Der Gefangene

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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sternschnuppe
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Der Gefangene

Beitrag von sternschnuppe »

Hallo,

wer kann mir etwas darüber sagen,
unter welchen Eindrücken, Erfahrungen, Umständen, ...
das Gedicht „Der Gefangene“ von 1906 entstanden ist.
War Rilke selbst inhaftiert oder inwiefern hatte er mit
Gefangenschaft zu tun, dass er dieses Thema so eindrücklich
behandelt?

Gruss Sternschnuppe
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo Sternschnuppe,
das Gedicht 'Der Gefangene' stammt aus dem Frühjahr 1906 und ist in Meudon (in der Umgebung von Rodin) entstanden. Viel ist über die Entstehung wohl nicht bekannt, erstmals ist der Text in den 'Neuen Gedichten' enthalten (unmittelbar vor 'Der Panther' eingeordnet). Eigentlich sind es zwei in Form und Perspektive unterschiedliche Texte. Der erste Teil ist ein Rollengedicht aus der Sicht des Gefangenen (Rilke selbst war im wörtlichen Sinn nie im Gefängnis), der zweite Teil ist ein Sonett und die Antwort (des Dichters?) an den Gefangenen. Es ist die zweifache Perspektive auf die Situation eines Eingesperrten (also auch ein Beitrag zu unserer 'Wahrnehmungsdebatte' in anderen Teilen des Forums).
Noch einen schönen Tag wünscht
e.u.
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

am besten gefällt mir der Schluss des Gedichts:
...Und du lebtest doch.
Anna :D
"anna blume... man kann dich auch von hinten lesen... du bist von hinten wie von vorne: "a-n-n-a." (kurt schwitters)
Claudi90
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Re: Der Gefangene

Beitrag von Claudi90 »

Hallo :)

Ich hab die Aufgabe bekommen, dieses Gedicht von Rilke künstlerisch umzusetzen...
Nichts leichter als das :P

Also, als Grundlage muss ich natürlich das Gedicht ersteinmal verstanden haben.. Und genau hier liegt mein Problem ^^
Könnt ihr mir helfen?

Meine persönlichen Bildlichen Gedanken:
Da sitzt nun also ein Mann, allein in einer Höhle. Tropfen fallen von den Felsen. Er ist so allein, dass er sich sogar wünscht, ein Tier käme wiedermal vorbei, (damit er etwas zum erfreuen hat?)... Doch wenn er sich ein Tier wünscht- wieso bemitleidet er sich, indem er sagt "Meine Hand hat nur noch eine Gebärde, mir der sie verscheucht".. Verscheucht er nicht Tiere in diesem dunklen, nassen Loch? Wenn nicht, was dann ? (noch nicht übertragen gemeint ;) wirklich nur bildlich gedacht)

Wieso redet er in der letzten Zeile der 3. Strophe plötzlich von einem "Wir"? das verwirrt mich...

In der zweiten Strophe wird aus einer eindeutig anderen Perspektive geschildert? Ich dachte beim ersten mal lesen eher, dass der Gefange das zu mir persönlich sagt --> seine Situation mir beschreibt, damit ich mich genau hineinversetzen kann, bzw. merke, wie grauenvoll seine Lage ist.

Und jetzt die alles entscheidende Frage: was ist die Autorenintension? Ich finde einfach die Grundaussage nicht...

Liebe Grüße,
Claudia
helle
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Re: Der Gefangene

Beitrag von helle »

Hallo Claudia,

ich will in Kürze auf ein paar Dinge eingehen.

Warum soll ein Tier vorbeikommen (das er dann doch verscheucht)? – ich vermute, es ist langweilig und öde dort, wo der Gefangene sich aufhält. An welches Tier er denkt, ist unklar, von der Mücke bis zum Elefanten ist wohl alles drin.

