»Schau in den Spiegel« – Shakespeares Sonett № 3

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

»Schau in den Spiegel« – Shakespeares Sonett № 3

Beitrag von lilaloufan »

Das hat mich neugierig gemacht. In meinem Band „Die Gedichte“ sind Rilkes Übertragungen von Shakespeare-Sonetten nicht enthalten.

Es gibt nur zwei: Die des ersten Sonetts ist ja recht bekannt, aber die des dritten ist nur in einem schwer zugänglichen bibliophilen Band zu finden, 1931 als Handschriftfaksimile erschienen mit Holzschnitten von Max Slevogt, fotomechanischer Nachdruck 1975 (das Manuskript wurde im zweiten Weltkrieg beim Brand des Kühlmann-Archivs vernichtet).

Inzwischen ist es im Band VII der Gesamtausgabe aufgenommen, aber leider nicht in der originalen Form.

Biographisch erstaunlich ist ja folgendes: Schon der siebzehnjährige Rilke erhält vom Vater die Werke Shakespeares als Geschenk, ein Jahr später auch die deutsche Ausgabe.

1911 liest er in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung, leiht sich von Elsa Bruckmann 1912 die Heymelsche Ausgabe lange aus, die ihn weit mehr überzeugt. Der Fürstin Marie von Thurn und Taxis zeigt er die Sonette: „…bin ein wenig im Shakespeare gewesen, den ich noch kaum kenne –, aber er ist mir zu sehr Gebirg, zu steil, zu amorph, ich klettere und rutsche und weiß nie, was mir gerade passiert…

Etwa sieben Jahre nach der Heymel-Lektüre muss wohl Rilkes Übertragung entstanden sein:
  • LOoke in thy glaſſe and tell the face thou veweſt,
    Now is the time that face ſhould forme an other,
    Whoſe freſh repaire if now thou not reneweſt,
    Thou doo’ſt beguile the world, vnbleſſe ſome mother.

    For where is ſhe ſo faire whoſe vn-eard wombe
    Diſdaines the tillage of thy huſbandry?
    Or who is he ſo fond will be the tombe,
    Of his ſelfe loue to ſtop poſterity?

    Thou art thy mothers glaſſe and ſhe in thee
    Calls backe the louely Aprill of her prime,
    So thou through windowes of thine age ſhalt ſee,
    Diſpight of wrinkles this thy goulden time.

    But if thou liue remembred not to be,
    Die ſingle and thine Image dies with thee.



    Schau in den Spiegel. Siehe dies Gesicht.
    Zeit ist, dass es ein anderes bereite.
    Jetzt unterschlägst du Welt, wenn du es nicht
    erneust. Und irgendwo kränkst du die ungefreite,

     
    _____mögliche Mutter. Welcher neue Schooß,
    der Schönsten selbst, verweigerte dem Pflug
    Acker zu sein. Wer darf selbstsüchtig groß
    Nachwelt verstelln, als wärs mit ihm genug?

     
    _____Du warst der Mutter Spiegel; in dir sah
    sie sich zurück; ihr Blühn war wieder da.
    So dürftest du, alt und gefältet einst,

     
    _____wie durch ein Fenster sehn, wie schön du scheinst.
    Doch wenn du lebst, versessen, nicht zu sein:
    stirb einzig, und dein Bild geht mit dir ein.
Das sollte hier nicht fehlen.

Grüße in die Runde,
Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
vivic
Beiträge: 101
Registriert: 20. Mai 2010, 03:47
Wohnort: Santa Cruz, California, USA

Re: »Schau in den Spiegel« – Shakespeares Sonett № 3

Beitrag von vivic »

Hochinteressant, Lilaloufan, und ich bin dankbar dass hier auch Shakespeare einmal erwaehnt wird. Ich muss zugeben, dass mir Rilke's Uebertragung beinahe so schwierig zu lesen war, wie der antike Text den du uns so schoen gezeigt hast.

Darf man zum Thema Shakespeare vielleicht auch Rilke's DER GEIST ARIEL anhaengen?

Ich habe es schon oft gelesen, aber nie recht begriffen. Es handelt sich um Prospero's Verzicht auf Zauber, bezogen vielleicht auf Rilke selbst. Aber es ist mir immer unklar wer eigentlich im Gedicht spricht (als "man") und was fuer eine Rolle Ariel spielt. Es waere schoen, wenn jemand hier versuchen wuerde, dieses aufzuklaeren.

Ich gruesse euch alle an der heutigen Sonnenwende; in wenigstens einem Sinn muss es jetzt jeden Tag heller werden. Mag die Sonne uns segnen... on both sides of the Atlantic.

:) :) :)

Vivic

Der Geist Ariel

(Nach der Lesung von Shakespeares Sturm)

Man hat ihn einmal irgendwo befreit
mit jenem Ruck, mit dem man sich als Jüngling
ans Große hinriß, weg von jeder Rücksicht.
Da ward er willens, sieh: und seither dient er,
nach jeder Tat gefaßt auf seine Freiheit.
Und halb sehr herrisch, halb beinah verschämt,
bringt mans ihm vor, daß man für dies und dies
ihn weiter brauche, ach, und muß es sagen,
was man ihm half. Und dennoch fühlt man selbst,
wie alles das, was man mit ihm zurückhält,
fehlt in der Luft. Verführend fast und süß:
ihn hinzulassen -, um dann, nicht mehr zaubernd,
ins Schicksal eingelassen wie die andern,
zu wissen, daß sich seine leichte Freundschaft,
jetzt ohne Spannung, nirgends mehr verpflichtet,
ein Überschuß zu dieses Atmens Raum,
gedankenlos im Element beschäftigt.
Abhängig fürder, länger nicht begabt,
den dumpfen Mund zu jenem Ruf zu formen,
auf den er stürzte. Machtlos, alternd, arm
und doch ihn atmend wie unfaßlich weit
verteilten Duft, der erst das Unsichtbare
vollzählig macht. Auflächelnd, daß man dem
so winken durfte, in so großen Umgang
so leicht gewöhnt. Aufweinend vielleicht auch,
wenn man bedenkt, wie's einen liebte und
fortwollte, beides, immer ganz in Einem.

(Ließ ich es schon? Nun schreckt mich dieser Mann,
der wieder Herzog wird. Wie er sich sanft
den Draht ins Haupt zieht und sich zu den andern
Figuren hängt und künftighin das Spiel
um Milde bittet .... Welcher Epilog
vollbrachter Herrschaft. Abtun, bloßes Dastehn
mit nichts als eigner Kraft: "und das ist wenig.")


Aus: Die Gedichte 1910 bis 1922 (Ronda, Anfang 1913)
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
Antworten