Frage zur Ⅸ. Duineser Elegie {„der Geige selig entgehen“}

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lilaloufan
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Frage zur Ⅸ. Duineser Elegie {„der Geige selig entgehen“}

Beitrag von lilaloufan »

Ihr Lieben,
meint „Geige“ hier wirklich pars pro toto «Musik», wie vorgestern in einer Rundfunksendung behauptet wurde?
Ich verstehe unter „Geige“ hier so etwas.
Bevor ich Euch fragte, habe ich probeweise mal in eine KI-Auskunft geblickt. Da kam (nach weniger als einer Sekunde) zu meinem Erstaunen die Antwort: „In Rilkes neunter Duineser Elegie bezieht sich die Metapher ‘der Geige entgehen’ auf die Flucht vor der eigenen Sterblichkeit und dem unausweichlichen Schicksal des Todes. Es geht darum, dem Schmerz und der Vergänglichkeit des Lebens zu entkommen und nach einem höheren Sinn oder einer transzendentalen Wahrheit zu suchen.“ Das ist meiner Deutung dieses Sprachbilds sogar recht nahe. Selbst „klagendes Leid“, wenn ins Ding hinein vergegenwärtigt, ist nicht von der Folter zu fassen. — :wink: Ich will natürlich nicht behaupten, Violinen seien per se Folterinstrumente … *haha*
Sonntagabendgrüße
lilaloufan
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helle
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Re: Frage zur Ⅸ. Duineser Elegie {„der Geige selig entgehen“}

Beitrag von helle »

Die Formulierung, die Geige sei ein »pars pro toto« für die Musik, findet sich bereits in den Erläuterungen von Johannes Heiner aus dem Jahr 2004:
http://www.lyrikrilke.de/index.php?opti ... &Itemid=62

Von wem die These stammt, ist natürlich weniger interessant als die Frage, was an ihr dran ist.

Also etwas vereinfacht die Frage, ob Rilke das konkrete Instrument meint oder die Musik allgemein. Es gibt sicher kein anderes Instrument, das in ähnlicher Weise als Sinnbild der Musik dient. Schwer vorstellbar, daß die Elegie statt von der ›Geige‹ etwa von ›Harfe‹, ›Leier‹ oder gar ›Cello‹, ›Mandoline‹ und wie immer sprechen könnte. Insofern besitzt die ›Geige‹ als Inbegriff besondere Repräsentanz und das legt im Kontext der neunten Elegie nah, daß von ihr nicht als konkretem Instrument oder gar einzelnem Stück die Rede ist.

Auch die „Musik“ ihrerseits ist vermutlich noch ein pars pro toto für ein Abstraktes (»Unsägliches«), das der gegenständlich konkreten Welt der Dinge, ihrer handwerklichen Tradition, entgegensteht, wie immer man dies Gegenüber deuten mag, als Kunst, geistige Welt, reflektierendes Bewußtsein pp.

Nicht, daß damit die dunklen Zeilen:

wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,
dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding -, und jenseits
selig der Geige entgeht


- also nicht, daß diese Zeilen damit erhellt wären, mir zumindest bleiben sie rätselhaft. Die KI-Auskunft ist doch sehr allgemein und Sonntagslyrik-affin. Grammatisch wäre »das klagende Leid« m.E. als Subjekt auf »entgeht« als Prädikat zu beziehen. Das Ding als Gestalt gewordenes Leid, vielleicht als gegenständliche Erinnerung, als Grabstein, Denkmal, Amulett usw. – vielleicht. Denn das bleibt spekulativ und im Faust heißt es so schön: Ein Kerl, der spekuliert, / Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide / Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, / Und rings umher liegt schöne grüne Weide.

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lilaloufan
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Re: Frage zur Ⅸ. Duineser Elegie {„der Geige selig entgehen“}

Beitrag von lilaloufan »

