Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Das ist schnell erklärt: Kidders ist eine presbyterianische Pfarrerin und promovierte Theologin in Ann Arbor, Michigan and hat dutzende einschlägige Publikationen. Rilke hält sie offensichtlich für einen reimenden Theologen, der der religiösen amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muss.
Ich bin anderer Meinung als Ingrid. Wer komplexe Literatur, geschweige denn Lyrik, übersetzt und publiziert (!), ohne Zielsprachen-Muttersprachler zu sein, der muss dilettieren. Und selbst wenn er das ist (wie vermutlich the Reverend Kidders), und mit der Ausgangssprache nicht hinreichend vertraut ist, ist seine Übersetzung Anmaßung. (Auch wenn es Karl Kraus ist, der Shakespeares Sonette ins Deutsche "rettet" und kaum ein Pun erkennt.) Was du zu "perhaps" sagst, wird durch zahllose Beispiele aus der englischen Literatur widerlegt, und wir wollen den betreffenden Autoren doch nicht unterstellen, dass es ihnen am etymologisch motivierten Sprachgefühl fehlt. Du brauchst dir nur Shakespeares Gebrauch von "perchance", das noch wesentlich "hap-piger" den Zufallsaspekt transportiert als "perhaps", in Hamlets notorischem Monolog anzusehen, um zu erkennen, dass "chance" hier nur sehr am Rande eine Rolle spielt. (Im Zusammenspiel der Elemente entsteht etwas, das aus seinen Teilen nicht restlos erklärbar wird. Voll und strecken lässt "vollstrecken" kaum erahnen.)
Wenn wir im Forum oder privat übersetzerisch experimentieren, ist das durchaus inspirierend und erhellend, aber wenn man publiziert, geht's Richtung Rhodos, und dann sollte man springen können, nicht crawlen.
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stilz
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

ich gebe Dir natürlich recht zu "Rhodos", sobald jemand etwas publiziert.
Ich meine jedoch, daß es dann auch wirklich auf das "Saltare" ankommt, auf den aktuellen Sprung selbst, und eben gerade nicht darauf, ob jemand "prinzipiell springen kann", weil er Muttersprachler ist. Da werden wir wohl auch in Zukunft unterschiedlicher Meinung sein.

Zu "perhaps":
Ich hatte ja nicht gemeint, "perhaps" sei ein Wort, das jemand mit Sprachgefühl in der Lyrik überhaupt nicht verwendet. Ich finde nur immer noch, daß es sich als Übersetzung für dieses spezielle Rilke'sche "Vielleicht" nicht eignet.

"Perchance" ist, meinem (natürlich "dilettierenden" :wink: ) Sprachgefühl nach, etwas ganz anderes, eben nicht "hap"-iger.
Das liegt auch am Lautlichen, besser: an dem Gefühl beim Aussprechen des Wortes:
"Per-haps" stolpert für mich in ähnlicher Weise daher wie "hoppla", es fühlt sich so an, als würde man es, kaum ausgesprochen, am liebsten wieder zurücknehmen - ich empfinde dabei sozusagen fehlerhaften Zufall, oder auch Fehlleistung durch Unaufmerksamkeit...
"Perchance" hingegen hat etwas "Zielgerichtetes", der zweite Zischlaut will den Impuls des ersten nicht "zurücknehmen", sondern befördert ihn sozusagen zustimmend weiter --- und dieses Wort drückt für mich also etwas "Schicksalhaftes" aus, von dem man später sagen wird: "Daß das genau so und nicht anders geschehen ist, war mir und meinem Lebensweg genau angemessen." - - -

:D Mir ist sehr bewußt, daß das, was ich da sage, ein subjektiver Eindruck ist. Und ich weiß auch, daß man "Etymologie" normalerweise von der "ideellen Wortbedeutung" her versteht, nicht von der inneren Empfindung des Lautlichen - aber hier im Forum ist hoffentlich Raum auch für solche Überlegungen. :D


Noch einmal meine Frage: Kennst Du eine Übersetzung dieses Gedichts, die Dich befriedigt?

Herzlichen Gruß!

