Ich habe davon erfahren durch einen lesenswerten Aufsatz von Ulrich Greiner („Schönheit muss man lernen“) in der ZEIT № 4 vom 22. Januar 2015, p. 75.Die 17-jährige Tweet-Bloggerin Naina hat geschrieben:Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.
Greiner plädiert – und das ist das Herausragende seiner Argumentation – nicht mit Utilitätsbehauptungen, wie sie Naina angesichts gegenteilig sprechender Erfahrungen ohnehin nicht überzeugen könnten, sondern aus der Sache selbst heraus. Er führt zunächst die nordrhein-westfälischen „Kernlehrpläne“ des Düsseldorfer Kultusministeriums vor, mithin einen Text, an dem eine hochkarätige Expertenkommission gebrütet haben muss. Man kann das nur staunend lesen:
mann ey, voll das krasse gelaber echt! Ich denke an Hermann Hoffmanns „Polit-KlimBim vom Sender Zitrone“, Realsatire vom Feinsten. Loriots Dr. Schnoor <.mp4-Download-Link> konnte es kaum besser: „Ablösung des Mannes bei gleichzeitiger Aktivierung der Frau unter Einbeziehung der Feuchtbiotope in das deutsche Volk als unteilbarer Nation“ diktiert er Herrn Winkelmann als Programm des „Verein zur Integration der Begriffe Karneval und Umwelt in die Frau“, der dann später beinahe hieße: „Verein für Karneval trotz Frau und Umwelt“ oder „Verein für Karneval im Gedenken an Frau und Umwelt“… – na bitte!Ein Elitezirkel von Bildungsverantwortlichen hat geschrieben: „Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben tragen insbesondere auch die Fächer des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeldes im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinaus leisten sie einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Feldern, sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf.“
Ja wenn’s nicht so ernst wär’! Aber zurück zu Greiners Frage. Eine Passage seines Aufsatzes:
Greiner kommt zunächst auf die „Macht des Schönen“ zu sprechen, dann auf die Aggression, die das Schöne hervorruft, und er endet: „Dem Hass auf das Schöne begegnen wir im Vandalismus der Sprayer, die jede renovierte Fassade markieren; in der Wut der Fundamentalisten, die Bildnisse gegnerischer Kulturen in die Luft sprengen. Vielleicht hat es noch nie eine Zeit gegeben, in der das Schöne solcher Verachtung und Wut ausgesetzt war. Schönheit jedoch verlangt von uns, die Welt mit Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zu betrachten. Ob ihr Studium dazu beitragen kann, uns zu besseren Menschen zu machen, wie [der als Giordano Bruno-Forscher hervorgetretene (l.)] Literaturprofessor Nuccio Ordine glaubt, ist ungewiss. Sicherlich macht es uns klüger, und deshalb sind die scheinbar unnützen Schulfächer, die es derzeit schwer haben, so wichtig. Und was Steuern sind, wird Naina früh genug lernen.“Ulrich Greiner hat geschrieben:„Die Erscheinungsformen der Schönheitsidee wandeln sich je nach Kultur und Epoche, ihre Formgesetze aber bleiben dieselben. Das lässt sich erkennen und sollte zentraler Gegenstand schulischer Bildung sein. — Die französische Kathedrale begreift man erst dann, wenn man etwas von der Theologie des Lichtes, die ihr zugrunde liegt, gehört hat; die Kunst der Fuge erst dann, wenn man weiß, was eine Fuge ist; die Bilder Caspar David Friedrichs erst dann, wenn man etwas von ihrer transzendentalen Idee, die zugleich eine politische Dimension hat, versteht. Schönheit als philosophisch-ästhetische Kategorie lässt sich lehren und erlernen. Das ist auch deshalb notwendig, weil die Konsumwelt mit ihren Verheißungen lockt. Was als schön zu gelten hat, zeigen uns die Produzenten, indem sie uns mit Waren versorgen, deren Schönheit mit dem Preis zu- und mit ihrer Marktpräsenz abnimmt. Schön ist nur je das Allerneueste. Näher betrachtet, handelt es sich nur um das Gefällige. Das Gefällige ändert sich, das Schöne bleibt.“
Also, wenn Schönheit verlangt, die Welt mit Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zu betrachten, dann gibt es sie entweder nur noch allzu unverbreitet, oder sie erreicht nicht oft genug, was sie verlangt; da weist Greiners Gedankengang einen Bruch auf und bemüht zudem mit „wichtig“ einen der Nützlichkeit nahen Begriff. — Und doch kann man sein Anliegen nachvollziehen.