Das »wir« in Str. 3 verstehe ich als »man« – das kann die Menschen insgesamt betreffen, aber womöglich auch andere Gefangene, es bleibt offen. Man muß sich wohl generell damit abfinden, daß in modernen Gedichten ein paar Fragen offen bleiben, das wird meist erst dann zum Problem, wenn man sie plötzlich interpretieren soll. Z.B. kann ich mir vorstellen, daß bei 10 Lesern 10 verschiedene Tiere assoziiert werden, warum auch nicht, es ist ein Teil der Leserfreiheit.

In der Frage nach der sogenannten Autorintention erschöpft sich eine Gedichtinterpretation nicht, wie ich persönlich meine (es gibt andere Auffassungen), und das hängt mit der eben genannten Leserfreiheit zusammen. Das moderne Gedicht erwartet nicht, daß es eindeutig verstanden werden kann, es kann sogar sein, daß gerade dies – das eindeutige Ermitteln dessen, was der Autor gemeint haben mag – eben nicht beabsichtigt ist. Ich fände es deshalb sinnvoller, wenn Du Dir zunächst klar machst, welchen Eindruck das Gedicht auf Dich macht. Woran Du denkst, wie Du es verstehst, was offen bleibt, und dann erst an eine künstlerische Umsetzung denkst. Dann wundert es mich, daß Du nur auf den ersten Teil des zweiteiligen Gedichtes eingehst – der zweite Teil ist ein Sonett und nimmt eine unterschiedliche Sprechhaltung ein. Falls das nicht Teil Eurer Interpretation ist, würde wohl etwas Entscheidendes fehlen, weil der erste Teil den zweiten und der zweite den ersten erhellt.

Gruß, h.
stilz
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Re: Der Gefangene

Beitrag von stilz »

  • Der Gefangene

    I

    Meine Hand hat nur noch eine
    Gebärde, mit der sie verscheucht;
    auf die alten Steine
    fällt es aus Felsen feucht.

    Ich höre nur dieses Klopfen
    und mein Herz hält Schritt
    mit dem Gehen der Tropfen
    und vergeht damit.

    Tropften sie doch schneller,
    käme doch wieder ein Tier.
    Irgendwo war es heller -.
    Aber was wissen wir.

    II

    Denk dir, das was jetzt Himmel ist und Wind,
    Luft deinem Mund und deinem Auge Helle,
    das würde Stein bis um die kleine Stelle
    an der dein Herz und deine Hände sind.

    Und was jetzt in dir morgen heißt und: dann
    und: späterhin und nächstes Jahr und weiter -
    das würde wund in dir und voller Eiter
    und schwäre nur und bräche nicht mehr an.

    Und das was war, das wäre irre und
    raste in dir herum, den lieben Mund
    der niemals lachte, schäumend von Gelächter.

    Und das was Gott war, wäre nur dein Wächter
    und stopfte boshaft in das letzte Loch
    ein schmutziges Auge. Und du lebtest doch.

    Aus: Neue Gedichte (1907)

Auch für mich (ich denke, da sind wir uns trotz "Leserfreiheit" einig :wink: - danke, helle, für diesen Begriff!) ist der erste Teil dieses Gedichtes die konkrete Schilderung eines Menschen, der allein in einer Felsenkammer/Höhle gefangen ist.
Das Geräusch der Wassertropfen ist das einzige sinnlich wahrnehmbare "Ereignis", das ihm noch bleibt. Früher ist wohl einmal ein Tier gekommen, ein gefährliches oder zumindest lästiges vielleicht, das er verscheuchen mußte - das war das einzige, das ihn zu einer körperlichen "Antwort" aufgerufen hat, zu anderen Gebärden hat er längst keinen Anlaß mehr.
Obwohl es nicht angenehm war - zumindest ein solches Ereignis sehnt er wieder herbei, nicht weil es ihn "erfreuen" würde, sondern weil es etwas wäre, das er erleben könnte, an das er eine Erinnerung knüpfen könnte...
Das "wir" am Schluß dieses Teils --- es ist schwierig, zu beschreiben, was es mir sagt.
Ich habe das Gefühl, der Gefangene sieht sich trotz seines Alleinseins als Teil der Menschheit, er weiß, daß es auch noch andere Menschen gibt. Allerdings für den Fall, daß auch diese anderen Menschen in einer ähnlich einsamen, gefangenen Lage wären --- könnten sie es dann wirklich wissen, daß es auch einmal, irgendwo, "heller" war? (Und ich denke dabei auch an Platons Höhlengleichnis...)

