Furor im Hause Zuckerkandl: ein folgenreicher Disput zwischen Weltläufigkeit und Nationalismus

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Georg Trakl
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Furor im Hause Zuckerkandl: ein folgenreicher Disput zwischen Weltläufigkeit und Nationalismus

Beitrag von Georg Trakl »

Der Salon der Bertha Zuckerkandl-Szeps in Wien, in den späten Jahren des 19. und jenen des frühen 20. Jahrhunderts ein bedeutender Treffpunkt für Intellektuelle, Künstler und Bonvivants, war stets von einer Atmosphäre der geistigen Erbauung und des regen Gedankenaustauschs durchdrungen. Doch ein vergilbter Zettel mit einer handschriftlichen Notiz, vermutlich vom damaligen Zeitzeugen Gustav Heckenast verfasst [dies ist jedoch nicht verifizierbar], der vor einiger Zeit als Dachbodenfund im Pfarrhause der Mürzzuschlager Heilandskirche entdeckt wurde, gibt Zeugnis eines unglaublichen Vorfalles, welcher bis dato dem geneigten Publikum - verständlicherweise - nicht bekannt war und seinerzeit vermutlich auch nicht breitgetreten werden sollte. Der Vorfall eines heftigen Streits zwischen unserem verehrten Pater poetas Rainer Maria Rilke und dem damals nur regional bekannten Heimatdichter Peter Rosegger nämlich, der in den Räumlichkeiten dieses Salons entbrannte, bietet einen faszinierenden Einblick in die hitzige Gemütslage und das angespannte Klima jener Zeit.