Ingrid (stilz)

P.S.:
Im übrigen schmerzt es mich immer, das Wort "dilettieren" (wie leider allgemein üblich) in so negativer Weise gebraucht zu sehen. Denn wer nicht "dilettiert", wer kein "Amateur" ist in dem, was er tut, der wird es wohl allein deswegen auch nicht gerade besser machen... :wink:
Schillers "Gewissensscrupel" und "Decisum" fallen mir ein:

Gerne dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, _ daß ich nicht tugendhaft bin.

Da ist kein anderer Rath, du mußt suchen sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann _ thun, wie die Pflicht dir gebeut.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Danke, Harald.
Du findest mich einigermaßen sprachlos zu Deinem ersten Passus.

Deine Ausführungen zum Übersetzen und Publizieren hingegen kann ich nicht genug betonen. Trifft genau meine Einstellung. (Auch ich bastel schon mal ganz gern an geborgten Texten herum, und stelle immer wieder fest, wie schnell Fertiges zu Unfertigem werden kann ...)
„Jedenfalls glaube ich ganz entschieden, dass sich Klangliches einer so gewichtigen syntaktischen Entscheidung unterzuordnen hat.“ – Eine bemerkenswerte Forderung.
Der Anfang bei Kidder klingt in der Tat so, als wolle einer bei sanftem Seegang Bötchen fahren gehn. Bei Rilke will einer segeln und rauscht los, weil der Wind geht, – vielleicht gerade weil ein Sturm aufzieht ...
Ganz gleich welches Vielleicht vorne steht – aber es geht beim besten Willen nirgendwo anders: Sehnsucht steht am Anfang, nicht nur vielleicht, sondern als klare Ansage. Und das hat Rilke fein gemacht.
Wenn ein Kidder-Reader lediglich erfährt, was jemand sich und der Welt so alles predigen kann, ohne daß ein wenig Rilke in ihn übergeht - das wär wohl das Papier nicht wert, auf dem es steht. Dann besser noch ein Weilchen Rilke zuhören:

„W a s wissen wir von den Jahreszeiten der Ewigkeit und ob gerade Erntezeit wäre! Wie viele Früchte, die für uns gemeint waren oder deren Gewichte es einfach mit sich gebracht hätte, dass sie uns zugefallen wären, – wie viel solcher Früchte haben neugierige Geister im Reifen unterbrochen, eine voreilige, verfrühte Kenntnis, oft ein Missverständnis, davontragend, um den Preis einer zerstörten (späteren) Erbauung oder Ernährung.“
(an Nora Purtscher-Wydenbruck, am 11. August 1924)

„Aber ich muß schließen, liebe und werte Freunde“ geht’s in dem Brief dann weiter, und dem schließe ich mich an. Hauptsache, ihr lasst euch Rilkes Früchte von keinem madig machen ;)

Sonniger Gruß

Henry Lou
Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Du kennst ja meinen Tick für metaphorische Stringenz, Ingrid. Leider verführt er mich bei diesem Gedicht zu einem Nörgeln, das mich auf eine gelungene Übersetzung nicht besonders neugierig macht. (Das soll jetzt Kidders nicht entlasten.) Wenn ich als harte Erzader durch schwere Berge gehe, dann kann ich kein Ende sehen, weil ich nun eben eine Erzader in der Tiefe schwerer Berge bin. Das ist eine für mich etwas hohl dröhnende Wuchtmetaphorik, mit der ich wenig anfangen kann. Auch so ein kleines poetisches Dogma, aber in einem gelungenen Gedicht darf m. E. das secundum comparationis sich nicht retrospektiv durch das tertium rechtfertigen lassen müssen. Da postuliere ich, dass die Kette so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Das lyrische Ich als kurzsichtige Erzader? Da sträubt sich etwas bei mir.
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Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Holla!

