You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Rilke-Texte gesucht und gefunden

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Barbariska
Beiträge: 1
Registriert: 8. Aug 2009, 11:51

You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von Barbariska »

Liebes Forum!
In diesem Gedicht von Mary Oliver (2008), das mir sehr gefällt, wird angeblich Rilke zitiert mit den Worten "You must change your life" (Du musst Dein Leben ändern). Kennt jemand die Rilkequelle für dieses Zitat? Würde mich sehr interessieren!

Herzlichen Dank und viele Grüße / Barbariska.

Invitation

Oh do you have time
to linger
for just a little while
out of your busy

and very important day
for the goldfinches
that have gathered
in a field of thistles

for a musical battle,
to see who can sing
the highest note,
or the lowest,

or the most expressive of mirth,
or the most tender?
Their strong, blunt beaks
drink the air

as they strive
melodiously
not for your sake
and not for mine

and not for the sake of winning
but for sheer delight and gratitude—
believe us, they say,
it is a serious thing

just to be alive
on this fresh morning
in this broken world.
I beg of you,

do not walk by
without pausing
to attend to this
rather ridiculous performance.

It could mean something.
It could mean everything.
It could be what Rilke meant, when he wrote:
You must change your life.
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von stilz »

Liebe Barbariska,

willkommen im Forum!

Diese fünf Worte sind die letzten im ersten Gedicht des "Anderen Teils" der "Neuen Gedichte", hier findest Du es: Archaischer Torso Apollos.

Was würdest Du sagen: ist Rilkes "Du mußt dein Leben ändern" dasselbe wie das, was auch Mary Oliver meint?

Herzlichen Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von Harald »

Ein Bild des Torso und 10 englische Übersetzungen finden sich hier:
http://www.wordswordswords.us/poetry/
---
Kritische Anmerkung zu Rilkes Gedicht:
Auf das Thema bezogen und im engeren Kontext des Kandelabers halte ich "zurückgeschraubt" für einen lexikalischen Fehlgriff. (Es ist mir wohl bewusst, dass es den Eichbaum nicht stört, wenn sich die Säue an ihm scheuern, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie sich grundlos scheuern.)
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von lilaloufan »

Peter Matussek wies in einem Vortrag am 18.06.2005 in der Humboldt-Universität Berlin auf diesen Umstand hin (publiziert auf seiner Website): Unter Kandelaberverstand man im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit nicht Kerzenständer, sondern Gaslampen, die zu bestimmten Uhrzeiten "zurückgeschraubt" wurden. Vgl. Steiner, Uwe: Hermeneutik, «zurückgeschraubt» – Einige Bemerkungen zur Zeit der Dichtung und zum Widerspruch des Ästhetischen am Beispiel von Rilkes 'Archaischer Torso Apollos'. In: Peter Rau (Hg.): Widersprüche im Widersprechen. Historische und aktuelle Ansichten der Verneinung. Festgabe für Horst Meixner zum 60. Geburtstag; Frankfurt am Main Berlin u. a. 1996, S. 66–77.

Auf der genannten englischsprachigen Site ist ein grober Fehler, indem da als erstes Verb des vierten Verses nicht «ausbrechen», sondern «bringen» steht - und prompt gespenstert der sinnentstellende Lapsus sogar durch Übersetzungen…
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

bei aller Berechtigung von Kritik, auch wenn sie am Eichbaum geübt wird... also, das begreife ich jetzt nicht, wieso gerade "zurückgeschraubt" ein "lexikalischer Fehlgriff" sein sollte.
Ich denke bei "Kandelaber" an einen Leuchter, der nicht nur Kerzen, sondern auch Öl- oder Petroleumlampen tragen kann. Wie ich sehe, sieht auch Wikipedia es ähnlich.
Ich habe selbst eine kleine Petroleumlampe (wenn ich sie auch so gut wie nie leuchten lasse); da wird der Docht "zurückgeschraubt", um sie zu "dimmen" oder ganz auszulöschen...

