Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Harald
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Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

In den Rilke-Blättern 1984 steht zu lesen: "... es ist in der Rilke-Konkordanz
festgestellt worden, daß das Wort »vielleicht« bei Rilke das meistgebrauchte ist."
(Das schließt natürlich Artikel, Partikel u.ä. aus.)

"Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster ...."
Oder eben auch "vielleicht"?
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gliwi
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von gliwi »

Also darauf wäre ich nie gekommen! Ich hätte eher ein Substantiv vermutet. Aber es ist wahr, da gibt es zu viele, die diversifizieren sich je nach Phase."Vielleicht" ist eben ein ganz einmaliges, unersetzbares Wort. Gleich fällt mir dazu "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" ein (obwohl da gar kein vielleicht vorkommt).
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

„Vielleicht war Viareggio anders geworden in den sechs Jahren, vielleicht war es auch voll, vielleicht war es zu kalt, vielleicht ... die Vielleicht vermehrten sich unglaublich, und ich kam mit ganzen Familien, mit Generationen von Vielleicht an, die aber fast alle an der Wirklichkeit starben, die nun begann. Einige siechen noch so hin, aber es geht ihnen schlecht genug.“
An Clara Rilke, Viareggio, 24. März 1903
Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Bei Walther hat es noch "wahrscheinlich" bedeutet:
"vil lihte wird mins mundes lop mins herzen ser".
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helle
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von helle »

Auf welches Textkorpus bezieht sich eigentlich diese Angabe, nur auf die Lyrik, auch auf die Korrespondenz pp?

Gruß, h.
Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Goldsmiths Konkordanz heißt: Rainer Maria Rilke: a verse concordance to his complete lyrical poetry, so dass wir die Briefe ausschließen können.
Falls jemand das nötige Kleingeld hat, bei Amazon 102,00 EUR gebraucht.
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Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Wahrscheinlich hat nur ein einziges Vielleicht die Wirklichkeit überlebt; aber das war fit genug, um wenige Wochen später „Das Buch von der Armut und dem Tode“ zu eröffnen:

„Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,
und alle Nähe wurde Stein.

Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe,
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist Du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.“

Viareggio, 13. April 1903
Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Und was macht diese englische Übersetzerin (Annemarie S. Kidder) aus diesem initialen satzadverbialen Paukenschlag der Unsicherheit?
Like a piece of solitary ore
I may be crawling through mountaineous veins

Ein bedeutungseinschränkendes, unauffälliges Gebrummel.
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Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Oh! Kidding aside, Annemarie S.!
stilz
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

ich begreife Deine Unzufriedenheit. Wenn man ein vertrautes Gedicht in einem fremden Gewand erblickt, hat man wohl immer das Gefühl, das fremde Kleid "sitze schlecht"...

Aber ich frage mich schon auch, wie Du die ersten Zeilen dieses Gedichtes auf Englisch umgesetzt hättest.
Oder ob Du sonst eine Übersetzung kennst, die Dich befriedigt.

Ich finde es zwar auch nicht ganz ideal, aber eigentlich nicht so sehr "bedeutungseinschränkend".
Und ich freue mich, daß sich die Übersetzerin nicht etwa für "perhaps" entschieden hat.
"Like" bietet einen lautlichen Anklang sowohl an "vielleicht" als auch an "likely", wodurch eine Assoziation erweckt wird, die mir sehr gut an den Anfang dieses Gedichts zu passen scheint.
Und das "may be" in der zweiten Zeile tut dann ein übriges...


"Paukenschlag der Unsicherheit", sagst Du - das macht mich nachdenklich.
Ist es wirklich "Unsicherheit", die dieses "Vielleicht" ausdrücken soll? Die darauffolgenden Indikative scheinen mir eine andere Sprache zu sprechen...


Herzlichen Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

Bitte nicht steinigen, aber jetzt muß Matthäus vermitteln:

Rilke zündet kein Vielleicht an „und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind.“ (5,15)

Ja, wie fühlt man sich denn so in der Hand eines Giganten, der gerade dabei ist, Dich, Dein Herz, aus einem harten Block heraus zuhämmern, auf daß es irgendwas werde, Kunst vielleicht ...

