag von Volker »

Goethe, als er Schillers Schädel fand....

http://virtuelleschuledeutsch.at/litera ... _bild1.htm
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Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Volker,

ich bin deiner minimalistischen Einladung zu Goethe (du hast den 1. Platz für den kürzesten Beitrag errungen!) mal gefolgt. Vielen Dank für den Querverweis. Ich könnte mir vorstellen, dass besonders der Schluss

"Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?"

für Rilke Anlass genug hätte sein können, seine ursprüngliche Distanz zu Goethe in Anerkennung zu verwandeln (was er ja auch tat - allerdings, so weit ich weiß, mehr durch die Lektüre eines Briewfwechsels zwischen Goethe und einer Angebeteten).

Viele Grüße M.
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Volker
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Morgue

Beitrag von Volker »

Hallo Marie,

es gab hier schon einmal vor längerer Zeit (im alten Forum) einige Beiträge zu genau diesem Thema (Morgue).
Damals hatte ich auch auf Goethes "Im ernsten Beinhaus wars" hingewiesen. Daran erinnerte ich mich.

Mit diesen Zeilen (und besonders den beiden letzten) sagt Goehte eigentlich alles. Und geht weit über Rilke hinaus. (Bitte, liebe Rilke-Fans, jetzt nicht böse sein)

Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.


:lol: :lol:
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Beitrag von Marie »

Hallo Volker,

ich glaube nicht, dass ein Rilke-Fan darüber böse sein kann. Rilke selbst reagierte sehr oft mit aufrichtiger Begeisterung und absolut neidlos auf herausragende Leistungen anderer Dichter (was z. B. nicht immer auf H. v. Hoffmannsthal oder sogar R. Kaßner zutrifft).
Was das "darüber hinaus gehen" Goethes betrifft, bin ich mir nicht ganz so sicher:

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

Gerade die beiden letzten Zeilen aus "Die Sonette an Orpheus" scheinen mir doch sehr brüderlich verwandt mit den ebenfalls letzten beiden Zeilen Goethes! Natürlich ist das Empfinden immer subjektiv und ich "schwinge" wahrscheinlich mehr mit der Rilke-Frequenz im Einklang, auf jeden Fall wirken Rilkes Worte auf mich noch weitgreifender. Es ist, als würden in ihnen die Saiten verschiedener Daseinsbereiche angeschlagen, während ich Goethe mehr manifest, auf Anhieb rational erfassbar und nicht so vieldimensional erlebe wie Rilke (bitte nicht böse sein, liebe Goethe-Fans!) Ich meine das nicht abwertend, sondern beziehe den jeweiligen Zeitgeist mit ein, der den Dichtern "die Hand führt", so dass die Vorgabe des Einen zur (morphogenetischen?) Grundlage des zeitlich Späteren werden kann (was nicht bedeutet, dass es in jeder Hinsicht nur qualitative Evolutionssprünge gibt; Degeneration ist sicher auch ein Evolutionsprinzip, wenn der Zenit einer Entwicklung überschritten ist).

Viele Grüße M.
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Volker
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Beitrag von Volker »

Wahr gesprochen, Marie!
Ich nehme das "über Rilke hinaus" hiermit zurück. :wink:
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gez. Volker
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