dass die Verzweiflung Fülle ist

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ruth-anna
Beiträge: 1
Registriert: 23. Jan 2007, 20:02

dass die Verzweiflung Fülle ist

Beitrag von ruth-anna »

Liebe Forumsmitglieder!
Wo finde ich den Part, indem beschrieben wird, wie ein Selbstmörder unter der Brücke liegt, und um wieviel besser derjenige seine Kraft hätte nützen könnte, welche er brauchte um sich von allen Bindungen auf der Erdezu lösen und wo Rilke schreibt dass er erfährt, dass auch die Verzweiflung Fülle ist?
Danke im Voraus für eine Antwort
Ruth
sedna
Beiträge: 368
Registriert: 3. Mai 2010, 14:15
Wohnort: Preußisch Sibirien

Re: dass die Verzweiflung Fülle ist

Beitrag von sedna »

An Anita Forrer nach St. Gallen, am 14. Februar 1920:

"Einmal stand ich auf einer Brücke in Paris und sah von ferne auf einer zum Fluß hinunter gemauerten Straße, in Wachstuch eingeschlagen, einen Selbstmörder liegen, den man tot aus der Seine gezogen hatte. Plötzlich hörte ich jemanden neben mir etwas sagen; es war ein junger blonder Fuhrmann in blauer Bluse, ganz jung, rothblond, mit klugem, pfiffig-zugespitzten Gesicht. Am Kinn hatte er eine Warze, aus der ein steifes Büschel rother Haare, wie ein Pinsel, beinahe übermüthig, heraussprang. Da ich mich ihm zukehrte, wies er mit einem Ruck des Kopfes gegen jenen Gegenstand hin, der uns beide beschäftigte, und sagte zwinkernd:'Dites donc celui-là, s'il a pu encore faire ça, il aurait bien pu faire autre chose.'
Ich schaute ihm erstaunt nach, während er schon zu seinem enormen Steinkarren zurückging, denn wirklich: was müßte man nicht alles mit eben jener Kraft leisten können, die nöthig ist, um die starken gewaltigen Bindungen des Lebens zu lösen! Seither weiß ich gewiß, daß auch noch das Schlechteste, die Verzweiflung, nur eine Fülle ist, ein Andrang des Daseins, der sich mit einem einzigen Entschluß des Herzens ins Gegentheil werfen ließe, und wo etwas ganz schwer und unerträglich wird, da stehen wir auch immer schon dicht vor seiner Verwandlung."

(In: Rainer Maria Rilke - Anita Forrer. Briefwechsel. Frankfurt: Insel Verlag 1982, S. 33-34.)

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
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