Allerdings die englischen Übersetzungen haben das nicht alle erkannt: "turned another way" heißt etwas ganz anderes; ob man "back-screwed" sagen kann, weiß ich nicht, kommt mir ein bisserl merkwürdig vor; immerhin "turned down low" oder auch "set lower but not dead" treffen ganz gut, was ich bei Rilkes "zurückgeschraubt" empfinde...

Herzlichen Gruß

Ingrid

P.S.: Oh - Christoph, gerade sehe ich Deine Gaslampen, na sowas... :D
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von Harald »

Dem Torso fehlt das Haupt, aber er glüht wie ein Gaslampen/Edisonlampen-Kandelaber, bei dem aber nun der Torso der Lampensockel wäre und gerade nicht das, was glüht. Das Zurückschrauben der Gas- oder Stromzufuhr (auch damals schon bei Säulenkandelabern!) ist schon ein sehr spezielles technisches Detail, das für mich jedenfalls die Rechtfertigung der Verfremdung im Zusammenhang mit einem antiken Torso schuldig bleibt.
Der wesentliche Grund, warum mich das Gedicht trotz einzelner Schönheiten insgesamt nicht überzeugt, ist die mangelnde Stimmigkeit und Überfrachtung der Metaphorik:
1. Augenäpfel reifen (Frucht)
2. Der Torso glüht wie ein Kandelaber (Gaslampe)
3. Das Schauen hält sich zurückgeschraubt (s.o.)
4. Der Bug der Brust (Schiff) blendet (gerade war's noch glühen)
5. Wer dreht die Lenden, wessen Lächeln geht zur fehlenden Mitte?
6. Der durchsichtige Sturz der Schultern (da passe ich)
7. flimmernde Raubtierfelle (Tier)
8. bräche aus wie ein Stern (Vulkan im Hintergrund)
9. Der Torso sieht seinen Betrachter (aber die Augenäpfel waren im Haupt).
Ein bisschen viel für ein Sonett. Das ist eine metaphorische olla potrida, die durch den unerwarteten Schlussappell nicht retrospektiv legitimiert wird.
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

zuerst möchte ich hinweisen auf diesen thread, da gab es schon einmal ein Gespräch über dieses Gedicht.
Ich stehe auch heut noch zu dem, was ich damals sagte... mit dem Unterschied, daß ich mich heute frage, ob es sich beim betreffenden Torso vielleicht gar nicht um die Plastik eines antiken Künstlers handelt, sondern um ein Werk Rodins (weiß das jemand?).
Harald hat geschrieben:6. Der durchsichtige Sturz der Schultern (da passe ich)
Ich denke dabei an den baulichen Begriff "Sturz", also etwa wie Türsturz, Fenstersturz... und das scheint mir zu dem zu passen, wie die Schultern, wie nach obenhin abschließend (ich trau mich nicht "schützend" zu sagen, denn dann fragst Du womöglich "wovor?", und ich weiß keine konkrete Antwort... :wink: ), über dem restlichen Rumpf stehen...

Aber Du hast natürlich recht, es scheint ziemlich "durcheinander" zu gehen mit den Metaphern.
Nun - aber ist es nicht so, daß Rilke hier nicht bloß einen geformten Stein beschreibt, sondern das, was (in seinen, Rilkes, Augen) mit diesem Stein "eingefangen" ist?

Ich beziehe mich mit dem Wort "eingefangen" auf eine Stelle aus Antoine de Saint-Exupérys Aufsatz "Wirklichkeit und Kunstwerk", da heißt es:
Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben:… Was überträgt man überhaupt, wenn man seinen Gedanken Ausdruck verleiht? Was ist das Wesentliche? Dieses Wesentliche scheint mir von dem verwendeten Rohstoff ebenso verschieden, wie sich das Schiff einer Kathedrale von dem Haufen Steine unterscheidet, aus dem es hervorging. Es kommt einzig darauf an, die Beziehungen der äußern oder innern Welt zu erfassen, herauszustellen und zu übermitteln. Die „Struktur“, wie die Physiker sagen würden.

