Ich bin einigermaßen verwundert über diese Deutungen Johannes Heiners:
Johannes Heiner hat geschrieben:
"wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt" - Leid und Klage können sich, wenn der Mensch sich ihnen hingibt, in Freude verwandeln.
Hat/ist Freude nicht zunächst ebensowenig "Gestalt" ("Ding") wie Leid?
Ein Leid, das sich in Freude verwandelt, wird dadurch nicht zum Ding - entschließt sich also eben
nicht zur Gestalt.
und
Johanes Heiner hat geschrieben:
"und jenseits / selig der Geige entgeht." - "Die Geige" steht als Pars pro toto für die Musik. Das verwandelte Leid geht aus der Verwandlung als Musik hervor.
Leid, das sich in (von einer Geige gespielten) Musik verwandelt,
entgeht dadurch nicht der Geige - ganz im Gegenteil. Die Geige geht mit diesem Leid um.
Und sobald es Musik geworden ist, die doch ebenfalls kein "Ding" ist (oder meint Ihr, Musik sei ein Ding?), kann es sich nicht mehr "zur Gestalt entschließen".
Ich denke an das Gedicht "Der Nachbar" aus dem "Buch der Bilder":
- Fremde Geige, gehst du mir nach?
In wieviel Städten schon sprach
deine einsame Nacht zu meiner?
Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?
Giebt es in allen großen Städten
solche, die sich ohne dich
schon in den den Flüssen verloren hätten?
Und warum trifft es immer mich?
Warum bin ich immer der Nachbar derer,
die dich bange zwingen zu singen
und zu sagen: Das Leben ist schwerer
als die Schwere von allen Dingen.
Das Leid der Menschen, von denen Rilke hier spricht,
entgeht nicht der Geige, denn sie zwingen ja die Geige, davon zu singen - und also das Leid in Musik zu verwandeln.
In der IX. Elegie aber heißt es (Hervorhebung fett von mir):
- Ach, in den andern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier
langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.
Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
also der Liebe lange Erfahrung, - also
lauter Unsägliches.
[…]
Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,
wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig
ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest
bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.
Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser,
wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,
dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding -, und jenseits
selig der Geige entgeht. - Und diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
in - o unendlich - in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Vielleicht ist es so zu verstehen:
Leid soll "reine Gestalt" werden.
Wenn wir es in Freude oder Musik verwandeln, schaffen wir uns zwar Erleichterung (was viele Menschen tun), können es dann aber nicht mehr
als solches mitnehmen in den "andern Bezug".
Dennoch geht es in dieser Elegie um Verwandlung: um Verwandlung
in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Rilkes Ding-Gedichte sehe ich als seinen Weg, diese Verwandlung zu "leisten" (wie er selber vielleicht sagen würde).
Was meint Ihr?
Herzlich,
stilz
P.S. @
lilaloufan:
Daß Rilke hier von einer Halsgeige spricht, glaube ich nicht.
Eine Halsgeige ist ein Folterinstrument für
Menschen.
Das Subjekt hier ist aber - wie
helle schon angemerkt hat - das Leid.
Wie könnte man ein Leid mithilfe einer Halsgeige foltern?
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)