Allmählich nimmt hier etwas Gestalt an – ich weiß nur noch nicht was!
Eigentlich war ich schon weg, weil meine Kompetenzen hier an ihre Grenzen stoßen.
Aber etwas hat mich mit ganzer Wucht hierhin zurück geworfen.
Gewiß war Rilke in erster Linie ein deutschsprachiger Dichter; aber er war gerade dabei, sich eine spezielle Existenz in Frankreich aufzubauen, sich mit dem Französischen auseinander zu setzen, einer Sprache, in der das H in der Aussprache „unsichtbar“ wird, ferner hat er sich zu dieser Zeit in einem Sprachzustand befunden, in dem man in beiden Sprachen oder sogar in ihrem Zwischenraum leben muß --- Und dann sagst Du, Harald, auch noch Erzader – ! Da werd’ ich verrückt!
Denk Dir das H zum Erz dazu ... das ist doch GÖTTLICH !
Ob das nun System hat oder nicht. Ich will um Himmels willen nicht an Deine Theorie rühren, denn es ist ein anderer Zugang, den ich nicht teilen kann, weil ich sonst auf der Stelle die Sprache verlieren würde.
Was Rilke alles in seine Sprache hinein verdichtet hat, folgt meiner Ansicht nach einer eigenen unfassbaren Metaphorik. Und die geht – ich weiß nicht wie – auch genau so kryptisch in mich über, daß mir beim Lesen permanent die Kinnlade herunter klappt.
Und das dann auch noch übersetzen –

Gute Nacht

Henry Lou
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Und gerade denke ich mir auch noch ein H zu Adern, und schon wird’s noch spannender:
Ein haderndes Herz, mit dem Leben, mit Gott, mit fehlenden Hs ... „Man sieht nur mit dem Herzen gut ...“, und wenn einem dann da auch noch was die Sicht verstellt - dann ist wirklich Krise!
Und ans Ende mag ich gar nicht denken, sonst mach ich da noch Hände draus.

H.L.
stilz
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von stilz »

Liebe Henry Lou,

ja. Danke.
Du triffst genau den Punkt, weshalb mir gerade diese Metapher, die Harald so widerstrebt, sehr viel bedeutet.
{Und übrigens auch, weshalb ich die ersten beiden Zeilen der Kidder'schen Übersetzung (einmal abgesehen von meiner Freude, daß sie nicht "perhaps" geschrieben hat) trotz allem verteidigt habe: weil sie von "mountaineous veins" spricht.
(Das mit dem "Lowly God" erschreckt mich allerdings auch; ich hab gestern schon versucht, ihre mail-Adresse ausfindig zu machen, bisher ohne Erfolg; man müßte wohl zumindest ihre Vorbemerkungen zu diesem Buch lesen... immerhin: es ist zweisprachig, der Leser hat also jederzeit die Möglichkeit, ihren Text mit Rilkes Original zu vergleichen...)}

Deine Gedanken zu dem fehlenden "h" im Französischen sind sehr schön - und auch wenn wir wohl niemals wissen werden, ob es wirklich so war: ich habe sofort die Vorstellung eines Menschen, der in Rilkes Gegenwart etwas sagt wie " 'and aufs 'erz" - und so unbewußt mitwirkt an der Entstehung dieser Metapher.

Wenn man nun noch die In-spiration aus 1.Mose 2 hinzunimmt: "Den Atem des Lebens hauchte er in sein Angesicht, und der Mensch wurde zur lebendigen Seele." (Ich bevorzuge hier die - von Haydn vertonte - Übersetzung van Swietens, denn weder im Griechischen noch im Lateinischen ist, wie bei Luther, von der "Nase" die Rede - jaja, immer diese Übersetzer :wink: ) - - -
dann wird deutlich, daß das "Lautliche" nicht immer bloß gefälliger Schnickschnack ist, sondern (mindestens) ebensoviel Bedeutung und Gewicht haben kann wie "syntaktische" Erwägungen, damit die Metaphorik eines Gedichtes schließlich " – ich weiß nicht wie – auch genau so kryptisch in mich über[geht], daß mir beim Lesen permanent die Kinnlade herunter klappt."

:)

Herzlichen Gruß!

