stilz hat geschrieben:lilaloufan hat geschrieben:„Wer ist es, der ‚das Wort‛ diktiert?“ fragst Du. Lass’ mich daraus die Frage bilden: „Wer ist ‚das Wort‛“, das man im Sinne des von Dir hier zitierten Prologs des Johannes-Logos-Evangeliums so leicht sollte zuordnen können.
[…]
Wenn alles gutgeht, wird eine Zeit kommen, in der wir uns in der Nachfolge eines Menschen-Urbilds, des „Menschensohns“ (Υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου), verstehen können, und zwar jenseits aller Religionslehren.
Da möchte ich zurückfragen:
»
jenseits aller Religionslehren« --- wie soll das gehen, wenn Du fragst, »WER
ist ‚das Wort‛«, und es gleichzeitig ganz ausdrücklich mit der zentralen Schrift einer einzigen Religion in Zusammenhang bringst, und nicht auch gleichzeitig mit den Schriften anderer Religionen?
…
…
Jenseits aller Religionslehren, aber – davon bin ich zutiefst überzeugt! – in
jeder einzelnen der Weltreligionen aufzufinden.
Der Dalai Lama, allerdings nicht hier im Rilke-Forum, hat geschrieben:Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. In den Schulen ist Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht. Warum? Weil zum Überleben der Menschheit das Bewusstsein des Gemeinsamen wichtiger ist als das ständige Hervorheben des Trennenden.
Dem Dalai Lama stimme ich - trotz ähnlicher Formulierung nicht zu in seiner Folgerung, dem Ersatz aller Religionen durch „säkulare Ethik“. Es kann Freiheit der Religionen bei deren Vielfalt geben, und das heißt Pluralität ohne Trennendes.
Dennoch ja –„ jenseits aller Religionslehren“ — auch wenn Deine Frage liebe
stilz hier schon etwas zurückliegt (sie wurde dieser Tage an einer anderen Stelle für mich noch einmal aktuell):
Dazu muss ich wohl erläutern, dass das, was ich als Beziehung des Menschen zu Christus verstehe, nicht durch irgendeine „Religionslehre“ charakterisierbar ist. Das konfessionelle Christentum der „christlichen“ Religionen verstellt meinem Urteil nach eine solche Beziehung nur, statt sie noch zu vermitteln, wie das in den ersten achteinhalb Jahrhunderten der abendländisch-christlichen Kulturgeschichte weitgehend noch möglich war, auch noch nach der Konstantinischen Wende um 380, aber seit dem Ende des Ⅸ. Jahrhunderts gewiss nicht mehr. Selbst die hochgeistigen Zeugnisse der Christusverehrung, vor allem in den Künsten, die ihre maßgeblichen Meister durch künstlerische Initiationswege leiteten, haben heute nicht mehr die vermittelnde Kraft für eine solche Christusbeziehung, leider auch Bachs Kantatenwerk nicht mehr; man denke daran, wie kopfschüttelnd Rilke vor Bildern des „Schmerzensmannes“ stand, und wie er allenfalls Bilder gelten ließ wie die des heiligen Franziskus [die ihm bedeuteten, wie ohne die „Lehre“ und ohne den „Mittler“, ohne den Pfaffen, eine I
MITATIO C
HRISTI versucht werden kann. Das sei gesagt, auch wenn die Kirche den kirchenunabhängigen Ordensmann aus Assisi längst annektiert hat]. Und auch die christlich-konfessionellen Kulte sind in diesem Sinne eigentlich nicht christlich, selbst wenn der katholische Ritus bis zum Jahr 1963 noch vieles von dem enthielt, was bis in unsere Zeit für einzelne noch den Blick hin zu Wahrbildern einer Christussphäre eröffnete. Bei entsprechender Andacht wird das auch heute noch möglich sein, aber in einem Bahá’í-Tempel oder in einer islamischen Moschee oder vor einer Buddha-Statue dann doch ebenso wie in einer romanischen Krypta, wieso denn wohl nicht? Muss man denn den Christus-Namen kennen, muss man denn die Lehre – das Wort sei betont! – sich zu eigen machen als Bekenntnis? Nein.