„Also laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (5,16)

Henry Lou ;)
Harald
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Harald »

Rilkes "Vielleicht" regiert die ganze Strophe, Kidders "may" ausschließlich "crawling", und dieses "crawling" zeigt, dass sie Rilkes "gehe" auch nicht verstanden hat.
Die zweisilbe Wucht von "Perhaps" scheint mir durchaus angemessen, auch wenn mir die Frage nach meiner Übersetzung nur dann einleuchten würde, wenn hier jemand aus dem Englischen übersetzt hätte. Frau Kidders mag ja eine angeheiratete sein, aber sie maßt sich den Status eines Native an, nicht ich. Jedenfalls glaube ich ganz entschieden, dass sich Klangliches einer so gewichtigen syntaktischen Entscheidung unterzuordnen hat.
P.S.
Wenn ich kein Wissender bin, muss ich mich mit meiner Unsicherheit abfinden.
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Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

„Wer weiß. Ich kann nicht davon reden. Vielleicht. Vielleicht hat man dann alles in sich. Vielleicht giebt es dann nichts, was man nicht in sich hat. Vielleicht ... Möchtest du's, Marie?“
“Daß du ein Künstler wärst? Ich glaube, du bists, Harald.“
“Du irrst dich, Kind. Gewiß! Du siehst das alles zu licht. Du hast so viel Licht in dir für alles. Ich bin es nicht. - Ich hätte es sein können vielleicht. Ich hätte es - bleiben können, obwohl ich es noch nie war.“
(Die Letzten, 1901)

„Rainer“ Zufall, Harald. Ich suchte eigentlich dieses Zitat, zur inzwischen vieldeutigen Unsicherheit von Lebensentwürfen und anderen Bearbeitungen hier vielleicht noch zu sagen:

„Kunst ist Kindheit nämlich. Kunst heißt, nicht wissen daß die Welt schon ist und eine machen. Nicht zerstören, was man findet, sondern einfach nichts Fertiges finden.“
(Im Gespräch, 1898/99)

Etwas verunsichert ...

Henry Lou
stilz
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Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

zuerst einmal:
Harald hat geschrieben:auch wenn mir die Frage nach meiner Übersetzung nur dann einleuchten würde, wenn hier jemand aus dem Englischen übersetzt hätte. Frau Kidders mag ja eine angeheiratete sein, aber sie maßt sich den Status eines Native an, nicht ich.
Nun - ich kenne Frau Kidders nicht, und ich finde nicht, daß sie sich allein dadurch, daß sie es wagt, Rilke ins Englische zu übersetzen, den Status einer Native "anmaßt", wie Du es ausdrückst.
Ich nehme an, Du gehst von der Auffassung aus, man solle stets nur aus einer fremden in die eigene Muttersprache übersetzen und niemals umgekehrt.
Ich teile diese Auffassung nicht. Ich halte es für eine Art Dogma, daß man nur in seine eigene Sprache übersetzen "darf".
Ein "Native", der nur in der Alltagssprache zu Hause ist und keine Ahnung davon hat, was ein Gedicht ist, wird es nicht unbedingt besser machen als ein Nicht-Muttersprachler mit Gefühl für Sprache und für das, was sie auch abseits von "Alltagsinformation" ausdrücken kann (gute Kenntnis der betreffenden Sprache natürlich vorausgesetzt).
Einmal ganz abgesehen davon, daß ich Muttersprachler (sowohl Deutsch als auch Englisch) kenne, die ihre eigene Sprache weit schlechter beherrschen als so mancher Nicht-Muttersprachler:
Die Gedichte Rilkes sind auch für Menschen mit deutscher Muttersprache oft eine ziemliche Herausforderung (wie man ja hier im Forum immer wieder beobachten kann, wenn es um "Interpretation" geht). Und ich halte nunmal das Begreifen des Ursprungstextes für viel wichtiger als das "Native-Sein" in der "Zielsprache".
(Im übrigen wurde ich selber vor einiger Zeit gebeten, einen Text für einen Ausstellungskatalog ins Englische zu übersetzen - die eigentlich dafür vorgesehene "Native" fühlte sich mit diesem wirklich sehr anspruchsvollen Text überfordert... sie hat dann aber die Holprigkeiten meiner Übersetzung wunderbar korrigiert. So ideale Bedingungen hat man halt nicht immer... :) )

Und konkret:
"Perhaps" widerstrebt mir deshalb, weil es mich an "hap" (Zufall) denken läßt.
Und Rilkes "Vielleicht" in diesem Gebet hat für mich mit "zufällig" nicht das Geringste zu tun.