Der zweite Teil beginnt mit der Aufforderung "Denk dir" - das angesprochene "Du" möge sich hineindenken in das geschilderte Erleben.
Hier geht es um eine andere, weniger körperliche Art der "Gefangenschaft", der Einsamkeit, der Ausweglosigkeit.
In der Gegenwart ist alles ringsum wie aus Stein.
Die Zukunft ist "wund" und "voller Eiter" und wird wohl gar nicht erst anbrechen...
Und gesteigertes Entsetzen: auch die Vergangenheit, das, was einmal "lieb" war, was man unwiderruflich als Erinnerung zu besitzen dachte - das ist "irre" geworden, "rast herum"...
Und auch die einzige Zuflucht, an die vielleicht trotz alledem immer noch zu denken wäre: Gott.
Auch diesen Trost gibt es nicht mehr.

Ich glaube nicht, daß es der "Gefangene" aus der ersten Strophe ist, der hier spricht. Sondern umgekehrt: die konkrete Situation der "Felshöhlengefangenschaft" scheint mir dazu da zu sein, den Leser das in der zweiten Strophe Geschilderte als "Steigerung" erleben zu lassen... wie helle schon gesagt hat: der erste Teil erhellt den zweiten und umgekehrt.

Und ich würde mir auch die Frage stellen, was es bedeuten könnte, daß der zweite Teil ein Sonett ist und also eine viel mehr "festgelegte" Form hat als der erste Teil...

Übrigens:
Anna B. hat geschrieben: am besten gefällt mir der Schluss des Gedichts:
...Und du lebtest doch.
Ich muß sagen, ich kann das nicht recht nachvollziehen, wieso Dir, Anna, gerade diese letzte Zeile "am besten gefällt".


Lieben Gruß

stilz
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gliwi
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Re: Der Gefangene

Beitrag von gliwi »

Findest du nicht, stilz, dass dieses "und du lebtest doch" etwas Trotzig-Zuversichtliches hat? Dass Leben trotz allem möglich ist? Es liegt ja eine Betonung auf dem Doch, es heißt also nicht: obwohl du lebst, sondern: du lebst trotzdem. Das kann man schon mögen, dieses "trotzdem".
Gruß
gliwi
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stilz
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Re: Der Gefangene

Beitrag von stilz »

Liebe gliwi,

etwas "Trotzig-Zuversichtliches"?
Also nein, das kann ich in diesem Fall nicht finden.

Für mich drückt sich gerade in diesem "und du lebtest doch" aus, was "Gefangenschaft" bedeutet: man ist eingesperrt, in einer Situation, in der man nicht sein will, die man als grauenhaft schreck-lich erlebt --- und man kann nicht heraus.

Du findest in den letzten Worten ausgedrückt, "dass Leben trotz allem möglich ist".
Ich sehe eher: daß Leben dennoch nicht verlischt, daß die Qualen, die alles Ertragbare übersteigen, dennoch in Hoffnungslosigkeit weiter erlebt werden müssen... ohne jede Aussicht auf ein Ende...

Der Gefangene aus dem ersten Teil des Gedichtes hat noch eine, wenn auch dürftige, Perspektive für die Zukunft (die Tropfen könnten schneller fallen; ein Tier könnte kommen). Und er hat auch noch seine Vergangenheit (ein Tier war einmal da; "irgendwo war es heller"...). Und in der Gegenwart hat er eine Gebärde seiner Hände, und er hat sein Herz, das mit den Tropfen Schritt hält, und das vergeht.

