Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Rilke-Texte gesucht und gefunden

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Minos
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Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Minos »

Gestern griff ich im Forum "Persönliche Briefe" eine Frage auf, die ein anderer Teilnehmer vor drei Jahren aufgeworfen hat, die aber damals nicht beantwortet werden konnte. Ich denke, es ist zweckmässig, die Frage auch in diesem Forum zu deponieren, nämlich:

Woher stammt folgender Text:

„Wenn etwas uns fortgenommen wird,
womit wir tief und wunderbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selber mit fortgenommen.

Gott aber will, dass wir uns wiederfinden,
reicher um alles Verlorene und vermehrt um
jenen unendlichen Schmerz.“


Es würde mich freuen, wenn mir jemand den genauen Ursprung und Zusammenhang dieses Textes mitteilen könnte.
Mit freundlichen Grüssen
Minos
Harald
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Harald »

Zu finden in:
Rainer Maria Rilke, Ruth Sieber-Rilke, ‎Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914, Leipzig: Insel-Verlag 1933, Seite 33. Das Datum des Briefs an die Prinzessin von Schönaich-Carolath ist Paris, 7. Mai 1908:
"Denn wenn etwas uns fortgenommen wird, womit wir tief und wunderbar
zusammenhängen, so ist viel von uns selber mit fortgenommen. Gott aber will, daß wir uns wiederfinden, reicher um alles Verlorene und vermehrt um jeden unendlichen Schmerz."
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
Minos
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Minos »

Herzlichen Dank, Harald, für die präzise Antwort!
Mit freundlichen Grüssen
Minos
Harald
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Harald »

Es lohnt sich vielleicht zu betonen, dass es sich um eine Prosa-Briefstelle handelt, nicht um ein Gedicht. Im Internet geistert leider vielfach das banalere "um jenen" statt korrekt "um jeden unendlichen Schmerz" herum.
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Minos
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Minos »

Besten Dank auch für die Präzisierung. Ich kannte bisher nur die verbreitete "Internet-Version". Die Feinheit bezüglich des "jeden" scheint mir aber wichtig. Sie gibt der Aussage einen tieferen und weiter reichenden Gehalt als der blosse Bezug auf "jenen" Schmerz (und welcher Schmerz wäre gemeint? der Schmerz über den Verlust des nahe stehenden Menschen oder über den Verlust des Teils, der von uns mit fortgenommen wird?). Ich frage mich, was genau Rilke mit dem "jeden unendlichen Schmerz" gemeint haben könnte. Eine Möglichkeit wäre, dass er nicht vom einzelnen konkreten Schmerz spricht, sondern von der Fülle schmerzlicher Gefühle im Zusammenhang mit dem Todesfall, die wir unter dem Eindruck des Ereignisses als eine unüberschaubar grosse, eben "unendliche" Last empfinden. Anderseits kann der Schmerz über den Tod eines nahe stehenden Menschen nicht eigentlich unendlich sein, wenn wir uns nach dem Tod wiederfinden, wie auch Rilke hofft. "Unendlich" werden schmerzliche Empfindungen aber vielleicht dadurch, dass wir Rilke zufolge nach dem Tod, und dies somit für die Dauer der Unendlichkeit, um jeden Schmerz oder anders gesagt: um die Intensität unserer schmerzlichen Gefühle "vermehrt" oder bereichert werden. Aber vielleicht suche ich zu weit. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht?
Mit freundlichen Grüssen
Minos
Harald
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Harald »

„Wenn etwas uns fortgenommen wird, womit wir tief und wunderbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selber mit fortgenommen. Gott aber will, dass wir uns wiederfinden,
reicher um alles Verlorene und vermehrt um jeden unendlichen Schmerz.“
Auf den ersten Blick könnte man glauben, Rilke beim gedanklichen Schwiemeln ertappt zu haben, aber der unendliche Schmerz kann durchaus Teilmenge des Vielen sein, das von uns fortgenommen wird. Mit "jeden" weist er darauf hin, dass sich "unendlicher Schmerz" wiederholen kann, was allerdings stimmiger ist, wenn (unvermeidbar hyperbolisch) unendliche Intensität und nicht unendliche Dauer gemeint ist.
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Harald
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Harald »

Der ganze Brief lautet folgendermaßen:

An Prinzessin Cathia von Schönaich-Carolath
Paris, 17, rue Campagne Première, am 7. Mai 1908

Verehrteste Frau Prinzessin,
seit fünf Tagen bin ich in Paris, und seit vorgestern weiß ich die schwere und bange Nachricht; ich weiß sie nicht allein, sie liegt ganz auf mir in diesen zwei Tagen; ich trug sie mit mir herum, als hätt ich keinen Ort, sie hinzustellen: und so konnte ich Ihnen auch nicht schreiben. Ich weiß nicht, ob ichs jetzt kann. Aber ich habe wenigstens in mir die Gebärde entdeckt, mit der man Großes zu Großem stellt, nicht um das Schwere loszuwerden, das in allem Großen groß und in allem Unbegreiflichen unendlich ist:
sondern um es wiederzufinden, immer an derselben erhabenen Stelle, an der es sein Leben weiterlebt, abgesehen von unserer verwirrten Trauer, über die es maßlos hinauswächst.
So lassen Sie mich Ihnen nur so viel sagen, verehrte und liebe Frau Prinzessin: daß ich die wehe Erfahrung, die auch mir zugemutet worden ist, so groß als möglich zu fassen und zu erleben versuche. Indem ich wehmütig und weh bei den Erinnerungen verweile, in denen die Gestalt des Verewigten mir teuer und lebendig ist, ahne ich schon die Versetzung und Verwandlung jener Beziehung ins Unbedrohte: denn wenn etwas uns fortgenommen wird, womit wir tief und wunderbar zusammenhängen, so ist viel von uns selber mit fortgenommen. Gott aber will, daß wir uns wiederfinden, reicher um alles Verlorene und vermehrt um jeden unendlichen Schmerz.
In dieser Verfassung gehen meine Gedanken inniger denn je nach dem lieben Haseldorf und suchen Sie, verehrte Frau Prinzessin; und die Bitte sucht Sie, daß Sie immer unbedingt rechnen möchten mit der ehrerbietigen und unbegrenzten Ergebenheit
Ihres
RMRilke
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Minos
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Minos »