An einem trüben Winterabend des Jahres 1902 also wurde der Salon Zuckerkandl, wie so oft, von einer bunten Mischung aus Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern frequentiert. Rainer Maria Rilke, der Dichter von tiefgründigen und melancholischen Versen, war gerade in ein intensives Gespräch mit Felix Salten vertieft, als Peter Rosegger, ein Naturdichter aus der Steiermark, gekleidet in Lederhose, Wadenstutzen und Trachtenrock, auf die Gruppe zutrat. Es war die erste Visite in diesem feinen Salon, dennoch stellte der "Waldschulmeister" seine robuste, volkstümliche Haltung, die nicht immer mit der empfindsamen und von Symbolismus geprägten Rilkeschen Weltanschauung und schon gar nicht mit jener der übrigen urbanen Anwesenden kompatibel war, zur Schau.
Der Streit begann beiläufig, als Rilke eines seiner neuesten Poeme zitiert hatte, das von der Einsamkeit und der Seele des Menschen handelte. Rosegger, der vor allem für seine idealisierten Darstellungen des ruralen Lebens und seine oftmals antibürgerlichen Ansichten regional bekannt war, schien von der Tiefe und dem philosophischen Anspruch von Rilkes Werk jedoch eher wenig beeindruckt zu sein. Er äußerte scharf, dass Rilkes Gedicht in seiner Schwere und Introspektion eher einem deutschen Philosophen als einem Dichter ähnlicher Volksnähe wie ihm selbst gehöre. In einem Moment der Überzeugungskraft und vielleicht etwas zu überheblich und forsch, warf Rosegger Rilke vor, die "Wahrheit des Lebens" zu verfälschen und in einer poetischen Blase zu leben, die von der Realität weit entfernt sei. Unaufgefordert zitierte der Steirer nun Zeilen aus seinem letzten Werk, dessen Färbung aber so gar nicht zu den Anforderungen dieses bürgerlichen Salons passen wollte: "Wer sich einen Deutschen nennt und die Heimatsehnsucht kennt und der Völker Freiheit preist, ja, der muss doch fördern und segnen euren Zionistengeist".
Daraufhin entstand heftiges Gemurre in diesem feinsinnigen Kreise, und Rilke, für seine sanfte, aber tiefsinnige Art bekannt, konterte seinerseits mit einer Bemerkung über Roseggers oberflächlichen, ja nationalistischen Umgang mit den "großen Themen des Lebens". Der Ton wurde schärfer; aus einem vermeintlich harmlosen Dialog wurde ein hitziger Disput. Es ging nicht mehr nur um Literatur allein, sondern um die grundsätzlichen Ansichten der beiden Dichter über das Leben, das Universum und die Kunst.
Inmitten der hitzigen Auseinandersetzung, die immer mehr in persönliche Angriffe abdriftete, erhob Rosegger plötzlich eine unerhörte Anschuldigung: Rilke habe Passagen seiner eigenen Werke von älteren Dichtern und Philosophen entlehnt. Rosegger endete seinen Anwurf mit den Worten "Suus cuique crepitus bene olet". Der Vorwurf des Plagiats, so erbittert vorgetragen, besonders aber die Frivolität des rustikalen Zitats ließen den Raum für einen Moment in absolute Stille versinken. Rilke, der ohnehin immer wieder mit den Dämonen der Authentizität und der Herkunft seiner Kunst zu kämpfen hatte, reagierte mit einer Mischung aus Empörung und Verletztheit. Er bestritt vehement diese Anschuldigung und verlangte von Rosegger Satisfaktion.
Die erlauchten Gäste des Salons, darunter auch der geniale Maler Gustav Klimt, der wegen seiner bekannt feinen Beobachtungsgabe als stiller Beobachter in solchen Diskussionen galt, versuchten zunächst zu schlichten. Doch Rosegger, der auf seinem Standpunkt beharrte, und Rilke, welcher tief in seinem Stolz verletzt war, gerieten immer mehr in Rage. Die Atmosphäre im Raum wurde so geladen, dass es kaum noch möglich war, die erhitzten Gemüter zu beruhigen.
Die Situation eskalierte, als die beiden Poeten, vor Zorn bebend, in körperliche Auseinandersetzung gerieten und handgreiflich wurden. Vor allem Rilke, dessen fragile Erscheinung nie darauf hindeutete, dass er zu körperlicher Gewalt fähig sei, geriet außer sich. Es war dann Oskar Kokoschka, der sich als Retter in der Not erwies. Bekannt für seine hitzige Natur und seine immense körperliche Kraft, die er unzweifelhaft als Bildhauer besaß, griff er in den Konflikt ein, um den Streit zu beenden.
Mit einem gewaltigen, fast schon brutalen Stoß schubste Kokoschka Rosegger zur Seite, der dadurch das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Doch die Eskalation schien noch lange nicht zu enden, denn Rilke, von unbändiger Wut über die erlittene Beleidigung gepackt, stürmte auf Rosegger zu. Der Skulptor, in einem neuerlichen Versuch, die Lage zu beruhigen, griff wiederum ein und versetzte jetzt Rilke, der plötzlich wie ein wirbelnder Sturm auf seinen Widersacher losging, einen kräftigen Faustschlag in den Rücken. Dies brachte schließlich auch Rilke zu Boden und setzte dem wilden Treiben schließlich ein Ende.
Der unglaubliche Vorfall hätte jedenfalls fatale Folgen für Zuckerkandls Salon gehabt, wenn nicht sogleich mit kühlem Mute die Bedienten des Hauses eingegriffen hätten. Doch in dem Moment, als der Tumult sich legte, fiel Bertha Zuckerkandl, erschöpft von der Anspannung und der Nervosität, in Ohnmacht. Ihr, die in all den Jahren der kulturellen Begegnungen nie Zeugin eines solch wilden Ausbruchs gewesen war, musste vom zufällig anwesenden Doktor Schnitzler zur Wiederbelebung Riechsalz appliziert werden.
Dieser unglaubliche Vorfall ließ tiefe Spuren zurück. Rilke und Rosegger wurden kurzerhand von Zuckerkandl des Salons verwiesen, wobei Rilke, der tiefer verletzt war, später doch noch eine Entschuldigung von Rosegger entgegennahm (man schrieb den peinlichen Vorfall dem Einflusse des von Zuckerkandl den anwesenden Herren reichlich kredenzten Absinths zu). Der Heimatdichter, der für seine robuste, volkstümliche Haltung bekannt war, fühlte sich in seiner Ehre verletzt und schwor, nie wieder in den Kreis der Intellektuellen rund um Zuckerkandl einzutreten. Dieser Schwur musste von ihm jedoch nie exekutiert werden, die Salonière hatte nämlich eine für die damalige Zeit bemerkenswerte Entscheidung getroffen: der Steirer wurde für immer des Salons verwiesen. Es war eine Entscheidung, die nicht nur den "Waldbauernbuben", sondern den gesamten intellektuellen Kreis der Wiener Gesellschaft erschütterte.
Der Ruf des Salons Zuckerkandl erholte sich jedoch schnell von diesem Zwischenfall. Oskar Kokoschka, der sowohl als Künstler wie auch als Vermittler in diesem Moment agiert hatte, wurde noch lange in den Erzählungen des Salons als derjenige gefeiert, der die Gemüter beruhigte – wenn auch mit den weniger subtilen Mitteln seiner gewaltigen Bildhauerpranken. Trotz dieses dramatischen Zwischenfalls blieb der Salon Zuckerkandl ein unerschütterlicher Treffpunkt der Bohème Wiens, an dem Diskussionen über Kunst, Literatur und die Wissenschaft fortan noch lebhafter und leidenschaftlicher und - vor allem - ohne allzu nationalistisches Gedankengut geführt wurden.

Ich schätze mich glücklich, diesen Bericht dem geneigten Publikum des Rilke-Forums nähergebracht zu haben. Ein eigener Blick auf dieses brisante Schriftstück, das inzwischen nicht mehr auffindbar ist (!), war mir jedoch leider nicht vergönnt, so bin ich auf die durchaus glaubhaften Ausführungen aus dem ohne jeden Zweifel berufenen Munde eines emeritierten Kanonikus dieses obersteirischen Kirchspiels [N.N.], in dessen Besitz sich das Autograph nach seinen eigenen Worten befand, angewiesen. Bitte also um Verständnis, dass ich nicht in der Lage bin, auf Rückfragen bezüglich der Provenienz desselben verbindlich Antwort zu geben.

Georg Trakl jun.
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