Der Lesende (Buch der Bilder)

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
DieLesende
Beiträge: 1
Registriert: 26. Okt 2010, 20:44

Der Lesende (Buch der Bilder)

Beitrag von DieLesende »

Der Lesende

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreißen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiß ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles groß.
Dort draußen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur daß ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.

Wie gefällt euch das Gedicht?
Zuletzt geändert von DieLesende am 29. Okt 2010, 21:43, insgesamt 1-mal geändert.
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: Der Lesende (Buch der Bilder)

Beitrag von Harald »

Warum nicht Rilkes Zeitbewegung und Fensterblick in ihrer Konkretheit ernst nehmen, statt gleich ins Metaphorische zu flüchten?
Das Gedicht beginnt mit einem "Nachmittag, mit Regen rauschend" und endet mit einer sternklaren Sommernacht. Die befremdliche Wortverworrenheit wandelt sich zur Klarheit eines entrückten Augen-Blicks. Die Erde (mit dem letzten Haus) rückt an den ersten Stern. Die weiteren Wandlungen lassen sich unschwer aufspüren.
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
Antworten