Der Gefangene des Sonettes hat all das nicht mehr.
Einzig der Tod wäre vielleicht noch ein Ausweg ... aber dieser Weg wird nicht beschritten.
Ich frage mich, ob wohl dieser potentielle Ausweg gemeint ist mit dem "letzten Loch", in das der "Wächter", als der sich das "was Gott war" herausstellt, ein "schmutziges Auge" stopft...

Nein. "Mögen" kann ich diese letzte Zeile nicht. Sie wirkt auf mich viel eher wie ein Keulenschlag...

Gruß
stilz
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Anna B.
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Re: Der Gefangene

Beitrag von Anna B. »

Hallo,

habt Ihr Euch schon mal überlegt, was wäre, wenn dort statt "doch" "noch" stehen und es damit heissen würde: Du lebtest noch ? Ich kann in dem "doch" nur etwas Trotzig-Zuversichtliches erkennen ! Überlebens-Willen, -Mut !

Allerdings sehe ich eher einen Häftling in Gefangenschaft, der den Gegenüber im Gefängniswärter wahrnimmt (und in den Mitgefangenen). Insofern könnte dieses Trotzig-Zuversichtliche auch darin bestehen, dass die Wärter ihn am liebsten tot sehen wollten, aber er doch lebt ! Ein innerer, politischer Protest ? Ein Stück innerer Freiheit ? Vielleicht ... ?!

Anna :D
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helle
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Re: Der Gefangene

Beitrag von helle »

Da neige ich nun eher zur Meinung von stilz. Schon beginnt die Interpretation und man sieht, daß es keinen objektiven Sinn gibt, den der Autor ausspricht und der Leser nur entschlüsselt.

Obwohl es nicht leicht fällt zu sagen, wer eigentlich im zweiten Teil des Gedichtes spricht, glaube auch ich nicht, daß es der Gefangene der ersten Strophe ist. Es kann der Sprecher des Gedichts sein, sein Autor, ja irgendein Leser, der sich angesprochen fühlt, jedenfalls jemand, dem Himmel, Wind und Luft gegenwärtig sind, der eine Zeitaussicht hat, einen Glauben usf. – all das, was durch die Situation des Gefangenen ausgestrichen wird. Denn im Gegensatz zum ersten Teil wird der zweite vom Konjunktiv regiert, würde, wäre, schwäre, bräche usw. Gedanklich hat es etwas von einer Simulation: stell dir vor (»Denk dir«), du wärst der Gefangene, wie änderten sich dann die Wahrnehmung der Welt und ihrer Dinge und Lehren (wobei in diesem ›als-ob‹ für mich auch eine Schwäche liegt, weil das Sich-Ausmalen mich an eine Übung erinnert, die zwar höchst kunstvoll ausfällt, aber eben doch nur als ein Vorgestelltes, was im Gegensatz zum Ernst des Themas steht).

Wenn es aber nun einmal so wäre, das ist mein Eindruck, dann ist, nach diesem imaginierten Verlust aller lieben Dinge, das Weiterleben ein Zwang, ein Weiterlebenmüssen, eine Verdammnis. Und ich würde gut idealistisch behaupten, daß es Situationen wie die hier geschilderte gibt, da würde man nicht um jeden Preis am Leben hängen, sondern wäre lieber tot. Vielleicht ist das aber auch leichter gesagt als getan. Ich glaube, es ist Camus, der in seinem Sisyphos-Buch sagt, ein guter Grund zu leben sei auch ein guter Grund zu sterben.

