Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Allgemeine Fragen zu geistigen Interessen

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von lilaloufan »

Ihr Lieben,
in einem derzeit schnurrenden Gesprächsfaden ist für mich leider gerade kein Ansatz sichtbar, deutlich werden zu lassen, dass ich nicht vorgefertigte Ansichten und ästhetische Kategorien (angeblich „mystische“) ins Gespräch bringen will, sondern von dem ausgehen will, was Rilke selbst als seine dichterische Intention und als sein Welt-Erleben beschreibt.

Hinsichtlich konfessioneller Lehren und hinsichtlich theosophischer Ideengebäude hat Rilke sich, wie ich nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern seit Jahren hier gepostet habe, abweisend geäußert.

Das muss man mir also – bitte! – in diesem neuen Thema nicht entgegenhalten, wenn ich versuche der Frage (!) nachzugehen, ob Rilke
  • ▶ zwar die Lehre und religiöse bzw. esoterische Praxis, die er in der Kultur vorfand, als unbefriedigend und irrig empfand, aber
    ▶ aus seinem eigenen Welt-Erleben heraus Anhaltspunkte fand, die ihm bestätigten, dass es nicht illusionären Jenseitshoffnungen, sondern realen inneren Gewissheiten entspricht, auf der Suche zu bleiben und von Suche beseelt zu sein nach dem, worauf Konfessionen und spirituelle Weltanschauungslehren ihm nur unglaubwürdige Scheinantworten vorzugeben schienen.
Ich, lilaloufan, benenne die Richtung einer solchen Suche für mich selbst zwar gewiss anders als Rilke sie benannt haben würde, wenn er sie benannt hätte. Aber ich vermute, dass man sie zu Recht charakterisieren kann
  • ▶ als Suche nach einem geistig wahren Verständnis von Welten und Mensch und
    ▶ als Suche nach dem gegenläufigen und wechselwirkenden Prozess von
    ___• künstlerischer Vergeistigung des in den Dingen Sichtbaren und
    ___• Sichtbarmachung des Geistigen in den Dingen.
Na ja, mag man mir vielleicht sagen: Schließt du, lilaloufan, vielleicht von Dir und Deinem Welt-Anschauen, dessen Methodik Du unzweifelhaft – und hier einigemale erwähnt – Friedrich Schiller und Rudolf Steiner verdankst, auf Rilke? Im Sinne einer Inanspruchnahme womöglich, wie als Beleg für etwas von Rudolf Steiner Vorgebrachtes?

Daher sei hier eingestanden, dass ich natürlich, wie jeder von uns Nachgeborenen, nur Vorstellungen entwickeln kann von dem, was in Rilkes Seele vorging, und da mir Rilkes Worte oft unmittelbar zugänglich sind und wie langvertraut auf mich wirken, stelle ich mir freilich sein Seelenleben so vor, dass es zwar individuell verschieden von meinem, aber im Grundcharakter des Seelischen meinem doch ähnlich sein kann.

Ich gelobe aber, nicht spekulieren zu wollen, und wenn’s mir dennoch widerfährt, dann deutet mich bitte darauf hin, wo ich versäume, im Sinne des oben einleitend Geschriebenen von Rilke selbst auszugehen.

Ein Anfang sei gemacht mit einer Passage aus einem Brief Rilkes vom 4. Juni 1914:
Rainer Maria Rilke an Johannes Sorge hat geschrieben:Im rein Geistigen mag, wenn man sie ganz groß auffasst, die Kirche ein unabsehbarer Umkreis sein, der größte irdische, der, über eine fast unscheinbare Spur, ins Ewige übergeht –; wo aber einer (wie ich es bin) zunächst zu einer Sichtbarmachung des Geistigen [Hervorh. l.] verpflichtet ist, da muss ihm die Kunst als die überaus größere (als seine weiteste ins Unendliche überführende) Lebensperipherie einleuchten: Müsste er doch sonst sich versagen, ihren Gesetzen und Gestaltungen bis in jene Werke zu folgen, die außerhalb der christlichen Glaubensluft entstanden sind und immer noch, da und dort, in reinster Gültigkeit entstehen. Dass innerhalb der christlichen Kirche Gotteswege von seligstem Aufstieg und von der tiefsten Leistung können begangen werden, dafür sind die ungeheueren Beweise der Heiligenleben da und neben ihnen manches starke und herzliche Überstehen, vielleicht in unserer nächsten Nachbarschaft. Aber diese Überzeugung und Erfahrung schließt in mir nicht die Gewissheit aus, dass die gewaltigsten Verhältnisse zu Gott, wo Not und Antrieb zu ihnen da ist, auch im außerchristlichen Gemüt, in irgend einem ringenden Menschen, sich auszubilden vermögen, wie ja die ganze Natur, wo sie nur ihren Willen haben darf, unerschöpflich zu Gott übergeht.
Sichtbarmachung des Geistigen als die Gegenbewegung zu: Erde: unsichtbar! Meine Signatur hier im Forum lässt beide Gesten in Eins denken.

