Interpretation "wir lächeln leis"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Wolf
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Interpretation "wir lächeln leis"

Beitrag von Wolf »

Hallo Rilke-Kenner

Wir sind auf der Suche nach einem schönen Gedicht für unsere Hochzeit auf das Rilke-Gedicht "Wir lächeln leis" gestossen. Das Gedicht hat uns in den Bann gezogen, nur können wir den zweiten Teil nicht interpretieren. Kann uns hier vielleicht jemand helfen?

"...Sehn, was die Blüten nicht ertrügen,
was Vögel erst nach langen Flügen
erreichen würden, stellt sich nah
und was am Morgen schon erstarrt
in Stille ist und Gegenwart,
wir kannten es, als es geschah..."

Danke im Voraus und schönen Tag!
Wolf
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lilaloufan
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Re: Interpretation "wir lächeln leis"

Beitrag von lilaloufan »

Hier wenigstens schon mal das ganze Gedicht (aus der frühen, 1897 für Lou Andreas-Salomé geschriebenen Sammlung: „Dir zur Feier“):
  • Wir lächeln leis im Abendwind,
    wenn sich die Blumen schwankend küssen
    und wenn die Vögel müde sind.
    Weil wir nicht mit der Sonne müssen,
    die breit auf flachen Abendflüssen
    aus unsern Wiesentalen rinnt.

    Wir bleiben, und wir sehn die Nacht
    aufwachsen, weit und Wunder werden,
    sehn Berge, Bilder und Gebärden
    viel größer als wir je gedacht.
    Sehn, was die Blüten nicht ertrügen,
    was Vögel erst nach langen Flügen
    erreichen würden, stellt sich nah
    und was am Morgen schon erstarrt
    in Stille ist und Gegenwart,
    wir kannten es, als es geschah…
Auf rilke.de steht nämlich die ganze Sammlung (noch) nicht, aber das Web ist voll mit mangelhaft nachbearbeiteten Scans voller (nicht „nur“ Interpunktions-) Fehler.

Ich habe hier erst ein Mal überhaupt zu „interpretieren“ gewagt, und auch heute will ich nichts ausdeuten und schon gar nicht formale Interpretation betreiben – @Wolf das erwartet Ihr ja auch nicht; Ihr wollt verstehen was da steht, und das kann man einerseits immer nur mit dem Ziel eines „eigenen“ Bildes, andererseits helfen uns die Verstehensversuche anderer, den eigenen Horizont nicht als Verständnisgrenze zu sehen, sondern als eine Art Übergabepunkt für den Ideenvergleich: Während wir also physisch notwendigerweise einen einzigen Standort haben, können wir geistig in den Gedankenländern all derer zu Hause sein, mit denen wir im Austausch von Einfällen und Einsichten sind. In diesem Sinne hier meine Erläuterung, Moutarde de Hesse, ohne jeden Anspruch auf Bestand vor den Literaturexperten hier. Ich probier’ erst gar nicht, überhaupt vom „Lyrischen Wir“ zu sprechen.

Und zur Klarheit beton’ ich gleich: Mein Gedankengang kann gegenüber seinen eigenen Maßstäben korrekturbedürftig sein, aber vor allem ist er eines nicht: Er ist sicher nicht Rainer Maria Rilkes Gedankengang und behauptet auch nicht, das zu sein.

Sieht man uns leise lächeln, während der Abendwind uns umstreicht, so mag man uns fragen: Hat das Lächeln einen Gegenstand zum Anlass (Worüber lächelt ihr?) und: Ist das Lächeln Ausdruck einer Gefühlslage (Warum lächelt ihr?). Über beide Fragen will ich nachsinnen:

Zugleich um uns Lächelnsfähige her sind da noch Wesen der oberen Kreatur-Reiche, die lächeln nicht: die Blumen nicht, weil sie auf empfindenden Innenraum ja ganz keusch verzichten; ihre Berührung rührt uns daher als so ganz reines Bild – und auch die Vögel nicht, denn die haben ihre Lebenskräfte ganz verbraucht in dem seelischen Spannungsfeld zwischen dem sie ständig zittern lassenden Habacht auf die umherschleichende Katze und der ständig gegenwärtigen Begehrlichkeit auf den balzenden Hahn und die Fülle der Saatlager um sie her. Sie also sind ermattet; von den Steinen muss erst gar nicht die Rede sein – wie soll man lächeln unter stetiger Schwere und nichts als dieser?