stilz
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Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Falls jemand tiefer ins metaphorische Bergwerk eindringen will:
Wolfgang Frühwald: "Der Bergmann in der Seele Schacht. Zu Clemens Brentanos Gedicht "Frühlingsschrei eines Knechts aus der Tiefe".
---
Dass ich nicht missverstanden werde: Metaphorik muss nicht aufgehen wie eine Gleichung, und es gibt gewollte, fruchtbare, furchtbare Bildbrüche, aber bei Rilke flüstert mir gelegentlich ein stirnrunzelndes Teufelchen Zweifel ein. Wenn ich sie mitteile, heißt das aber nicht, dass ich das Unkraut meiner Skepsis im Forum missionarisch säen möchte, auf dass es sich (perhaps) wuchernd verbreite. Das sähe ich ungern.
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Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Was ich gerne säe und sähe sind Rosen, und ihr habt hier Rosen gezogen, und das ist nicht leicht. Die Rose ist eine Blume, die sich nicht mit sich selber verträgt. Dort, wo eine stand, darf keine andre mehr stehn, es sei denn, man tauscht die gesamte Erde aus – und das geht tief!
Und wißt ihr, woran mich dieser Faden noch erinnert?
An „Kristnihald undir Jökli“ („Seelsorge am Gletscher“) von Halldór Laxness (falls gerade jemand etwas mehr über Island erfahren möchte – lesenswert!).
Ein Theologe, der vom Bischof ins isländische Hinterland geschickt wird, um Aufzeichnungen von ominösen Mysterien zu machen, kommt mit seiner Technik nicht zum Erfolg.
Ja, ihr Lieben, auch hier ist Frühling, und meine Phantasie entfaltet ihre Blütenpracht ... aber
kurzum: Ob auf Tonträger, Papier oder gar durch Objektive: Der Versuch, ein Mysterium zu übertragen, muß eben scheitern.

„Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.“
helle
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von helle »

Um noch einmal in eine andere Richtung zu gehen -:

Es ist sicher nicht ohne Reiz, zu zählen, welche Wörter Rilke am häufigsten verwendet, ich glaube, Baudelaire hat mal gesagt, um einen Dichter zu verstehen, muß man darauf achten, welche Wörter er am häufigsten verwendet. Aber die bloße Quantität hat natürlich auch Grenzen. So gibt es Wörter, die Rilke besonders gern oder im besonderen Sinn gebraucht und die man nach verschiedenen Kriterien anführen könnte, nach Wortart, literarischer Gattung, Werkepoche usf., oder auch nach Kombinationen dieser Kriterien, auch das ergäbe ein aussagefähig verbales Profil, ohne daß die statistische Häufigkeit zugrundeliegt, das Gewicht läge auf der bevorzugten Verwendung. Z.B. Adjektive in den frühen Briefen und Versen, »leise« etwa oder »leis’« mit Apostroph, »lieb« oder »ernst« oder »licht« oder »hell«, auch »bange« oder »bang’«, später sagt Rilke gern »genau«, wird ein echtes Lieblingswort. »Unendlich« ist eins der charakteristischsten Rilke-Adjektive, gern auch adverbial gebraucht (das gilt auch für »genau«) oder auch »rein«.

Die in den frühen Gedichten, bis hin zum »Karussell« überaus häufige Konjunktion »und« am Versbeginn könnte man als so ein Key-Wort verstehen. Her im Forum schon mal thematisiert: Rilkes besondere Verwendung des Verbs »leisten«. Sehr charakteristisch, ich kenne keinen Autor, der das Wort so gebraucht wie er. Wertwort der späteren Jahre: »herrlich«, ein gelungenes Gedicht ist so, die einzelne, geglückte Elegie ist »herrlich«.

Und auch motivische Wörter, die sozusagen Problemgehalte bergen, gehören in diesen Kontext, die »Fontäne«, der »Spiegel«, die »Rose«, bis hin zu Rilkes spezieller Ontologie, »Tier« und »Kind«, »Liebende« und »Engel«, geradezu Urworte.

Es gibt sicher auch Arbeiten dazu, Wortfeldanalysen pp., aber da kann ich nicht mit Kenntnis dienen.

Das alles ist natürlich ein bißchen querbeet. An ihren Wörtern sollt ihr sie erkennen. »Vielleicht« :D sind Euch noch andere aufgefallen.

Grüßle, h.
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Ne, helle, jetz nich, ich sitz nämlich gerade ganz tief in dieser Grube.