Grüßchen, h.
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Anna B.
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Re: Der Gefangene

Beitrag von Anna B. »

Hallo h.,

sehe ich völlig anders :-) ! Es gibt Gefangene, die jeden Tag, ja jede Stunde, jedes Jahr zählen, um sich über die Zeit bewusst zu werden, sich an etwas halten zu können... , was mit der Zeit dann doch allmählich verloren geht. Das wird im zweiten Teil beschrieben. Gerade dieses: "Denk Dir" gibt mir einen Hinweis, dass es der Gefangene selbst ist, der zu sich spricht. Sicher aus einer anderen Wahrnehmung heraus als zu Beginn des Gedichts. Er tritt aus sich heraus, neben sich, um in diesen Gedanken (zu Beginn des zweiten Teils) überleben zu können. Zugleich aber ist er sich bewusst, dass es nicht so bleiben wird. Der letzte Teil würde dann - ganz realistisch - bedeuten, dass der Wächter ihn in seinen Träumen stört, indem er durch das Guckloch schaut (mal ganz plastisch ausgedrückt). So passt für mich der letzte Satz auch wieder : "Und Du lebtest doch." Es ist sozusagen die Rückführung in die noch zuversichtliche, hoffnungsvolle zweite Wahrnehmungsebene.
Anna :D
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helle
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Re: Der Gefangene

Beitrag von helle »

Hallo Anna,

welche Erfahrungen Gefangene nun so machen, ob sie Stunden oder Tage zählen, welche Form des Zeit-Bewußtseins überhaupt sie haben usw., weiß ich nicht, da ich keine kenne. Dagegen die (Lebens-)Jahre zu zählen, unterläuft auch den meisten Menschen, die in Freiheit leben; die Anzahl meiner Lebensjahre ist mir in der Regel bewußt, schmerzlich, muß ich leider sagen. :D

Was den zweiten Teil angeht des Gedichts – für mich ist es doch mehr als ein Perspektivenwechsel des Sprechers. Du schreibst: »Er tritt aus sich heraus, neben sich, um in diesen Gedanken (zu Beginn des zweiten Teils) überleben zu können.« Welcher Gedanke soll das sein, der ihm hilft, zu überleben? Die Richtung der Gedanken geht doch stets ins Negative und jede Strophe imaginiert einen Verelendungsvorgang, in dem Himmel und Licht zu Stein werden, die Zeit zu Eiter usf. Ein Gefangener müßte sich doch eher vorstellen, daß aus dem Stein, der ihn umgibt, Luft und Helle wird, daß die Zeit die Wunden heilt usf. Also wo da ein Trost und Grund zur Zuversicht liegt, sehe ich nicht.

Andererseits sagt mir Deine Assoziation, daß das »letzte Loch« ein Guckloch ist, durch das »dass der Wächter […] schaut« zu und scheint mir auch naheliegend, in sich, ohne an Dein Gesamtverständnis gebunden zu sein.

Na ja, so weit.
Gruß, h.
stilz
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Re: Der Gefangene

Beitrag von stilz »

Anna B. hat geschrieben: "Und Du lebtest doch." Es ist sozusagen die Rückführung in die noch zuversichtliche, hoffnungsvolle zweite Wahrnehmungsebene.
Anna :D
Mir geht es so wie helle - ich sehe überhaupt nicht, woraus der "Gefangene" des Sonettes noch so etwas wie "Zuversicht" oder "Hoffnung" schöpfen könnte. Das Schreckliche an dieser "Gedankenübung" ist doch gerade, daß es eben das alles, was normalerweise in schwierigen Situationen Halt oder Trost geben kann, nicht mehr gibt. Was an dieser "Wahrnehmungsebene" ist "noch zuversichtlich, hoffnungsvoll"?

