Hilfe/Frage: Denn sieh: sie werden leben und sich mehren....

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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exschülerin
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Hilfe/Frage: Denn sieh: sie werden leben und sich mehren....

Beitrag von exschülerin »

Hallo Zusammen :-)

Kann mir bitte jemand erklären, was Rilke in seinem Gedicht "Denn sieh: sie werden leben und sich mehren" mit Folgendem meint :

zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Ich finde leider keinen Bezug.... :roll:


Nun ja und wenn ich hier schon schreibe, vielleicht nochmal eine andere Meinung zu dem Beginn:

"Denn sieh:....... "

Wie interpretiert ihr das "sieh" ???

Vielen neugierigen Dank

Nina
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
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Re: Hilfe/Frage: Denn sieh: sie werden leben und sich mehren....

Beitrag von gliwi »

Ist Dir klar, Nina, dass das Gedicht aus einem Zyklus mit dem Titel "Von der Armut und vom Tode" stammt? Das dürfte eigentlich schon weiterhelfen. In diesem Zyklus gibt es noch zwei Gedichte, die beginnen mit: "Und sieh:" . Da hätten wir also einen Sprecher, der einen Zuhörer auf etwas hinweist, ihm etwas erklärt. In diesem Gedicht spricht er über "sie". Was sind sie für welche? Wie werden sie beschrieben? Wie unterscheiden sie sich von anderen? Bei der Klärung dieser Fragen nicht den Zyklus-Titel aus dem Auge verlieren!
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Hilfe/Frage: Denn sieh: sie werden leben und sich mehren....

Beitrag von stilz »

Liebe Nina,

etwas verspätet, aber doch noch:

Zum Verständnis der Gedichte aus dem "Stunden-Buch" ist es hilfreich, einerseits (wie gliwi ja schon gesagt hat) den Titel des Zyklus' im Auge zu behalten und andererseits auch die vorangegangenen Gedichte zu lesen. Besonders dann, wenn es zu klären gilt, worauf sich Worte wie "sie" oder "du" beziehen könnten.

Hier ist es ziemlich klar - die "Schlüssel" liegen in diesem Gedicht:
  • Du, der du weißt, und dessen weites Wissen
    aus Armut ist und Armutsüberfluß:
    Mach, daß die Armen nicht mehr fortgeschmissen
    und eingetreten werden in Verdruß;
    Die andern Menschen sind wie ausgerissen;
    sie aber stehn wie eine Blumen-Art
    aus Wurzeln auf und duften wie Melissen
    und ihre Blätter sind gezackt und zart.

    [Hervorhebung von mir]
In den folgenden Gedichten wird immer wieder darauf Bezug genommen: "sie" sind "die Armen", und "du" ist "Du, der du weißt" --- in anderen vorausgegangenen Gedichten wird dieses "du" noch deutlicher angesprochen: "O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod..."

Und noch zu:
  • zu ihnen werden kommen alle Ernten,
    und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.
Da ist zunächst die Ebene des Bildes von den in der Erde verwurzelten und nicht "ausgerissenen" Blumen, die auch bei Regen an Ort und Stelle bleiben, sich nicht "ausreißen" lassen, um unter ein schützendes Dach zu kommen... ihre Früchte werden ausreifen können, im Gegensatz zu denen der vor der Zeit abgerissenen...
Was könnte dieses Bild, auf den Menschen übertragen, bedeuten?

Ich denke an den "Malte", die 59. Aufzeichnung, da ist von dem armen und elenden Zeitungsverkäufer die Rede, der Tag für Tag an derselben Stelle steht, und der an dem Tag, als Malte sich entschließt, nicht wie sonst feige wegzusehen, einen "Sonntagshut" trägt, dessen Farben "an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen?
Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es.
Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantel haben, - gieb mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist."


Ich denke an eine Stelle aus diesem Brief an Rudolf Bodländer:
"Was ich künstlerisch schreibe, wird wohl bis zuletzt irgendwo die Spuren des Widerspruchs aufweisen, mittels dessen ich mich angetreten habe, - und doch, wenn Sie mich fragen, so möchte ich nicht, daß es dies sei, was vor allem von diesen Arbeiten ausginge: nicht die Aufforderung zu irgendeiner Auflehnung und Befreiung, nicht das Ausspringen aus dem sie Umgebenden und ihnen Anfordernden, möchten - so wünsche ich - junge Menschen aus diesen Schriften schließen; vielmehr, daß sie in einer neuen Verträglichkeit das Gegebene, Zugemutete, unter Umständen Notwendige hinnähmen, vor ihm nicht nach auswärts, sondern ins Tiefere auswichen, dem Druck der Verhältnisse nicht so sehr wiederstrebten, als vielmehr ihn ausnutzten, um durch ihn in eine dichtere, tiefere, eigenthümlichere Schicht der eigenen Natur eingesetzt zu werden."

Und ich denke auch noch an das, was Rilke dem jungen Dichter Franz Xaver Kappus am 14. Mai 1904 über die Liebe schreibt:
"Die Ansprüche, welche die schwere Arbeit der Liebe an unsere Entwicklung stellt, sind überlebensgroß, und wir sind ihnen, als Anfänger, nicht gewachsen. Wenn wir aber doch aushalten und diese Liebe auf uns nehmen als Last und Lehrzeit, statt uns zu verlieren an all das leichte und leichtsinnige Spiel, hinter dem die Menschen sich vor dem ernstesten Ernst ihres Daseins verborgen haben, - so wird ein kleiner Fortschritt und eine Erleichterung denen, die lange nach uns kommen, vielleicht fühlbar sein; das wäre viel."
[alle Hervorhebungen: kursiv RMR, fett von mir]

Ich hoffe, das hilft Dir weiter...

Herzlichen Gruß!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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