Wir aber lächeln, denn wir sind die Freien: haben die mineralgleiche Schwere überwinden zu können mit den lebendigen Blumen gemein und den seelischen Atem, der über das bloße Vegetieren hinausführt ins Instinktive, mit den Tieren; ja sogar gegenüber den Gestirnen am Firmament sind wir frei und müssen nicht untertauchen unter die Linie der Lichtschwelle am Bergrücken dort, wo die Sonne dämmernd „unter-“geht, wenn es Abend geworden ist.

In all das, was unsere Menschenseele im Wachen, in von unseren Sinneserfahrungen durchwobenen Bewusstsein, erlebt, spielt die Wesensverwandtschaft mit dem Chor der Naturdinge freilich hinein; da gibt es Imperative: Jede Regung, jede Daseinsäußerung in Flora und Fauna lebt uns Gebundenheit und Gesetz vor – für eine individuelle Labormaus wäre der Biologe nicht zuständig.

Es umweht uns aber ständig Abendstimmung, und unser leises Lächeln zeigt an: Wir wissen, dass es für uns eine Daseinsart und Daseinssphäre gibt, in der die Erlebensdimensionen Zeit (Abendflüsse) und Raum (Wiesentale), die in der Werkwelt den Lauf der Sonne am Himmelsbogen zum Bezugspunkt haben, ihre Bedeutung tauschen und dann gänzlich aufgehoben sind – wir wissen, dass dieses uns so bedeutsame Ich den Schlaf nicht nur übersteht und am Morgen wieder vergegenwärtigt wer wir sind, sondern dass es während der kommenden Nacht reiner als im Tagkostüm der ständig an den Sensationen auch der sozialen Umgebung orientierten Seele sich von Seinesgleichen, von Geist nämlich, umgeben fühlen wird. Nacht für Nacht.

Weil da nämlich die Sympathien und auch die Antipathien schweigen werden, die (beide!) Liebenden das „Wir“ so kurzweilig und so behaglich machen, dass man den Schlaf nicht zur gewohnten Stunde aufsucht, sondern ineinander hinein (und „miteinander“) schläft im Halbwachen. Eros bietet ja Übergängliches: Einander „Erkennen“ in gesteigertem Aufnahmevermögen für die, die wir im Schicksalsbuch darstellen, und zugleich Selbstvergessenheit, rauschhaft wie ein Wechselbad von Trance und Ekstase.

Aber das zieht uns nicht zwingend; da ist noch ein Kulturmoment, den Blume und Vogel nicht kennen: Wir lächeln. Leise, wie Mitwisser des Wahren lächeln.

Und wir bleiben. Bleiben nicht beharrlich über die Zeit – wie ein Besuch, der sich nicht entschließt Abschied zu nehmen, wenn auch alle schon wie die Tiger gähnen. Bleiben nicht träge am Ort – wie der Fels, der die Feuerstürme und Auffaltungen der Erde überdauert. Bleiben WER wir als ICHe sind, ἐντελέχεια.