Die Gegenwart ist fürchterlich
potentieller Trost: "Aber irgendwann wird es wieder besser werden"
Doch NEIN - denn auch
die Zukunft ist "voller Eiter", noch schlimmer: sie "bräche nicht mehr an"
potentieller Trost: "Ganz egal, was auch geschieht, ich habe noch meine Erinnerungen, die kann mir niemand nehmen."
Doch abermals NEIN - denn
die Vergangenheit, die Erinnerungen, sind "irre"...
Für den Gläubigen gibt es selbst dann noch einen potentiellen Trost: Gott. Also etwa: "Irgendwann werde ich sterben, auf mich wartet das ewige Leben, das wird schön sein und voller Seligkeit."...
Doch auch hier wieder: NEIN.
Denn alles, was bisher mit dem Begriff "Gott" verbunden war, stellt sich als Mißverständnis heraus. Gott ist nicht mit "ewiger Seligkeit" verknüpft, sondern Gott ist ein "Wächter", der einem auch noch dieses letzte Schlupfloch nimmt: Das "ewige Leben" --- das bedeutet, daß die Qualen auch nach dem Tode noch weitergehen...

Und ich frage mich, ob die "Denkübung" des Sonettes sich nicht überhaupt auf das "ewige Leben" bezieht, auf die Furcht davor, das Leben könnte tatsächlich ewig sein, und dabei schrecklicher als alle Qual, die hier auf Erden möglich ist...
Ich denke dabei auch an den Ausruf "Lieber ein Bettler in der Oberwelt, als ein König im Reich der Schatten!" - wenn ich nicht irre, ist es der gefallene Achill, der ihn tut.


Es ist schwierig mit der "Interpretation" von Rilkes Gedichten - sehr oft (wenn es sich nicht gerade um ein "Ding-Gedicht" handelt) wird versucht, aus einem einzigen Gedicht eine Art "Quintessenz" zu machen, eine Zusammenfassung dessen, was das Leben bedeutet, oder auch (ich denke an Ulrich Baers 'The Poet's Guide to Life') wie man am allerbesten reagieren "soll", um in den allerschwierigsten Situationen immer noch Mut schöpfen zu können, immer noch das Leben zu preisen.

Für mich ist aber auch dieses Gedicht eine Art "Ding-Gedicht". Das "Ding", das geschildert wird, ist die "Gefangenschaft", bzw eben der "Gefangene", der unwiderruflich gefangen ist und keinen Ausweg sieht. So würde sich das anfühlen.
Und damit genug. Es geht nicht darum, ob es "gut" oder "schlecht" ist, oder ob es "wahr" ist in dem Sinne, daß es einen konkreten Menschen gibt, der in genau dieser Situation ist. Es genügt für diese Schilderung, sich das alles als Möglichkeit vorzustellen (schließlich steht es ja auch im Konjunktiv).
Und schon gar nicht geht es meiner Meinung nach darum, einem etwaigen konkreten Menschen durch dieses Gedicht irgendwie zu "helfen". So wie man ja auch der "Blauen Hortensie" oder dem "Shawl" oder auch dem "Panther" (meiner Meinung nach nicht ein Gedicht über "den Panther an und für sich", sondern über diesen konkreten Panther im Jardin des Plantes...) nicht "helfen" will, etwas anderes zu sein als sie sind...


Lieben Gruß!

stilz
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Re: Der Gefangene

Beitrag von stilz »

Heute habe ich - aus ganz anderem Anlaß - wieder im Aufsatz "Ein Abend auf Schloß Muzot" von Gerd Kluge gelesen.
Dabei ist mir diese Stelle aufgefallen, in der Rilke seinem Gast aus den "Elegien" vorliest:
  • ...Fast schreiend und mit männlicher Härte kamen aus den Elegien die Worte der zweiten Elegie: „Jeder Engel ist schrecklich“, anklingend an die Eingangszeilen der ersten: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: Ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.“ Das Schreckliche der Engel, erklärte er, liege darin, daß sie im Gegensatz zum Menschen in einem Sein ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben. Ihm komme es aber entscheidend darauf an, deutlich zu machen, daß der Mensch, der Vergängliche, von seiner ersten Stunde an nicht nur lebe, sondern auch laufend stürbe. Jede Stunde sei zugleich Erfahrung und Abschied. „Wolle die Wandlung“, „sei jedem Abschied voran“ las er mit besonderer Betonung. ...
    [Hervorhebung stilz]
Dabei mußte ich an den "Gefangenen" des Sonettes denken - denn auch er lebt ja irgendwie "ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"...