Ein Kunstwerk gleicht einer Falle: welche Beute hat es eingefangen? Die Beute ist von andrer Wesenheit als die Falle. Man denke nur an den Erbauer von Kathedralen: er hat sich der Steine bedient und daraus das Schweigen gestaltet.
Das wahre Buch ist wie ein Netz, bei dem die Wörter die Maschen bilden. Auf die Natur der Maschen des Netzes kommt es wenig an. Von Bedeutung ist nur die lebende Beute, die der Fischer vom Grunde der Meere heraufgeholt hat, das quecksilbrige Aufblitzen, das man zwischen den Maschen leuchten sieht…
Dieses "Wesentliche", das man in einem plastischen Kunstwerk zu erkennen meint, in Worte zu fassen, also sozusagen das Medium zu wechseln, ist ein schwieriges Unterfangen.
Wenn der Leser davon ausgeht, daß nur Früchte reifen, nur Münder lächeln und nur Augen sehen können, dann wird es natürlich noch viel schwieriger...

Ich bin mir dessen bewußt, daß ich dazu neige, das "Wesentliche", das aus einem Gedicht zu mir spricht, höher zu schätzen als die "Äußerlichkeiten" - ganz wie St.Ex. sagt: Auf die Natur der Maschen des Netzes kommt es wenig an.
Das ist sicherlich, literaturwissenschaftlich gesehen, ein Manko...
Aber es kann doch auch nicht "richtig" sein, sich von den "Maschen des Netzes" so sehr abschrecken zu lassen, daß man das "Wesentliche" gar nicht erst anschaut...

meint

Ingrid
(die damit wirklich nicht "Rilke-Hagiographie" betreiben will! Ich freu mich über diese Diskussion, und auch über jede andere Meinung!)
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
Beiträge: 343
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von helle »

Mich stören die diversen Bildbereiche nicht so, obwohl der Einwand mir einleuchtet. Ich glaube aber, so etwas wie Haralds Mängelliste ist etwas Retrospektives. Erst hat man einen mehr oder minder diffusen Eindruck von so einem Text, dann versucht man ihn in der Reflexion einzuholen, sie ist immer der zweite Schritt. Rilkes Anthropomorphismus macht, daß man die Logik nicht so auf die Goldwaage legt – für ihn ist dieser Torso lebendig, das ist eine Setzung, die der Kindlichkeit seines Gemüts entspricht oder entspringt. Darum glüht und glänzt und blendet und flimmert’s hier so heftig, plus Lächeln und Drehen der Lenden pp., und ein bißchen tut vielleicht der Reimzwang noch hinzu. Der Torso ist eine Projektionsfläche, wie im Traum wechselt die Perspektive ständig zwischen Beobachter und Beobachtetem, es ist eigentlich ein Beobachtungsverwandlungsgeschehen, hui, das ist ein Wörtchen. Darum vielleicht das Überbordende der Assoziationen. Ich muß so etwas familiär sagen, für mich haut es die letzte Zeile raus, sie ist mein Mantra seit, na, dreißig Jahren. Die Figur lebt, wir sind bloß Schatten, die Kunst ist das einzig Wahre, das echt absolut Reelle. Hätte ich die Kraft, mein Leben wirklich zu ändern, wäre ich imstande zu glauben, was ich sage. :D

Grüßle, h.
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Beobachtungsverwandlungsgeschehen

Beitrag von stilz »

helle hat geschrieben:... für ihn ist dieser Torso lebendig, das ist eine Setzung, die der Kindlichkeit seines Gemüts entspricht oder entspringt.

Lieber helle,

ich hätte es nicht als "Kindlichkeit des Gemüts" bezeichnet, was Rilke dazu befähigt (wenn man es denn als "Fähigkeit" ansehen will), diesen Torso als "lebendig" zu erleben. Denn ist es nicht gerade das, was der Bildhauer versucht hat, darzustellen: etwas Lebendiges, einen lebendigen Menschen, bzw einen lebendigen Gott in Menschengestalt?