Ich finde dieses Wort in diesem speziellen Fall nicht "verunsichernd", eher im Gegenteil.
(Erst vor kurzem habe ich im Gesangsunterricht darauf aufmerksam gemacht, daß "hoffentlich", ein scheinbar so positives, zuversichtliches Wort, in manchen Fällen geradezu das Gegenteil bedeuten kann: Der Gedanke "Hoffentlich erwisch' ich diesen hohen Ton gut" heißt ja soviel wie: "Ich bin mir gar nicht sicher, eigentlich hab ich keine Ahnung, wie ich das singen soll... Hiiilfeeeee!!!" :wink: )

Ja, Henry Lou, ich stimme Dir zu: Rilkes "Vielleicht" steckt auf einem Leuchter, es ist ein hoffnungsvolles Licht, all seinen Lesern zu leuchten...

Ich versuche, mit Unterstreichungen zu zeigen, was ich meine:

  • Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
    in harten Adern, wie ein Erz allein;
    und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
    und keine Ferne: alles wurde Nähe
    und alle Nähe wurde Stein.

    Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, -
    so macht mich dieses große Dunkel klein;

Um mich herum ist alles dunkel, fühlt sich alles an wie Stein, will mir allen Mut nehmen...
Aber vielleicht ist das, was ich da empfinde, noch nicht alles?:

  • bist Du es aber: mach dich schwer, brich ein:
    daß deine ganze Hand an mir geschehe
    und ich an dir
    mit meinem ganzen Schrein.
Im nächsten Gedicht ist aus der Wurzel "Vielleicht" fast so etwas wie Gewißheit gewachsen:
  • Du Berg, der blieb da die Gebirge kamen, -
    Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
    ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
    und Träger jener Tale der Cyclamen,
    aus denen aller Duft der Erde geht;
    du, aller Berge Mund und Minaret
    (von dem noch nie der Abendruf erschallte):

    Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
    wie ein noch ungefundenes Metall?
    Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,
    und deine Härte fühl ich überall.
Und erst in der folgenden Zeile beginnt etwas wie "Unsicherheit":

  • Oder ist das die Angst, in der ich bin?
    die tiefe Angst der übergroßen Städte,...



Und noch zu Deinem P.S.:
Harald hat geschrieben:Wenn ich kein Wissender bin, muss ich mich mit meiner Unsicherheit abfinden.
Nun - ich meine: wenn ich auch "noch kein Wissender im Wehe" bin (weil ich noch mittendrin stecke und daher daraus noch kein end-gültiges Wissen gewinnen konnte), muß ich dennoch nicht ein "Unsicherer im Wissen um den Berg Gott" sein.

Herzlichen Gruß!

stilz

P.S.: Übrigens möchte ich tatsächlich nur die ersten beiden Zeilen der Kidder'schen Übersetzung ein wenig "verteidigen". Was ich hier gelesen habe, überzeugt auch mich nicht.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Henry Lou

Re: Das häufigste Wort in Rilkes Lyrik

Beitrag von Henry Lou »

@ stilz: Danke für den link.

Bitte:
Hätte vielleicht jemand die Güte, mir (= einigermaßen unwissend) die Übersetzung des Titels zu erklären:

“The Book of Hours: Prayers to a Lowly God” / Rainer Maria Rilke

Finde weder Ursprung noch Worte für den Beititel. (Hier wurde doch nicht etwa der Titel um eine Interpretation ergänzt ...) Allen Ernstes: Was soll das heißen? Und gibt es Bemerkungen von Rilke dazu? In einem Brief vielleicht?

Mit Dankesgrüßen

H.L.
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