Ohne mir gleich genau erklären zu können (und zu wollen), was das zu bedeuten haben könnte: diese Assoziation möchte ich Euch nicht vorenthalten.

Lieben Gruß

stilz
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lilaloufan
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Re: Der Gefangene

Beitrag von lilaloufan »

Ich kann gerade nicht mit Eigenem beitragen zu diesem Thread, aber mir fällt mit jedem Eurer Beiträge mehr, sogar unauslöschlich sich aufdrängend, Zweigs Virata ('Die Augen des ewigen Bruders', 1922) ein, wie er, der Weise, als „Quelle der Gerechtigkeit“ Gepriesene - um das Maß kennenzulernen, mit dem er gerichtet, nämlich einen Angeklagten zu Kerkerhaft verurteilt hat - unerkannt in das Verlies steigt und seine Lage gegen die des Gefangenen tauscht, im Vertrauen, dass der Befreite nach verabredeter Zeit zum Könige gehen und das Geschehen aufklären werde.
  • «In der Zelle hingestreckt erwachte er wieder, und ihm war, als läge er mit dem Rücken über brennendem Feuer. Um seine Stirne aber war Kühle; Duft von wilden Kräutern sog er ein mit dem Atem: Er fühlte, dass eine Hand war über seinem Haar und dass Lindes von ihr niederträufelte. Leise öffnete er den Spalt der Lider und sah: Die Frau des Pförtners stand neben ihm und wusch ihm sorgend die Stirne. Und wie er jetzt das Auge voll aufschlug zu ihr, strahlte der Stern des Mitleids ihm aus ihrem Blick entgegen. Und durch den Brand seines Leibes erkannte er den Sinn alles Leidens in der Gnade der Güte. Leise lächelte er auf zu ihr und spürte nicht mehr seine Qual.

    Am zweiten Tage konnte er sich schon erheben und sein kaltes Geviert abtasten mit den Händen. Er fühlte, wie eine Welt neu wuchs mit jedem Schritt, den er tat, und am dritten Tag narbten die Wunden, Sinn und Kraft kehrten zurück. Nun saß er still und spürte die Stunden an den Tropfen nur, die niederfielen von der Wand und das große Schweigen teilten in viele kleine Zeiten, die still wuchsen zu Tag und Nacht, wie ein Leben aus Tausenden von Tagen selbst wieder wächst zu Mannheit und Alter. Niemand sprach auf ihn ein; Dunkel stand starr in seinem Blut, aber von innen stieg nun bunt Erinnerung in leisem Quell, floss mählich zusammen in einen ruhenden Teich der Schau, darin sein ganzes Leben gespiegelt war. Was er verteilt erlebt, rann nun in eines, und kühle Klarheit ohne Wellenschlag hielt das gereinigte Bild in der Schwebe des Herzens. Nie war sein Sinn so rein gewesen wie in diesem Gefühl reglosen Schauens in gespiegelte Welt.

    Mit jedem Tage nun ward Viratas Auge heller, aus dem Dunkel hoben sich die Dinge ihm entgegen und vertrauten seinem Spüren die Formen. Und auch innen ward alles heller in gelassener Schau: Die lindere Luft der Betrachtung, wunschlos hinschwellend über den Schein eines Scheines, die Erinnerung, spielte mit den Formen der Verwandlung wie die Hände des Gefesselten mit den zerstreuten Kieseln der Tiefe. Selbst sich entschwunden, reglos gebannt, unkund der Formen eigenen Wesens im Dunkel, spürte er stärker des tausendförmigen Gottes Gewalt und sich selbst hinwandern durch die Gestalten, keiner anhängend, klar gelöst von der Knechtschaft des Willens, tot im Lebendigen und lebendig im Tode… Alle Angst der Vergängnis ging hin in linde Lust der Erlösung vom Leibe. Ihm war, als sänke er mit jeder Stunde tiefer ins Dunkel hinab, zu Stein und schwarzer Wurzel der Erde, und doch trächtig neuen Keims, Wurm vielleicht, dumpf wühlend in der Scholle oder Pflanze, aufstrebend mit stoßendem Schaft, oder Fels nur, kühl ruhend in seliger Unbewusstheit des Seins.