Nun kommt ein Aber, das mir sehr wichtig ist: Die „zentrale Schrift“, das Heilige Buch dieser einen nach Christus benannten Religion, die ein Verständnis der Trinität über zwei Jahrtausende theologisch entwickelt und scholastisch disputiert hat, enthält einen Logos-Begriff, den ich hier nicht als Teil einer nominalistischen Logos-Lehre anspreche, sondern als einen
realen Logos-Begriff. Ob es einen solchen in den zentralen Schriften anderer Religionen gibt, das kann ich nicht wissen; bisher gehe ich davon aus, dass es ihn so in den vorchristlichen monotheistischen Religionen zumindest nicht gibt. Wer aber auf seinem eigenen Weg der Christus-Beziehung zu diesem in der Welt wirkenden Geist-Logos, Logos-Geist, kommt, ob mit oder ohne irgendeine
re-ligio, der wird ihn im Johannes-Prolog wiederfinden, leichter und sicherer vielleicht als z. B. Luther, der mit ihm zunächst gar nichts anfangen wollte. Und er wird Christus, ob Glaubender oder nicht, in dieser Schrift wiederfinden, es sei denn, es liegen in seinem Schicksal Hinderungen, die ihm dieses Wiederentdecken auch dort verwehren. Ich kenne Menschen, einen Islami, (
Ibrahim Abouleish), von Berichten, einen Buddhisten persönlich, die in diesem Sinne nicht trotz, sondern wegen ihrer eigenen Religiosität Christus im Johannesprolog gefunden haben, und sie werden so wenig je zu denen gehören, die sich zu einem Christus-Glauben oder zu einer Christus-Lehre bekennen wie Rilke oder ich. Muss ich denn einer Lehre folgen, um mein MacBook, an dem ich dies tippe, als ein solches zu erkennen? Muss ich an mein MacBook glauben? Ich seh’s doch vor mir, fühle es unter meinen Fingerkuppen. In diesem Sinne, meine ich, hat Rilke an Schwellenerleben, nicht erst in der Agonie seiner todbringenden Krankheit, einen Christus erlebt, den er gerade wegen der Täuschungen über Christus, mit denen die christliche Religiosität behaftet war, die Rilke kennenlernen konnte, nicht mit irgendeinem Namen hätte bezeichnen wollen. Man könnte sogar sagen: Er hat bemerkt, dass er ihn erst in sich erzeugen muss, zum Leben bringen, in der Seele entzünden, im Kunst-Ding-Machen offenbar werden lassen. Vielleicht – nein ich bin dessen sogar gewiss – wird das Religiöse in der Zukunft ohne die Lehren auskommen, nach und nach, je mehr Menschen dieser Christus als der Logos erfahrbar wird – und sei es auf den religiösen Wegen bisheriger Art, auf denen dermaßen Großes hat hervorgebracht werden können, dass es zum Schaden der Menschheit wäre, wenn es nicht weiterhin von Menschen gepflegt würde, jenseits aller Lehren und Namen.
Eigentlich müsste das, was ich hier dem MacBook und dann euch anvertraut habe, noch um einen Punkt ergänzt werden. Den findet ihr in
1. Korinther 13. Aber wer weiß, vielleicht findet ihr ihn auch in „nicht christlichen“ heiligen Büchern. Das würde mich nicht irritieren, sondern freuen! Diese Bücher könnten dann an dieser Stelle christlich sein, ohne dass ein „Christentum“ sie je deswegen für sich in Anspruch nehmen dürfte!
Ich fasse zusammen: Dieser WER ist nach meiner Auffassung in religiöser Haltung erfahrbar jenseits aller Religionslehren. Im Christentum christlicher Kirchen jedenfalls nicht leichter als in anderen Religionen, die von ihm nicht sprechen. Das Christentum selbst kennt ihn von Jahrhundert zu Jahrhundert weniger. Es hat aber in ihm nicht etwa seine Gründung (die liegt Äonen vor der Zeitenwende), sondern seine Zukunft. Jenseits aller Lehre. Jenseits aller Abgrenzung. Vor allem jenseits aller Überheblichkeit. Ich aber kann von ihm am unbefangensten sprechen im christlich überlieferten Vokabular. Es ist das Vokabular des Evangeliums. Einmal werde ich anders sprechen können. Dann werden mir heilige Schriften Zeugnisse sein, an denen ich dieses So-Sprechen messe. Einiges in Rilkes Werk gilt mir schon jetzt als Vorstufe eines solchen Sprechens.
lilaloufan