Gedichtsinterpretation "Meine Mutter"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
mauserklausi
Beiträge: 1
Registriert: 5. Apr 2009, 08:33

Gedichtsinterpretation "Meine Mutter"

Beitrag von mauserklausi »

Hallo,
in Rilkes Gedicht heißt es in der dritten Strophe:

Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Meine Frage diesbezüglich ist, was Rilke mit den Hunden und den Vögeln meint.

Das mehr gewordene Gesicht ist für mich klar, das ist sein neu gewonnenes Selbstvertrauen und (im Hinblick auf die Biografie) seine Dichterkarriere, die zu der Gedichtsveröffentlich recht erfolgreich lief.
ABer die fremden Hunde? Vögel? Ist damit etwas aus der Natur gemeint?
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Re: Gedichtsinterpretation "Meine Mutter"

Beitrag von gliwi »

Ich weiß nicht, um welche Ecken du hier denkst. Lass' es doch einfach stehen. Die fremden Hunde und die Vögel nehmen wahr, dass er erwachsen wird, (und verhalten sich ihm gegenüber anders, als sie sich zu dem Kind verhalten haben) - darum geht es nämlich hier -, nur die Mutter nimmt es nicht wahr.
Seit die Idee "Rilke ist ein Symbolist" durch Germanistenhirne geistert, sucht jedeR mit der Stallaterne irgendwelche Symbolik bei Rilke. :twisted:
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
joni
Beiträge: 26
Registriert: 4. Mär 2009, 22:36
Wohnort: Nähe München

Re: Gedichtsinterpretation "Meine Mutter"

Beitrag von joni »

Hallo Mauserklausi,
gliwis Bemerkung, das mit den Hunden und Vögeln so stehen zu lassen, ist ein wenig unbefriedigend, oder? Wieso sollen Tiere denn ein menschliches Gesicht lesen können, wo es schon die Mutter nicht kann?! Egal, ob die germanistische Suche nach Symbolen immer das Ziel trifft oder nicht - Bilder aufzulösen, die nicht unmittelbar unserem kulturellen 08/15-Dechiffriermodus entspechen, macht doch einen der Lustfaktoren der Gedicht-Rezeption überhaupt aus (ich denke auch für gliwi, aber das hat er hier nicht sehen wollen).
Den Gegensatz Tier:Mensch stellt der Text nun mal her: Die können/sehen was, was die Mutter nicht kann/sieht. Und das ist umso auffälliger, weil das Bedeutungsfeld "Mutter" zunächst ja genau das Verständnis, die nicht-sprachliche Kenntnis ihrer Kinder, das intuitive Verstehen, die mütterliche Fürsorge und Sensiblität usw. ausmacht. Bei der Mutter des lyrsichen Ich ist das alles nicht da. Sie ist irgendwo anders stehen geblieben, hat vielleich sogar nie Bezug herstellen können (" ... war nie ein warmer Wind").
Wenn man das Gegensatzpaar Mensch:Tier verändert, kommt man auch zum Gegensatzpaar Intellektualität (des Menschen):Instinktsteuerung (der Tiere).
Die ganze Kopfleistung der Mutter, die "sehenden" Auges zerstört ("kommt und schaut und reißt ein"), zerstört das Verhältnis Mutter:Kind; dass die Tiere jedoch "wissen", also nicht erkennen (Verlauf), verstehen (Verlauf), sondern einfach "wissen" (nicht Verlauf), betrifft in meiner Auffassung einem Bezug zwischen Lebewesen, die jenseits aller Vernunft, jenseits aller Vermittlung, jenseits aller Biologie "wissen", was mit dem anderen los ist.
Ich habe den Eindruck, dass der Text die biologischen Familienbanden relativiert und als oftmals auch zerstörerisch proklamiert; stattdessen aber eine übermenschliche Beziehungsfähigkeit von Lebewesen insgesamt thematisiert, die ohne Worte, ohne Sprache, ohne Wertung, ohne Erkennttnis ("schaut"), ohne Religion einfach wissen.
Da das nicht auf eine Tierart eingeschränkt werden soll (sonst wären es schnell die Hunde, als "die besten Freunde der Menschen"; oder die Vögel als ein "Symbol der körperlosen Seele, der freien Gedanken oder der Transzendenz" usw.), werden eben Hunde und Vögel gewählt, Boden- und Luftwesen (Fische fehlten dann noch, aber die wissen nichts von den Gesichtern jenseits des Wassers).

Hilft das weiter?
Besten Gruß, der Joni
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Re: Gedichtsinterpretation "Meine Mutter"

Beitrag von gliwi »

Hallo Joni,
das hast du schön erklärt. Du hast ja schon Recht. Wegen sich in letzter Zeit häufender Anfragen, bei denen Rilke unter "Symbolist" abgeheftet wird, reagiere ich etwas allergisch in dieser Richtung. Aber vielleicht hat mauserklausi das ja gar nicht gemeint.
Gruß,
die gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
Antworten