Interpretationen von Rilke Gedichten

Rilke-Texte gesucht und gefunden

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Beatrice
Beiträge: 1
Registriert: 17. Nov 2009, 11:48

Interpretationen von Rilke Gedichten

Beitrag von Beatrice »

Über das Gedicht "Sei allem Abschied voran ..." bin ich auf dieses Forum gestoßen und habe mich dann auch gleich registriert, weil ich einfach mehr wissen möchte über diesen Dichter dessen Worte mich so sehr berühren, wenn ich sie auch nicht immer alle (gleich) wirklich verstehe. Meine Mutter, die Rilke Gedichte sehr geliebt hat, ist Anfang dieses Jahres gestorben. Seit dem sind mir im Zuge meines Trauerprozesses viele unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Thema Tod, Trauer, Sterben ... begegnet. Und das Thema läßt mich einfach nicht mehr los: Tod als Tor zum eigentlichen Sein?, abschiedlich leben ......!?!? Daher meine Frage an die TeilnehmerInnen des Forums: wo finde ich Interpretationen - Hintergründe zu Rilke Gedichten? Danke - auch ganz besonders an die GründerInnen des Forums. Herzliche Grüße aus Wien Beatrice
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Interpretationen von Rilke Gedichten

Beitrag von stilz »

Liebe Beatrice,

Deine Zeilen haben mich sehr berührt, als ich sie vorgestern las. Ich wollte sofort antworten - und dann zögerte ich doch. Und je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde ich, was eigentlich ich Dir zu sagen haben könnte...

Als vor einiger Zeit ein innig geliebter Freund ganz unerwartet starb (durch einen Autounfall), da fand ich in Rilkes Schlußstück ausgedrückt, was und wie es geschehen war: "lachenden Munds", "mitten im Leben" - und der Tod wagte "zu weinen mitten in uns"...

Aber das war noch nicht alles: denn ich erlebte, wie nicht nur sein, sondern auch mein Leben sich vollkommen veränderte, von einem Augenblick zum andern, obwohl äußerlich alles seinen gewohnten Gang ging: alles, jede kleinste alltägliche Verrichtung, erschien mir nun wie auf diesen Tod bezogen...

Damals las ich Rilkes Todes-Erfahrung. Und habe darin meine Empfindung genau geschildert gefunden:
  • ...
    Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
    ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
    durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
    wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Ja. Und nicht nur meine Wahrnehmung schien sich verändert zu haben; ich selbst war in einer ganz unerwarteten und inmitten meiner Trauer auch seltsam beglückenden Weise - lebendiger geworden.

  • ...
    aber dein von uns entferntes,
    aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

    uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
    von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
    so daß wir eine Weile hingerissen
    das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.


Und nun, da ich merke, daß (nach etwas mehr als drei Jahren) das "Grün" ringsum wieder zu verblassen droht, weil kein so unmittelbarer Anlaß mehr es "wirklicher" macht - nun lese ich das "Schlußstück" noch etwas anders. Im Sinne eines "Memento mori", im Sinne der Möglichkeit, auch weiterhin "abschiedlich zu leben", wie Du es nennst.

Ich möchte dazu auch noch aus einem Brief zitieren, der mir viel bedeutet - auch wenn er nicht von Rilke ist.
Am 4. April 1787 schreibt Wolfgang Amadeus Mozart an seinen todkranken Vater Leopold:
„…da der Tod /: genau zu nemmen :/ der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit /: sie verstehen mich :/ zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. - ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht /: so Jung als ich bin :/ den andern Tag nicht mehr seyn werde - und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre - und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen Jedem meiner Mitmenschen.“


Liebe Beatrice, ich habe vorhin geschrieben, ich wäre etwas unsicher, was ich Dir eigentlich sagen will - nun weiß ich's wieder:
Du fragst: "wo finde ich...?" - Hier ist der Ort. Herzlich willkommen!

Allerdings findest Du hier wohl kaum "fertige Interpretationen" oder allgemeingültige "Anweisungen", wie Rilke "richtig" zu verstehen sei. Sondern viele Gespräche (in denen Du sicherlich schon ein bisserl gelesen hast), die manchmal Wesentliches berühren, dann auch wieder seltsam abdriften oder versiegen, um vielleicht nach Jahren wieder aufgenommen zu werden - ganz wie im wirklichen Leben halt.