    Achtzehn Nächte genoss Virata das göttliche Geheimnis hingegebenen Schauens, losgelöst von eigenem Willen und ledig des Stachels zum Leben. Seligkeit schien ihm, was er als Sühne getan, und schon fühlte er in sich Schuld und Verhängnis nur wie Traumbilder über dem ewigen Wachen des Wissens. In der neunzehnten Nacht aber fuhr er auf aus dem Schlaf: Ein irdischer Gedanke hatte ihn angerührt. Wie glühende Nadel bohrte er sich ein in sein Hirn. Schreck schüttelte ihm grass seinen Leib, und die Finger zitterten an seiner Hand wie Blätter am Holze. Dies aber war der Gedanke des Schreckens: Der Gefangene konnte untreu werden an seinem Schwur und ihn vergessen, und er müsse hier liegen bleiben tausend und tausend und tausend Tage, bis das Fleisch ihm von den Knochen fiele und die Zunge erstarre im Schweigen. Noch einmal sprang der Wille zum Leben wie ein Panther auf in seinem Leibe und zerriss die Hülle: Zeit strömte ein in seine Seele und Angst und Hoffen, die Wirrnis des Menschen. Er konnte nicht mehr denken an den tausendförmigen Gott des ewigen Lebens, sondern nur an sich; seine Augen hungerten nach Licht, seine Beine, die sich scheuerten am harten Stein, wollten Weite, wollten Sprung und Lauf. An Weib und Söhne, an Haus und Habe, an die heiße Versuchung der Welt musste er denken, die mit Sinnen getrunken wird und gefühlt mit der wachen Wärme des Blutes.

    Von diesem Tage des Erinnerns schwoll die Zeit, die bisher zu seinen Füßen stumm gelegen wie ein schwarzer, spiegelnder Teich, empor in sein Denken; wie ein Strom schoss sie her, aber immer wider ihn. Er wollte, dass sie ihn mitreiße und hinschwemme wie einen springenden Balken zu der erstarrten Stunde der Befreiung. Aber gegen ihn strömte sie: Mit ringendem Atem quälte er, ein verzweifelter Schwimmer, ihr Stunde um Stunde ab. Und ihm war, als zögerten mit einem Male die Tropfen des Wassers an der Wand im Falle, so weit schwoll die Spanne der Zeit zwischen ihnen. Er konnte nicht mehr länger verweilen auf seinem Lager. Der Gedanke, jener würde seiner vergessen und er müsse hier faulen im Keller des Schweigens, trieb ihn wie einen Kreisel zwischen den Wänden. Die Stille erwürgte ihn: Er schrie die Steine an mit Worten des Schimpfens und der Klage, er fluchte sich und den Göttern und dem Könige. Mit blutenden Nägeln krallte er am spottenden Felsen und rannte mit dem Schädel gegen die Türe, bis er sinnlos zu Boden fiel, um wachend wieder aufzuspringen und, eine rasende Ratte, auf und ab durch das Viereck zu rennen.

    In diesen Tagen vom achtzehnten der Abgeschiedenheit bis zum neuen Monde durchlebte Virata Welten des Entsetzens. Ihn widerte Speise und Trank, denn Angst füllte seinen Leib. Keinen Gedanken mehr konnte er halten, nur seine Lippen zählten die Tropfen, die niederfielen, um die Zeit, die unendliche, zu zerteilen von einem Tage zum anderen. Und ohne dass er es wusste, war das Haupt grau geworden über seinen hämmernden Schläfen.
    »
Wer’s noch nicht hat: Insel-Bücherei Nr. 349 :!:
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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