Der neueste Beitrag von Harald regt mich an, auf einen Brief hinzuweisen, in dem sich Rilke, 15 Jahre später, ebenfalls im Zusammenhang mit einem Todesfall äussert. Es ist der Brief vom 6. Januar 1923 an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy, die ihre Mutter verloren hatte. Die dortigen Ausführungen sind insofern interessant, als sie einen Gedanken vertiefen, der schon im Brief an Prinzessin Cathia von Schönaich-Carolath enthalten ist, aber doch eigentlich meist verloren geht, wenn die Textstelle "wenn etwas von uns fortgenommen wird..." in der Regel losgelöst und als Trostwort zitiert wird. Gerade so aber wollte Rilke sich offensichtlich nicht verstanden wissen:
"Worte ..., können es solche der Tröstung sein? - Ich bin dessen nicht sicher, ich glaube auch nicht recht, dass man sich über einen Verlust von der Plötzlichkeit und Grösse dessen, den Sie erlitten haben, trösten kann oder soll ...", schreibt er an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy. Und weiter:
"Nicht sich trösten wollen über einen solchen Verlust, müsste unser Instinkt sein, vielmehr müsste es unsere tiefe schmerhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die Einzigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres Lebens zu erfahren, ja wir müssten die edle Habgier aufbringen, gerade um i h n, um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern...." Und weiter unten: "Ich werf es allen modernen Religionen vor, dass sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, statt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sich mit ihm zu vertragen und zu verständgen."
Ob man Rilkes diesbezüglichen ausführlichen Erörterungen im Brief beipflichten kann oder nicht, ist eine andere Frage; eindrücklich ist die Entschiedenheit seiner Meinungsäusserung zum Umgang mit dem Tod.
Mit freundlichen Grüssen
Minos
Harald
Beiträge: 230
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von Harald »

Rilke wäre noch unglücklicher mit dem Begriff "Trauerarbeit" geworden, der ihm in der frühen Texten der Psychoanalyse sogar begegnet sein könnte. Wie deutsch ist das zu glauben, man könnte Trauer "ableisten" oder "erledigen", um anschließend zum Feierabend überzugehen. Dank an Eckhard Henscheid, der das Wort in sein "Dummdeutsch. Ein Wörterbuch" aufgenommen hat und auf den von Karl Kraus erfundenen "Trauerschmock" verwiesen hat.
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lilaloufan
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Re: Wenn etwas uns fortgenommen wird...

Beitrag von lilaloufan »

Ja. Trauer ist für Rilke niemals Aufhebung der Bestürzung, Beruhigung der Trostsuche, Bewältigung von Verlust. Hier eine berührende Briefstelle, die genau das anspricht, wovon Bowlby und Nachfahren (bei all deren Verdiensten um die Aufhebung des Thementabus „Sterben“) m. E. nichts ahnen: «Was (…) den Einfluss des Todes eines nahe stehenden Menschen auf diejenigen betrifft, die er zurücklässt, so scheint mir schon seit lange, als dürfte das kein anderer sein als der einer höheren Verantwortung; überlässt der Hingehende nicht sein hundertfach Begonnenes denen, die ihn überdauern, als Fortzusetzendes, wenn sie einigermaßen ihm innerlich verbunden waren? Ich habe in den letzten Jahren so viele nahe Todeserfahrungen erlernen*) müssen, aber es ist mir keiner genommen**) worden, ohne dass ich nicht die Aufgaben um mich herum vermehrt gefunden hätte. Die Schwere dieses Unaufgeklärten und vielleicht Allergrößten, das nur durch ein Missverständnis in den Ruf gekommen ist, willkürlich und grausam zu sein, drückt uns (so mein ich immer mehr) gleichmäßiger und tiefer ins Leben hinein und legt uns die äußersten Verpflichtungen auf die langsam wachsenden Kräfte.»***)

Rilke wusste um die Mitwirkung der Verstorbenen bei diesen Aufgaben der Lebenden, die letztlich jenes Antlitz der Erde vorbereiten helfen, das den Wiederkommenden einmal bewillkommnende und entwicklungsförderliche oder eben lastende, behindernde oder gar lebensfeindliche Umgebung sein wird.

Gesunde Trauer heißt wohl, durchdrungen von dieser aus wechselwirkenden Daseinssphären getragenen Verantwortung zu leben.****)

Christoph

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*) durchaus nicht: „erleiden“!
**) dasselbe Wort wie in dem Brief an Prinzessin Cathia von Schönaich-Carolath!
***) aus: Brief an Elisabeth Freiin Schenk zu Schweinsberg, 23. September 1908
****) Bei Wera Ouckama Knoops Tod treten in Rilkes Äußerungen ganz ähnliche Gedanken auf, s. Posting # 6883, aber auch die hier zitierte Passage aus "dem" Hulewicz-Brief.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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