Ich freu mich, daß die letzte Zeile dieses Gedicht für Dich "raushaut" :lol:, ja, daß Du sie sogar als Dein langjähriges "Mantra" bezeichnest. Für mich ist es ein bisserl anders: ich habe, als ich vor zwei Jahren durch Ute darauf aufmerksam wurde, in diesem Gedicht und in dieser Zeile etwas wiedererkannt, das schon bisher mein Leben begleitet hatte, wofür ich aber bis dahin noch keine Worte gefunden hatte.

Und noch:
helle hat geschrieben:Die Figur lebt, wir sind bloß Schatten, die Kunst ist das einzig Wahre, das echt absolut Reelle. Hätte ich die Kraft, mein Leben wirklich zu ändern, wäre ich imstande zu glauben, was ich sage. :D
Gilt Dein letzter Satz nicht vor allem in seiner Umkehrung?
Wäre ich imstande zu glauben, was ich sage, hätte ich die Kraft, mein Leben wirklich zu ändern.

Ich denke an den ersten Korintherbrief... "... und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte..."
Oh - und nun denke ich nochmal an die "Kindlichkeit des Gemüts", Du hast natürlich ganz recht --- jetzt erst fällt mir Matthäus 18,3 ein: "Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen."

:D
Ich danke Dir für diese Gedanken!

Herzlichen Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
Beiträge: 343
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von helle »

Die Umkehrung gefällt mir sehr gut, vielen Dank! Daß der Bildhauer versucht hat, »etwas Lebendiges, einen lebendigen Menschen, bzw einen lebendigen Gott in Menschengestalt darzustellen«, fällt mir schwer zu glauben, aber man weiß ja nie. Den Gott lebendig darzustellen, aber ohne Zweifel.

Gruß, liebe stilz
von helle
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von stilz »

:lol: :lol: :lol:
...man weiß ja nie... aber Du hast ganz recht: an Rabbi Löw und den Golem hatte ich ja nun doch nicht gedacht...
:lol: :lol: :lol:
Lieben Gruß!
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von Harald »

Das wahre Buch ist wie ein Netz, bei dem die Wörter die Maschen bilden. Auf die Natur der Maschen des Netzes kommt es wenig an. Von Bedeutung ist nur die lebende Beute, die der Fischer vom Grunde der Meere heraufgeholt hat, das quecksilbrige Aufblitzen, das man zwischen den Maschen leuchten sieht.
Saint-Exupérys Carnets liegen auf meinem Nachtkästchen, und es freut mich
ihn zitiert zu sehen, ohne dass der in Poesiealben erstickte kleine Prinz herhalten muss, aber die Netzmetapher, wie Saint Ex. sie hier einsetzt, ist nicht ganz schlüssig. Denn wäre es so, wie er es darstellt, wäre es gleichgültig, wie dicht gewebt oder aus welchem Material das Netz ist, die Beute wäre allein die Verantwortung des Lesers. Dann wäre es aber gleichgültig, ob ich ein Ganghofer- oder Grishamnetz, ein Flaubert- oder Döblinnetz, ein Gelegenheitskitsch- oder ein Rilkenetz hochziehe. Einspruch euer Ehren!
Das Netz ist außerdem immer ein historisches Netz. Man muss seine Funde schon sorgfältig sichten, damit das Aufblitzen nicht auf einem Missverständnis beruht. Das zeigt der Kandelaber hier so gut wie es die klirrenden Fahnen bei Hölderlin verdeutlichen. E.D. Hirsch hat m. E. unwiderleglich aufgezeigt: "meaning is of a willed type", sonst könnte "My car has run out of gas" eben auch bedeuten, dass mein Auto aus einer Gaswolke herabgeregnet ist. Mit anderen Worten, die Netzstruktur und -beschaffenheit bestimmt den Fang ganz entscheidend mit.
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: You must change your life/ Du musst Dein Leben ändern.