Und im Bleiben werden wir sehend für die eigentliche Dimension der Dinge, für ihr Wesen, das „uns überragt“. Aus Träumen bringen wir ja manchmal Ahnungen mit davon, wie wir deren Bilderkaleideskop aufgenommen haben mit der Erfahrungsoffenheit, die uns als Kinder eigen war: Wenn ein Kind die Welt bestaunen soll, wenn es Ehrfurchtskräfte erwerben soll, damit es mit den Aufgaben, die auf den erwachsen Gewordenen warten, einmal voll Achtsamkeit und Verantwortung umgehen kann, dann werden wir ihm „die Berge berger und die Flüsse flüsser“ zu schildern haben, wie der Urheber einer weltweit bedeutenden Pädagogik einmal angeregt hat. Unser intellektuell geprägtes Bewusstsein reduziert Berge, Bilder und Gebärden ständig: Der Hugenwald ist dem Geologen Forschungsfeld, dem Tunnelbauer Herausforderung, dem Straßenbauingenieur Gestaltungsgrund, dem Wohnungsbauinvestor Profitversprechen, dem Forstwirt Sorgenkind – jeder sieht ihn anders an; aber im Schlaf ziehen wir den Schleier fort und sehen die Dinge so, wie sie uns im Wachen weder gleichermaßen erschrecken noch gleichermaßen beglücken könnten.

Ganz ähnlich im Lieben:
  • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ist nicht die heimliche List
    dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt,
    dass sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückt?
Gesteigert noch scheint es im konventionellen Erkenntnisstreben, das den Traum so entschieden verachtet wie die Hellsicht – dort wählt man das vergrößernde optische System, aber die gesehenen Wunder bleiben berechenbar (so groß, wie unsere Hypothesen eh gedacht) und enttäuschen zuletzt den, der aus der Erfahrung des Liebens anderes kennt:
  • Und die geschautere Welt will in der Liebe gedeihn.
Dieses liebende Beieinandersein, das ähnelt dem Schlaf, dem Hain,
  • den wir Tag um Tag betreten,
    drinnen Tag um Tag wir beten,
    zueinander tief erwacht.
Da wie dort nämlich erholen sich unsere Augen von dem vielen Unwesentlichen, das sich ihnen im Räderwerk des Alltags aufdrängt. Wir lernen sehen:

Blüten ––– nein, die Pflanzen haben nicht die Aufgabe, in ihren Exemplaren ein Lichtsinnesorgan zu bilden, denn was Augen sehen, das will der Seele Bilder bieten, und für eine Seele hat die Pflanze keinen Innenraum; sobald sie ein wenig dem Seelischen zu nahe kommt, verändert sich ihr Sekundärstoffwechsel: Sie wird giftig. Und schon gar dem Menschen, dem sogar der wehrhafte Wolf ausweicht, kann die Blüte nicht betroffen gegenüberstehen; unerträglich wäre ihr das – sie muss, verwurzelt und an die Standortbedingungen existentiell gekettet, von allem Seelischen unberührt bleiben und erst recht von allem Faszinosum der Idee, denn sie ist ganz deren Abdruck im Kosmos. Man stelle sich vor, die Blüte, Abbild der Sonne, würde Eigensonne werden wollen: Verbrennen müsste sie.

Und die Vögel, die den Atemraum (ἀτμόςσφαῖρα) des Erdorganismus durchstreifen, sie erreichen nach langen Zügen, geleitet von einem „inneren Kompass“ ihren Herkunftsraum, verwandeln unwirtliche Gegenden in mäßig gedüngte und sind Jahr für Jahr Botschafter zwischen zwei einander als geheimnisvoll geltenden Landen. Dromedare, beladen mit Spezereien des Orients, hätte ich zu meiner Kindheit in den 50-er Jahren nicht mehr bestaunt und jubelnder begrüßt als diese Boten des auch der Bilderbuchphantasie unerreichbaren Süden. Was hatten sie nicht alles gesehen, erspürt, an welchen unbekannten Küsten des malenden Interesses hatten sie sich zurechtgefunden, ihre Sinne dabei schulend, bevor sie hier Stätten von Balz und Brutpflege belebten und Urinstinkte weitergaben von Generation zu Generation im nichtendenden Werden. Würde die Leidenschaft des Tiers zu Herzensfeuer, wie es bei uns im moralischen Enthusiasmus erglüht, dann fiele es ganz aus seinem Lebenszusammenhang heraus, mit verheerenden Folgen für es selbst und für sein Ökosystem.