Friedrich Schiller weist am Beginn seiner ästhetischen Schrift: „Über Anmuth und Würde“ darauf hin, dass Venus auch dann, wenn sie ihren Zaubergürtel verliehen hat, bleibt, wer sie ist, dass beständige Schönheit mithin keineswegs auf Attribute, die dem Verstand zugänglich sind, angewiesen ist. Mag Schönheit also, wenn man in sie verstehend eintaucht, moralische Kräfte stärken, mag sie uns klüger werden lassen, immer wird von ihr berührt zu sein eigenen Wert haben, auch wenn die ziselierte Beschäftigung mit ihr noch andere Werte ihr entlehnt.
In diesem Sinne um ein „Ziel“ zu wissen wäre also edelstes „Lernziel“ in einem Unterricht, der künstlerische Ästhetik vermittelt. Im Sinne Greiners: Den Wert eines Rilke-Sonetts begreift man erst, wenn man etwas vom Formprinzip des Sonetts versteht und die Idee des Inhalts kritisch bzw. mitempfindend vors eigene Erleben stellen kann?Christian Morgenstern in: „Wir fanden einen Pfad“ hat geschrieben:
- Wer vom Ziel nicht weiß ...
Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt.
Wer vom Ziel nichts kennt,
kann's doch heut erfahren;
wenn es ihn nur brennt
nach dem Göttlich-Wahren;
wenn in Eitelkeit
er nicht ganz versunken
und vom Wein der Zeit
nicht bis oben trunken.
Denn zu fragen ist
nach den stillen Dingen,
und zu wagen ist,
will man Licht erringen:
wer nicht suchen kann,
wie nur je ein Freier,
bleibt im Trugesbann
siebenfacher Schleier.
- »begreifen, was uns ergreift« (Emil Staiger) — gliwi✝ hat es hier oft zitiert.
Ich meine: Ja, aber nicht jetzt, mit „fast 18“. Ich kenne einen Menschen, der heute ein weltweit gefragter Business Manager and Consultant for Social Impact Investments (“do well by doing good“) ist, der hat mit „fast 18“ exzellente Gedichtanalysen geschrieben und hält nun Vorträge, in denen er eine selbst erlebte Pädagogik preist, die ihm die von der deutschen Bildungsministerin propagierten „Alltagsfähigkeiten“ zwar äußerst lebenspraktisch und kreativ vermittelt, aber vor Ende der 12. Klasse allenfalls druckfrei intellektuell-begrifflich abgefragt hat – so dass er bestens und hochmotiviert in lebensweltliche Kompetenzen hineingewachsen ist, ohne dies damals mit „fast 18“ bereits über sich selbst wissen zu können.
Bedeutsamer noch: Wie wäre eine Pädagogik, die nicht nur Gedicht-Verstehen förderte, sondern Gedicht-Hervorbringern zur Entwicklung verhälfe? Nungut, auch die Pädagogik, die Rilke erlitt, hat seinen Weg nicht aufgehalten (oder vielleicht doch?), aber sie muss deshalb nicht als Vorbild gelten in aufgeklärter Zeit. Poetry Slams haben Zulauf, und hin und wieder führt mal eine Selbstinszenierung auf dieserart Plattform zu kurzlebigem Applaus, aber was hilft wirklich weiter, so dass der Strom von Dichten und Denken nicht versiegt, an einer von dessen höchstrangigen Uferpromenaden wir uns mit unserem Forum bewegen?
(aus Beitrag #11293)Der Mensch will nicht bloßer Betrachter, er will nicht reiner Zuschauer den Weltereignissen gegenüber sein. Er will auch aus Eigenem etwas zu dem hinzu erschaffen, das von außen auf ihn eindringt.
Vielleicht gibt Naina, deren Deutschlehrer ich übrigens ein wenig um seine Aufgabe an ihr beneide (was für eine Rhetorik, diese Ellipse am Ende des Tweet!), uns ein Stichwort für ein Jahresthema in 2015?
Christoph