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

d’accord! Natürlich bestimmen Netzstruktur und –beschaffenheit den „Fang“ ganz entscheidend mit (auch Saint-Exupéry selbst mißt ja der "Struktur" ganz entscheidende Bedeutung zu!).
Und ich sage ja auch, daß ich es als „Manko“ bei mir erkenne, wenn mir dennoch immer wieder mal der „Fang“ das allein Wichtige ist.

Allerdings gibt es doch auch eine Betrachtungsweise, für die es tatsächlich gleich gültig ist, „ob ich ein Ganghofer- oder Grishamnetz, ein Flaubert- oder Döblinnetz, ein Gelegenheitskitsch- oder ein Rilkenetz hochziehe“. Ich finde, daß auch eine solche Betrachtungsweise ihre Berechtigung hat.
Wenn sich in einem „Gelegenheitskitsch-Netz“, aus welchem Grund auch immer, eine Kostbarkeit voll tiefer Weisheit verfängt… sollte diese Kostbarkeit weniger „gültig“ sein, sollte ich sie allein deshalb geringschätzen, weil sie mit einem „schlechten“ Netz gefischt wurde?

Vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus gesehen, ist die Beschaffenheit des „Netzes“ und das Bewußtsein davon ganz sicher von fundamentaler Bedeutung.

Und auch vom Standpunkt des Lesers aus, wenn es ein Leser ist, der (nach Emil Staiger, wie ich von gliwi gelernt habe :wink: ) „begreifen will, was uns ergreift“.

Vom Standpunkt des Autors aus allerdings – das finde ich viel schwieriger zu beurteilen.
Sicherlich kommt es dabei darauf an, wie ein Dichter arbeitet. Läßt er sich „von der Muse küssen“ und schreibt intuitiv auf, was ihm in einer „Sternstunde“ gewissermaßen „diktiert“ wird? Oder überlegt er, wägt jedes einzelne Wort, sich unermüdlich korrigierend, arbeitet er sorgfältig an jeder einzelnen der Maschen seines Netzes … kurz: hat er sich dazu erzogen, „die Feder als das zu gebrauchen, was sie vor allem ist: als ein redliches, genau beherrschtes und verantwortetes Werkzeug“ (http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=6800#p6800): in beiden Fällen stehen wir als Leser staunend vor dem entstandenen "Netz", im ersten Fall möglicherweise der Dichter mit uns...

Dazu möchte ich auch noch etwas anderes zitieren, das mir irgendwie dazuzugehören scheint.
In einem seiner ersten Briefe an Goethe (23. August 1794) schreibt Schiller von den unterschiedlichen Wegen des „speculativen“ und des „intuitiven Geistes“. Da heißt es (Hervorhebung von mir):
Friedrich Schiller hat geschrieben:Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu gerathen, in den sowohl die Speculation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichthum verborgen; denn leider wissen wir nur das, was wir scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben, von der Philosophie zu borgen, die nur von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht die Sache des Analytikers, sondern des Genie’s, welches unter dem dunkeln, aber sichern Einfluß reiner Vernunft nach objectiven Gesetzen verbindet.