Denn nachdem es mich nun auch noch ins richtige Bergwerk geführt hat und ich an den Bruchstellen so in den Glanz der Erze vertieft war, ist mir schlagartig klar geworden, was Du meinst, Harald; und das Erz glänzt ja nur, wenn Metall in einer ausreichend hohen Konzentration im Stein vorliegt - und sogar eigene Worte dafür hat man gefunden ... „Bleiglanz“ zum Beispiel.
Erz, wie nennt man noch mal so ein Wort - das heißt, eine Benennung von Dingen, die eigentlich schon Namen haben (ganz simpel gesagt Metall und Stein), zusammen aber anders heißen? Eine andere Form ergeben: Ader im reinen Stein (mein ’erz ’ämmert, Ingrid, und Deine geniale „In-spiration“ fiel mir wieder ein, als bei der Führung auch noch eine mitunter sprachwissenschaftliche Einführung in die moderne Eifeler Höhlenmalerei geboten wurde - kleiner Scherz der Bergleute (Oder waren es „Werkleute“?), allerhand Menschen, Dinge und Getier, die in der Region vorkommen, wie das „Pherd! Mot PH!“ („Perd“, mit eingehauchtem H)
Ja, Harald, rein metaphorisch gefällt mir das Subtile in Deiner Signatur auch besser. Das, was sich in beiden ausdrückt, ist in der Erzader-Metapher martialischer gesagt, aber auch vielschichtig. Sie formte sich eben rund zwanzig Jahre früher als die ausgereifte (um in ähnlichem Sinne noch mal das unterbrochene Reifen der Früchte aufzugreifen). Daher kann ich sie nicht wie Du verteufeln, denn es mäandert Magisches darin herum, das da so ausgesprochen hingehört. Und wie er die Worte am Anfang lautlich zugleich aufmacht und abbricht, klingt für mein Ohr wie seine damalige (überhaupt kein bißchen wissenschaftlich gemeinte) ‚lautliche Umgebung’.
In manchen Gedichten mag es sogar die Entfaltung dieser schonungslosen Weite des Italienischen oder Spanischen (nicht nur am Ende ...) sein, und das hebt solche ‚Problem-Metaphern’ für mich schon wieder himmelwärts ... (Wahrscheinlich ist es immer dasselbe: Die Bilder liegen mir am Herzen, und für einige Gedichte würde ich gar zur Kriegerin im Guten)
Womit ich mir keineswegs anmaßen will, daß Dein Teufelchen in die „ewige Teufe“ abteufen soll, wie der Bergmann sagen würde. Ich will hier nur mein ’erz ausschütten.
Und „piece of solitary ore“ wäre natürlich Quatsch, wenn eine im Stein eingeschlossene Schicht gemeint ist. Das „piece of ore“ lag eben als bereits herausgehämmertes Bruchstück in meiner Hand und dann wieder im Schaukasten.
Der Schatz sehnt sich zwar danach, gehoben zu werden, aber so weit ist es ja noch nicht. Wenn einer durch die engen Schächte gekrochen ist, in denen man in der Tat – wenn man die Grubenlampe verdaddelt hat - im Dunkel eingeschlossen kein Ende sieht, wirkt Kidder sogar wie eine sehr plastische, empirische Umsetzung. Oder erkennt ihr in „piece“ noch eine andere Bedeutung, als Teil/Stück, eine die „weit“ macht? Aber ehrlich gesagt, hab ich bei ihrer Übersetzung gar keine Empfindung und kenne auch die Tiefen des Englischen nicht gut.
Ein Letztes noch: Ein Geologie-Kundiger, der von mir unverhofft in den Genuß dieser Verse gebracht wurde, bezog das „wie Erz allein“ auf die Ader, nicht auf das Ich = einsame Erzader, dieses Ich geht dann wiederum in einer harten Ader durch den Berg (Bild im Bild, in einem Schacht, der so da durch läuft wie abgegrenzte Erzadern auch) Als ich ihn fragte, ob es nicht auch das Ich sein kann, das als Erzader durch den Berg geht, bekam ich zur Antwort: „Wenn ich Sinn sehe, dann nehme ich den naheliegendsten“. Was hab ich gelacht!
Weniger lustig wäre aber eine Irreführung des Ichs durch die Übersetzung!
Hab viel erfahren hier; und falls hier Schicht im Schacht ist (was ich schade fände), gehört das Schlußwort heute Philip Kindred Dick:

„All those moments will be lost in time. Like tears in rain.”
Zuletzt geändert von Henry Lou am 28. Apr 2010, 10:47, insgesamt 1-mal geändert.
stilz
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von stilz »

Lieber helle,

danke für Deinen Versuch, diesen "thread" wieder zum ursprünglichen Thema zu bewegen... :wink:

Es gefällt mir sehr, was Du über "Urworte" bei Rilke sagst.
Eines fällt mir noch ein: "O" - - -
Und natürlich denke ich an "die armen Worte, die im Alltag darben"...