Ich würde mich freuen, wenn Du Deine eigenen Gedanken, Fragen und Empfindungen zu Rilkes Gedichten mit uns teilst und wir miteinander ins Gespräch kommen.

Herzlichen Gruß!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Henry Lou

Re: Interpretationen von Rilke Gedichten

Beitrag von Henry Lou »

Guten Abend Beatrice,

Veränderungen führen zu Rilke, Rilke führt zu Veränderungen ... das klingt mir vertraut. Deshalb möchte ich dazu etwas beisteuern. Zunächst auch mein Mitgefühl zum Tod Ihrer Mutter.
Auch mich hat eine mit einem Rilke-Gedicht verknüpfte Todes-Erfahrung in diesem Jahr letztendlich immer wieder auf diese anregenden Seiten geführt und mich vor kurzem auch zu einer Mitgliedschaft bewogen. (Ich freue mich auf den künftigen Austausch)
Obwohl ich Rilkes Schriften seit meiner Jugend kenne, habe ich sie wiederentdeckt wie alte Briefe, die ich heute anders lese, die mir noch geschlossener erscheinen vor meinem eigenen Hintergrund. Und - ob ich nun alles verstehe oder nicht - eigentlich reicht mir erstmal die Erfahrung, dass Rilke mich immer mal wieder ein Stück begleitet und kein Lebensabschnitt dieses Interesse oder Hingezogensein beenden kann. Diese Erfahrung, meine ich, in diesem Forum schon oft heraus gelesen zu haben, und das ist faszinierend.
Ich muß sagen, die augenfälligsten Interpretationen bieten (stets mit der Bitte um „Güte und Geduld“) seine eigenen Werke. Das Zeitlose bzw. das Wissen um so eine Art universales Verständnis manifestiert sich meiner Ansicht nach schon in seinem Vortrag über Moderne Lyrik am 8. März 1898 in Prag, wo es vorausschauend heißt:

„Sie werden es nicht glauben. Unsere Lyrik hat die Jahre unfreiwilliger
Einsamkeit ohne Demütigung, ohne Annäherungsversuche an die
Tagesmode – ertragen, und ich bin hier, Ihnen zu sagen: sie lebt. Und
ich kann ihnen noch verraten: sie ist gesund, groß und stark.
Deshalb, scheint mir, muß ich zunächst Ihnen und in Ihnen dem
deutschen Publikum für die anhaltende und langwierige Teilnahmslosigkeit
herzlich danken. Denn die Folgen davon sind: dass auf dem
unbeobachteten Gebiet sich nicht nur das Wesen aller Kunst am reinsten
erhalten hat, sondern dass in dieser Stille das Neue geboren wurde,
das Ihnen heimlich und unerkannt, durch das Kunstgewerbe hindurch,
näher kommt: die neue Form. Diesem gegenüber sind die Nachteile
des Verhaltens der großen Menge gering: sie bestehen darin, dass ein
paar junge Leute, denen ihr eigener Name zu leise war, statt guter
Gedichte – von denen ja niemand erfahren hätte – schlechte Dramen und
Novellen geschrieben haben...“

23-jährig, selbstironisch auf sich deutend (den bloßen Nachahmer eines todgeweihten Realismus), ein Niemand, mit sehr feinem Humor auf dem Sprung ins kalte Wasser, (ohne zu wissen, daß es wenig später noch viel kälter werden sollte) – ich dachte, da springe ich mit! Und ich landete erstmal in seinen Briefen. Darin erfahre ich gerade über die inneren Wandlungen, die er sich zu vollziehen auferlegt hat. Ich lese sie als der Prosa anvertraute Hintergründe seiner Lyrik, die sehr tiefe Einblicke zu bieten haben.
Daher abschließend immer meine erste Empfehlung, um mit Rilke auf Tuchfühlung zu gehen (in Ermangelung passenderer Worte ausnahmsweise in die Sprache des Dichters gekleidet):

Rilkes Gedichte und dazu seine Briefe – das gibt eine unglaubliche Summe.

Sie werden staunen!

Henry Lou
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