War Rilke Erotomane?

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Georg Trakl
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Registriert: 30. Jan 2005, 17:30

War Rilke Erotomane?

Beitrag von Georg Trakl »

Im Souterrain des verlassenen Sanatoriums Valmont sur Territet entdeckte ich neulich während einer Studienreise in einem verstaubten Sekretär aus der Jahrhundertwende ein Konvolut vergilbter Manuskripte, unter denen sich auch ein Druckbogen mit nachfolgenden Versen und am Rande manuell hingekritzelten Worten, Verbesserungen gleich, fand, welche vermutlich in Rilkes letzten Lebenswochen entstanden sein könnten. Ortsansässige Schriftgelehrte könnten sich durchaus eine Urheberschaft unseres Meisters vorstellen, obgleich bei diesem Œuvre die Merkmale der bei Rilke sonst üblichen Endecasillabi fehlen und eher der Duktus von jambischen Fünfhebern verwendet wurde, was insofern merkwürdig ist, weil dadurch eine weibliche Kadenz in den Vordergrund gestellt wird - durchaus rilkeuntypisch also. Schweizer Bibliographen vermuten auch, dass der im dritten Absatze gepflogene Alexandriner eher in die Familie der Ronsard-Sonette einzuordnen wäre. Nun gut, typischer Gelehrtenstreit eben ...
Aber wozu gibt es das Rilke-Forum? Vielleicht findet sich hier ja der eine oder andere Rilke-Kundige, der Licht in die Angelegenheit bringen und die Provenienz dieses Gedichts zweifelsfrei Rainer Rilke zuordnen kann. Oder auch nicht. Ich bin für jeden Hinweis dankbar, da ich erst dann dieses Manuskript käuflich erwerben und meiner Familienbibliothek einverleiben möchte.
Hier nun das fragliche Opus postremus:

[Titel fehlt]

Der Schöpfergeist, der dieses Leibes Pracht,
Dies regsam Gliederwerk, hervorgebracht,
Er tat die Schönheit an den höchsten Ort,
Doch um sie gar nicht einzuschränken dort,
Nicht auf so kleinem Raume abzuschließen,
Ließ er vom Antlitz sie hinüberfließen,
In einen Busen, weiß wie Elfenbein,
So rund und kernig mag ein Ast wohl sein
Oder ein Pfeiler, drauf das Schauspiel gründet,
Welches unfehlbar von der Liebe kündet.

Dort hab in tiefinbrünstger Frömmigkeit
Ich manches Opfer, manchen Schwur geweiht
Aus einem Herzen, das von früh bis spät
Auf seinem Altare loh in Flammen steht.
Ich spreng und gieße es mit Tränen scheu
Statt Weihwasser und statt der Blumenstreu.

In dir, o Busen, also ruht mein Sinn,
Wie wölbst du dich, beginnend unterm Kinn,
Dem zarten Leibe zu, der - weiß und glatt,
Das Schachbrett bildet, welches schach und matt
Setzt Menschen sowie Götter, wenn mit ihren
Entzückten Blicken sie auf dir flanieren.
Busen, der meiner Herrin dient als Schild,
Sooft es Liebesglut zu dämpfen gilt,
Vor deiner kalten Front die Waffe streckt,
Der sie noch eben wild emporgereckt.
Er kann sie nimmermehr zum Herzen treiben:
Das wird ihm widerstehn und Sieger bleiben.
O Busen, der so oft die Kanzel ist,
Von der Frau Venus die Epistel liest,
Die in den Liebenden entfachen muß
Begierde nach dem herrlichsten Genuß.
O Busen, manchmal auch ein heil'ger Schrein,
Den zärtlich wir der Keuschheitsgöttin weihn,
Darin der Leumund, dieses edle Gut,
Meiner Geliebten als Reliquie ruht.
Busen, der manches strenge Urteil beugt:
Sind auch von Schuld die Richter überzeugt,
Wie bald wird ihre finstre Miene mild,
wenn Phryne etwas ihre Brust enthüllt.
Schatzkästlein, unversehrtes Heiligtum
Und Ruhestätte Amors, dessen Ruhm
Wir demutvollen Herzens preisen müssen:
Hätt's gern gewagt, mich ihm zu nahn mit Küssen,
Doch ach! Es würd mir keinesfalls gebühren,
Die Weihestätte auch nur zu berühren.
Begnüg ich mich doch, anzuschaun von weit
So holde Schönheit in Glückseligkeit.

O schöner Busen, Bild der höchsten Zier,
Als Zeugnis meiner Arbeit lass ich dir
Dies Blatt: die einz'ge Beute, die mir blieb,
Seit mir Priaps die alte Wunde hieb.
So mag er nun getreulich vor dir hangen,
Bis du, o Herrin, ihn hast eingefangen.

[Die etwa zehn darauf folgenden Zeilen sind leider durch
Streichungen und Überschreibungen unleserlich]


Abschließend möchte ich anmerken, dass ich das Gedicht unverändert - wie es der Verfasser hinterlassen hat in alter Rechtschreibung - rezipiert habe.
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