Denn beiden, Blume und Tier, steht nicht zu Gebote, was unsere wechselwirkende Voraussetzung ist zur ethisch intuitiven Handhabung unserer menschlichen Veranlagungen zu Freiheit, zu Liebe, zu weisheitsgeleiteter Erkenntnis. Das Grundgesetz benennt die ihmzufolge unantastbare „Würde des Menschen“, ohne die wir in ständiger Versuchung wären, die Naturwesen erbarmungslos zu knechten oder für sie distanzlos zu schwärmen. Ihr Fundament ist unser Selbstbewusstsein.

Mit diesem stehen wir in der Gegenwart.

Die Blumen, die Vögel, sie zehren von dem, was in sie gelegt ist, sie bleiben, wozu sie veranlagt sind. In dem „nichtendenden Werden“, von dem ich schrieb, ist ihr Leben ein Segment eines Rades; nicht schöpferisch haben sie Anteil an diesem Werden, sie sind Gewordene.

Als Liebende ahnen die Menschen, wie ihr Lieben ein Schöpfungsakt sein kann.

Weit wird die Seele im Sehnen, auch im Geschlechtlichen: Die Nacht „wächst auf“, der Honeymoon-Effekt lässt uns alle Maße überschätzen, Fontänen voller Wunder geschehen: Die Kräfte des Werdens, sie stellen sich nah, füllen uns aus.

Wir werden beseligte „Mitwisser“ dieser Kräfte, haben sie ja verzückt ausgekostet vor der erquickenden Nacht, und wenn wir erwachen, war das in die Nacht hinein im Verschmelzen Erlebte ein Gestern, ist es jetzt unbewegtes Albumbild der Erinnerung. Entspannt und still liegen wir, und was wir in der Schwellen-Stimmung vorm Einschlafen noch im liebenden Aufwallen unseres Blutes erfuhren, das waren die wirkenden Kräfte, denen das entstammt, was wir jetzt, befriedigt, ent-sinnen – aber was die Seele während der Nacht erfuhr, das haben wir im Erwachen ausgelöscht, lassen es Mysterium bleiben. Beides ist Werden-Lassendes, beides kannten wir doch, „als es geschah“.

Soweit – der Versuch sei erlaubt; er heischt weitere.

lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Wolf
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Re: Interpretation "wir lächeln leis"

Beitrag von Wolf »

Hallo lilaloufan

Danke für die ausführliche Antwort auf unsere Frage!
Wir konnten schon das eine oder andere daraus ziehen.

Was meine die Anderen und zum zweiten Teil des Gedichts?

Danke im Voraus und einen schönen Abend
Wolf
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lilaloufan
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Re: Interpretation "wir lächeln leis"

Beitrag von lilaloufan »


  • was Vögel erst nach langen Flügen
    erreichen würden, stellt sich nah …
Vor 54 Jahren schenkte mir eine Tante aus Ostdeutschland eines der drei Südamerika-Bücher von Jiří Hanzelka und Miroslav Zikmund, die mit einem Ungetüm von Tatra T87-Achtzylinder die Welt bereisten, im Gepäck eine Rollfilm-Linhof, eine Mittelformat-Rolleiflex und wohl ein halber Zentner Belichtungsmaterial.

Und heute Nacht, gegen Morgen, war ich im Traum mittendrin, sprachunvermögender Fremdling «bei den Kopfjägern» im Amazonastiefland. Ichweißnichtwieviele Flugstunden weit muss das entfernt sein, sechs Jahrzehnte Zivilisationsentwicklung sind dort wie hier inzwischen geschehen, und ich habe ja nie einen anderen Kontinent betreten – und doch war's hautnah und erregender als das reale Leben, und die schwersüßen Aromen vom Palmenhaus im Botanischen Garten mischten sich mit dem unvergesslich eigenartigen intensiven Geruch der Buchseiten aus volkseigener Druckproduktion.

Soweit ein sehr persönliches Addendum - gepostet vor allem, um den Thread recht gut warm zu halten in diesem unwirtlichen Frühsommer.


Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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