Danke helle für Deine Antwort! Bei dem Poxdorfer (ich kannte Heiners Ideen bisher nicht) lese ich auf der von Dir genannten Seite: „Das verwandelte Leid geht aus der Verwandlung als Musik hervor.“ Na das ist gewagt – wenn nicht gewürgt – gedeutet. Spiele ich den Philister, dann ist „klagendes Leid“ für mich etwas zunächst nicht sinnlich Erfahrbares; ich kann zwar den klagenden Ton hören, das leidvolle Gesicht ansehen, aber für das klagende Leid habe ich nicht einen Sinn — es ist kein Gegenstand, solange es sich (als nur im reflektierenden Bewusstsein vom Menschengeist Erfahrbares) nicht in ein Dingliches hinein zu verwandeln „entschließt“, z. B. zu einem Dasein im gleichnishaften Bild – lassen wir exemplarisch mal den Lamprocapnos spectabilis dafür herhalten, das „tränende Herz“. Und nun also sei dieses Zierkraut gewissermaßen der im Naturzusammenhang stehende Leichnam dessen, was im rein Ideellen einmal ganz lebendig das klagende Leid war. Das klagende Leid starb also in ein stoffliches „Ding“ hinein; was zuvor „Vorgang“ war, wurde „Gestalt“, und der Poet nun kann aus dem pflanzlichen „Ding“ das Bild aus der Seelenwelt wieder erlösen, indem er sich selbst dem „Ding“ (wozu Gestalt wie Name gehört) anverwandelt.
Und damit entgeht dieses – nennen wir es: – «Wesen» dem Folterinstrument. [Ich vermute, lieber helle, dass Du den Link zu der «Halsgeige» nicht angeklickt hast und daher nicht darauf eingegangen bist, dass ich nicht das Musikinstrument hier gemeint vermute, sondern etwas ebenfalls „Geige“ Genanntes, dessen Gebrauch im Anprangern man gerne entgeht.] „Entgehen“ ist ganz sicher etwas anderes als Heiners „Hervorgehen“. Der Grimm zählt jedenfalls nur die Bedeutungen auf: a) unwillkürlich entgeht mir; b) mir entgeht etwas von außen; c) Persönliches entgeht mir; d) entgehen ohne Dativ (i. S. von entkommen). Nichts in der Bedeutung von Herkunft, „Hervorgehen“.
Ob Euch der Blick auf die „Halsgeige“ zu weit hergeholt erscheint, ist mir – aus der Philisterrolle nun wieder herausgeschlüpft – eine wirkliche Frage.

Grüße
l.
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stilz
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Re: Frage zur Ⅸ. Duineser Elegie {„der Geige selig entgehen“}

Beitrag von stilz »

Ich bin einigermaßen verwundert über diese Deutungen Johannes Heiners:
Johannes Heiner hat geschrieben: "wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt" - Leid und Klage können sich, wenn der Mensch sich ihnen hingibt, in Freude verwandeln.
Hat/ist Freude nicht zunächst ebensowenig "Gestalt" ("Ding") wie Leid?
Ein Leid, das sich in Freude verwandelt, wird dadurch nicht zum Ding - entschließt sich also eben nicht zur Gestalt.

und
Johanes Heiner hat geschrieben: "und jenseits / selig der Geige entgeht." - "Die Geige" steht als Pars pro toto für die Musik. Das verwandelte Leid geht aus der Verwandlung als Musik hervor.
Leid, das sich in (von einer Geige gespielten) Musik verwandelt, entgeht dadurch nicht der Geige - ganz im Gegenteil. Die Geige geht mit diesem Leid um.
Und sobald es Musik geworden ist, die doch ebenfalls kein "Ding" ist (oder meint Ihr, Musik sei ein Ding?), kann es sich nicht mehr "zur Gestalt entschließen".

Ich denke an das Gedicht "Der Nachbar" aus dem "Buch der Bilder":
  • Fremde Geige, gehst du mir nach?
    In wieviel Städten schon sprach
    deine einsame Nacht zu meiner?
    Spielen dich hunderte? Spielt dich einer?

    Giebt es in allen großen Städten
    solche, die sich ohne dich
    schon in den den Flüssen verloren hätten?
    Und warum trifft es immer mich?

    Warum bin ich immer der Nachbar derer,
    die dich bange zwingen zu singen
    und zu sagen: Das Leben ist schwerer
    als die Schwere von allen Dingen.
Das Leid der Menschen, von denen Rilke hier spricht, entgeht nicht der Geige, denn sie zwingen ja die Geige, davon zu singen - und also das Leid in Musik zu verwandeln.

In der IX. Elegie aber heißt es (Hervorhebung fett von mir):
  • Ach, in den andern Bezug,
    wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier
    langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.
    Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
    also der Liebe lange Erfahrung, - also
    lauter Unsägliches.
    […]
    Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
    kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,
    wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig
    ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
    als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
    Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest
    bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.
    Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser,
    wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,
    dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding -, und jenseits
    selig der Geige entgeht. - Und diese, von Hingang
    lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
    traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
    Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
    in - o unendlich - in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Vielleicht ist es so zu verstehen:
Leid soll "reine Gestalt" werden.
Wenn wir es in Freude oder Musik verwandeln, schaffen wir uns zwar Erleichterung (was viele Menschen tun), können es dann aber nicht mehr als solches mitnehmen in den "andern Bezug".

Dennoch geht es in dieser Elegie um Verwandlung: um Verwandlung in uns! Wer wir am Ende auch seien.

Rilkes Ding-Gedichte sehe ich als seinen Weg, diese Verwandlung zu "leisten" (wie er selber vielleicht sagen würde).

Was meint Ihr?

Herzlich,
stilz

P.S. @ lilaloufan:
Daß Rilke hier von einer Halsgeige spricht, glaube ich nicht.
Eine Halsgeige ist ein Folterinstrument für Menschen.
Das Subjekt hier ist aber - wie helle schon angemerkt hat - das Leid.
Wie könnte man ein Leid mithilfe einer Halsgeige foltern?
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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