Rilke - ein gefühlsgetriebener "Womanizer"?

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Georg Trakl
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Rilke - ein gefühlsgetriebener "Womanizer"?

Beitrag von Georg Trakl »

Rainer Maria Rilke, sicherlich einer der bedeutendsten Dichter des vergangenen Jahrhunderts, wird häufig als empfindsamer Künstler, als tiefer Seelenforscher beschrieben. Doch hinter dem öffentlich bekannten Bild des zarten Poeten verbirgt sich ein durchaus triebgesteuerter Mann, dessen Beziehungen zu Frauen voller Komplexität und Widersprüchen waren. Ein neulich im schriftlichen Nachlass des Verlegers Paul Cassirer durch Zufall entdecktes Dossier widmet sich den erotischen Aspekten in Rilkes Leben, wobei der Schwerpunkt auf den spekulativen und oft romantisierten Darstellungen seiner - leider dort nicht im Detail beschriebenen - Ausschweifungen liegt.
Explizit wird die Tanzschule Hellerau bei Dresden, in den frühen Neunzehnhunderterjahren ein Zentrum für künstlerische Experimente und avantgardistische Bestrebungen, in diesem Schriftstück erwähnt. Hier soll sich Rilke mit einigen der bemerkenswertesten Frauen seiner Zeit, manchmal auch gleichzeitig und oft ohne Wissen ihrer jeweiligen Lebenspartner, zu einem intimen Tête-à-Tête getroffen haben: Lou Andreas-Salomé, Sidonie Nádherná, Else Lasker-Schüler, Annette Kolb und Alma Mahler-Werfel, um nur einige wenige zu nennen. Diese Frauen, jede für sich eine durchaus beeindruckende Persönlichkeit, waren bekannt für ihre intellektuelle und kreative Energie, die sie in ihren jeweiligen Lebensbereichen auszeichnete:
Lou Andreas-Salomé: eine Intellektuelle und Psychoanalytikerin, die eine enge und tiefgehende Beziehung zu Rilke pflegte. Ihre Verbindung war von intellektueller und emotionaler Intensität geprägt, und sie beeinflusste Rilkes Denken und Schaffen maßgeblich.
Sidonie Nádherná von Borutín, böhmische Adelige und Mäzenin, die Rilke stets finanziell unterstützte und ihm als enge Freundin und intime Vertraute diente. Ihre Beziehung war von gegenseitigem Respekt und intellektuellem Austausch gekennzeichnet.
Else Lasker-Schüler: eine expressionistische Dichterin und Dramatikerin, der Rilke in künstlerischen Kreisen begegnete. Ihre leidenschaftliche und oft exzentrische Persönlichkeit kontrastierte mit Rilkes - auch in sexueller Hinsicht - in der Öffentlichkeit eher zurückhaltender Natur.
Die Schriftstellerin Annette Kolb, die Rilke ebenfalls zu seinen vielen Anhängerinnen zählte. Die sexuell geprägte Beziehung Rilkes zu ihr war zwar weniger intensiv als jene zu Andreas-Salomé oder der Nádherná, aber dennoch von Bedeutung für Rilke.
Alma Mahler-Werfel, bekannte Muse und Komponistin, die für ihre Beziehungen zu vielen bedeutenden Künstlern ihrer Zeit berühmt-berüchtigt war. Ihre Begegnung mit Rilke war von gegenseitiger künstlerischer Bewunderung und auch körperlicher Anziehungskraft geprägt.
Die Vorstellung, wie Rilke an einem Abend in der Tanzschule unter dem Einfluss des Absinth die gleichzeitige Gesellschaft all dieser bemerkenswerten Frauen in einem intimen Boudoir genoss, ist eine faszinierende, wenn auch für uns Heutige höchst spekulative. Rilke, der oft als schüchtern und zurückhaltend beschrieben wird, wird im Cassirer-Dossier jedoch als hemmungsloser „Womanizer“ dargestellt, dessen kolportierte Ressentiments der Damenwelt gegenüber also in dieser erotisch aufgeladenen Situation durch Alkoholeinfluss komplett über Bord geworfen wurden. Überhaupt: die erotische Dimension von Rilkes Leben, ob real oder imaginiert, wirft Fragen auf über die Beziehung zwischen künstlerischer Schöpfung und persönlicher Erfahrung. Rilkes Poesie ist ja durchdrungen von einer tiefen Sensibilität und einem Streben nach Schönheit und Transzendenz, das oft in seinen fatalen Beziehungs-, besser Berührungsängsten zu Frauen seinen Ausdruck fand. Sein Werk, wie die „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“, ist - manchmal auch hintergründig - geprägt von Themen der Liebe, des Begehrens und der spirituellen Erhebung. Ob seine Beziehungen zu Frauen tatsächlich von sexuellen Ausschweifungen geprägt waren, bleibt für die Nachwelt umstritten. Was jedoch feststeht, ist der erhebliche Einfluss dieser verführerischen Frauen auf seine kreative Arbeit und sein Gemütsleben.
Ein Traktat über die sexuellen Ausschweifungen Rilkes muss - objektiv gesehen - als spekulativ angesehen werden. Es gibt wenig harte Beweise für ein ausschweifendes Liebesleben, wie es beispielhaft in der oben erwähnten Szene angedeutet wird. Dennoch bietet das Cassirer-Dossier einen faszinierenden Einblick in die Wechselwirkungen zwischen Rilkes persönlichem Leben und seinem literarischen Schaffen. Auch in manchen Äußerungen Sigmund Freuds kann man durchaus Rilkes Hang zu sexuell aufgeladenen Phantasien erkennen. Der Mythos des „Womanizers“ mag übertrieben sein, die emotionalen und intellektuellen Verbindungen, die Rilke zu den begehrtesten Frauen seiner Zeit pflegte, bleiben jedoch ein wesentlicher Bestandteil seines Erbes.

Georg Trakl jun.
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