Was Sie aber schwerlich wissen können (weil das Genie sich immer selbst das größte Geheimniß ist), ist die schöne Übereinstimmung Ihres philosophischen Instinctes mit den reinsten Resultaten der speculirenden Vernunft. Beim ersten Anblicke zwar scheint es, als könnte es keine größeren Opposita geben, als den speculativen Geist, der von der Einheit, und den intuitiven, der von der Mannigfaltigkeit ausgeht. Sucht aber der erste mit keuschem und treuem Sinn die Erfahrung, und sucht der letzte mit selbstthätiger freier Denkkraft das Gesetz, so kann es gar nicht fehlen, daß nicht beide einander auf halbem Wege begegnen werden. Zwar hat der intuitive Geist nur mit Individuen und der speculative nur mit Gattungen zu thun. Ist aber der intuitive genialisch, und sucht er in dem Empirischen den Charakter der Nothwendigkeit auf, so wird er zwar immer Individuen, aber mit dem Charakter der Gattung erzeugen; und ist der speculative Geist genialisch, und verliert er, indem er sich darüber erhebt, die Erfahrung nicht, so wird er zwar immer nur Gattungen, aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung auf wirkliche Objecte erzeugen.“
Und zu Deiner, Harald, Bemerkung „Denn wäre es so, wie er es darstellt, wäre es gleichgültig, wie dicht gewebt oder aus welchem Material das Netz ist, die Beute wäre allein die Verantwortung des Lesers.“, hier noch ein Zitat aus demselben Briefwechsel, vom 9. Juli 1796 (es geht um das achte Buch des „Wilhelm Meister“; Hervorhebung wieder von mir):
Friedrich Schiller hat geschrieben:Dem Inhalte nach muß in dem Werk alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darin liegen, der innere Zusammenhang muß es mit sich bringen - aber wie fest oder locker es zusammenhängen soll, darüber muß Ihre eigenste Natur entscheiden. Dem Leser würde es freilich bequemer sein, wenn Sie selbst ihm die Momente worauf es ankommt blank und baar zuzählten, daß er sie nur in Empfang zu nehmen brauchte; sicherlich aber hält es ihn bei dem Buche fester, und führt ihn öfter zu demselben zurück, wenn er sich selber helfen muß. Haben Sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freie, nur nicht willkürliche Production des Lesers sein; es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Theil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet.
:D

Übrigens auch Saint-Exupéry sah ja nicht nur auf eine „Beute“ im Sinne von konkreter „story“ oder „Erzählfabel“. Sondern er war sich dessen bewußt, daß es sehr wohl darauf ankommt, wie die einzelnen Maschen des „Netzes“ miteinander verknüpft sind.
Im oben zitierten Aufsatz schreibt er:
Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben:Ich werfe da einige Wörter ohne jeden Zusammenhang hin: Hof, Pflasterstein, Scheit und fallen. Man gestalte daraus ein Gedicht. Aber man wird sich sträuben; denn diese Wörter besitzen ja nicht die Kraft, den Leser zu rühren. Und doch versteht es Baudelaire, der diesen Rohstoff des Wortes in seinem „Herbstlied“ verwendet, ein wunderbares Bild zu gestalten:
  • Schon hör ich fallen Scheit um Scheit
    Mit düsterm Prall auf Hof und Pflasterstein.
Mit den Wörtern Hof und Pflasterstein greift man genausogut ans Herz wie mit Herbststimmung und Mondenschein. Und ebensowenig sehe ich ein, warum ein Autor mit Ausdrücken wie Sauerstoffzufuhr, Kreiselvorrichtung und Visierlinie uns nicht genauso fesseln könnte wie mit Liebeserinnerungen.

Die konkreten Tatsachen besagen gar nichts. Der Tod des Helden ist zwar sehr bedauerlich, wenn eine untröstliche Witwe zurückbleibt; aber um bei uns eine doppelte Rührung hervorzurufen, genügt es nicht, einen Helden zu ersinnen, der in einer Doppelehe lebt.
Das große Problem beruht offenbar auf den Beziehungen zwischen der Wirklichkeit und dem Geschriebenen oder, besser ausgedrückt, zwischen der Wirklichkeit und dem Gedanklichen.
Und unmittelbar daran anschließend folgt, was ich oben zitiert habe.

Saint-Exupérys Ausführungen erinnern mich an Rilkes "arme Worte"...

Danke jedenfalls für den sehr richtigen Hinweis, daß natürlich jedes "Netz" im Zusammenhang mit seiner Zeit gesehen werden muß, und das köstliche Beispiel vom Auto aus der Gaswolke! :lol:

Herzlichen Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Antworten