:oops:
Aber wie man sieht, fällt es uns gerade unendlich :wink: schwer, beim Thema zu bleiben:

Liebe Henry Lou,

nur kurz (ich stecke grad in einer ganz anderen "Grube", da bleibt nicht viel Zeit...):
"...wie ein Erz allein":
Für mich bedeutet "allein" hier zweierlei: erstens ist das Erz allein im Sinne von "einsam", weil in seiner Nachbarschaft eben nicht andere Erze sind, sondern Stein.
Zweitens aber: allein (im Sinne von "nur, ausschließlich") ein Erz ist dazu in der Lage, in dieser Weise "durch schwere Berge zu gehen".
Man müßte also wohl darauf achten, daß auch in der Übersetzung "allein" (welches Wort auch immer man dafür nun nehmen will) adverbiell gebraucht ist.

Und noch ad "piece":
Ich stelle mir dabei vor, daß das Erz, um das es sich hier konkret handelt, ein "Repräsentant" aller Erze der Welt ist.
"Alle Erze dieser Welt" - da sind sowohl die gemeint, die "in harten Adern durch schwere Berge gehen", als auch die, die auf irgendeine Weise aus dem Stein herausgelöst wurden, also sowohl das Stück in Deiner Hand als auch das im Schaukasten...
Insofern könnte "piece", wenn man so will, den Blick tatsächlich weiten.

Wie auch immer: das "Gute" an Kidders Übersetzung ist, daß sie in einer zweisprachigen Version erschienen ist, sodaß man jederzeit im Original nachlesen kann.
Wie gesagt, mich würden ihre Vorbemerkungen interessieren; ich hoffe immer noch. daß sie darauf hinweist, daß ihre Übersetzung keineswegs die "einzig richtige", sondern nur eine mögliche Interpretation ist...

Herzlichen Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Liebe stilz, lieber Harald,

da ich Äpfel mit Birnen nicht so einzigartig vergleichen kann, wie Rilke das konnte, habe ich im letzten Beitrag an einer ‚Bruchstelle’ nachbessern müssen, damit Neugierigen nicht der Faden verloren geht (... denn sie wußte nicht, was sie redet). Es wirft aber wieder eine grundsätzliche Frage von mir auf, warum es manchen Dichtern peinlich ist, daß man sehen kann, welche Entwicklung sie durchgemacht haben.
Was mit Werken geschehen soll, die außerhalb des Einflußbereichs ihres Urhebers weiter leben, dafür habe ich ja an anderer Stelle schon Fürbitte „geleistet“ (diese Verknüpfung soll jetzt nicht überheblich klingen).
Das war gestern eine Initialzündung ganz woanders hin. Wirklich mitten ins Herz von (nicht nur Rilkes) Dichtung. Und eins nämlich frage ich mich schon lange: Warum Rilke mir immer, egal was ich lese, wie eine Gebetsmühle dasselbe vorleiert, ohne daß es mir jemals ‚langweilig’ werden würde. Und das ist mir gestern einigermaßen klar geworden, werkgeschichtlich, erdgeschichtlich, zeitgeschichtlich, ingridmäßig.
Eben in völliger Dunkelheit staunend dastehen und nur in Deinem eigenen Licht „Eisenblüte im Tiefen Stollen“ aus dem Stein heraus wachsen sehen, sowas. Überall taucht Rilke auf. Dichtung wird für mich allmählich zum Marianengraben meiner fächerübergreifenden Tauchgänge. Ein herrliches Schweben; und es war, als könnte man an den Erdschichten begreifen, warum die Dichter eines Tages Elegien und Diwane schreiben müssen, und sich dann so darüber freuen können, daß sie ‚rechtzeitig’ fertig geworden sind. Das bedeutet mir unendlich viel. Und jetzt muß ich mich erst mal wieder austarieren. Denn es ist eben noch kein ruhiges Schweben, also nicht wundern, wenn ich an mancher Stelle noch etwas verhaltensauffällig werde.

Dank, Dank!

H.L.
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Und so würde ich die lautliche Umgebung von „unserem“ ’erz beschreiben:

„ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug“,

bereit „zu horchen und zu hämmern Tag und Nacht“

HL
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