Soviel zunächst.
lilaloufan

{Nebenbei: ad: „Überstehen“: Der Gebrauch hier stellt manche Deutung der Schlusszeile des Requiems für Wolf Graf von Kalckreuth infrage, finde ich.}
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von stilz »

Lieber lilaloufan,
lilaloufan hat geschrieben:Aber ich vermute, dass man [die Richtung der Suche] zu Recht charakterisieren kann

▶ als Suche nach einem geistig wahren Verständnis von Welten und Mensch und
▶ als Suche nach dem gegenläufigen und wechselwirkenden Prozess von
___• künstlerischer Vergeistigung des in den Dingen Sichtbaren und
___• Sichtbarmachung des Geistigen in den Dingen.
Vollkommen einverstanden – das trifft sich ganz mit meinem Empfinden.

Und vielen Dank für das Briefzitat!
Rilke hat geschrieben:Aber diese Überzeugung und Erfahrung schließt in mir nicht die Gewissheit aus, dass die gewaltigsten Verhältnisse zu Gott, wo Not und Antrieb zu ihnen da ist, auch im außerchristlichen Gemüt, in irgend einem ringenden Menschen, sich auszubilden vermögen, wie ja die ganze Natur, wo sie nur ihren Willen haben darf, unerschöpflich zu Gott übergeht.
Das ist mir aus der Seele gesprochen.

Gerade das ist es übrigens, was mich - in einem derzeit pausierenden Gespräch - vor kurzem schreiben ließ :
stilz hat geschrieben:
lilaloufan hat geschrieben:„Wer ist es, der ‚das Wort‛ diktiert?“ fragst Du. Lass’ mich daraus die Frage bilden: „Wer ist ‚das Wort‛“, das man im Sinne des von Dir hier zitierten Prologs des Johannes-Logos-Evangeliums so leicht sollte zuordnen können.
[…]
Wenn alles gutgeht, wird eine Zeit kommen, in der wir uns in der Nachfolge eines Menschen-Urbilds, des „Menschensohns“ (Υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου), verstehen können, und zwar jenseits aller Religionslehren.
Da möchte ich zurückfragen:
»jenseits aller Religionslehren« --- wie soll das gehen, wenn Du fragst, »WER ist ‚das Wort‛«, und es gleichzeitig ganz ausdrücklich mit der zentralen Schrift einer einzigen Religion in Zusammenhang bringst, und nicht auch gleichzeitig mit den Schriften anderer Religionen?
Herzlich,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
sedna
Beiträge: 368
Registriert: 3. Mai 2010, 14:15
Wohnort: Preußisch Sibirien

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von sedna »

Ihr Lieben,
auch Dichtersein ist Vielfalt und "dichterische Intention" eines Dichters sollte es vor allem sein, Dichtung lebendig zu erhalten.
Wem das möglich ist, wird vermutlich von Dichtung gefunden, woraus noch mehr verdichtete Welt entsteht. Und egal welches "hundertfach Begonnene" samt Verworfenem darin hör- und sichtbar wird, es ist drin, ob der Dichter selbst wollte oder viel später noch haben will oder nicht! Es ist Entwicklung, die nicht einmal er selber eindeutig nachvollziehen kann. Denkt an die Jugenddichtung, die "vieler Entschuldigungen bedarf", wie er meinte ... Da war Rilke erst froh, später ist es ihm schwer gefallen, dazu (dieses vieldeutige Bild mal aufgreifend) "zu stehen". Wieso eigentlich? Jede einzelne seiner Erfahrungen war "gültig", weil Welt-bewegend! Was also ist "Sichtbarmachen des Geistigen" und wie lange hält es an? Heißt das nun Wahrnehmbarmachen im Sinne von 'Wahrheit vernehmen', die sich nicht "vorüberwandelt", so wie Dinge, Menschen, Engel, Religionen, Ideologien, Kulturen ...?
Es sind Auseinandersetzungen in der Kunst – hierzu könnte man ebenfalls seine Briefe zählen :shock: ?! Obgleich ich sie selbst gerne als "Beweise" heranzitiere. Mir fällt schon wieder Eco ein: "Bücher sprechen über Bücher."
"Dichtersein" trifft sich – hoffentlich noch ohne Navi – dort, wo gerade andere Dichter sind, in der Sprache.
Eure Fragen "Wer diktiert das Wort?" und "Wer ist das Wort?" daher ergänzend: Ist das Wort ein schöner Ort?
Oder fraglos, umgekehrt: Kommt das Wort zum Dichter und sagt: "Mach mich ganz."

Schnurren lassend:

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von lilaloufan »

sedna hat geschrieben:Eure Fragen "Wer diktiert das Wort?" und "Wer ist das Wort?" daher ergänzend: Ist das Wort ein schöner Ort?
Oder fraglos, umgekehrt: Kommt das Wort zum Dichter und sagt: "Mach mich ganz."
Ich denke nein. Das Wort ist weder unvollkommen noch reparaturbedürftig; nur der Gebrauch, den wir davon machen, kann angemessener oder unangemessen, dichterischer oder weniger dichterisch sein. Das Wort hat eine Entwicklung hinter sich, die einerseits devolutionär, andererseits involutiv ist – ich habe das in Posting 16164 versucht zu skizzieren, aber es will mir nicht recht gelingen, es vollständig auszuarbeiten:
  1. Schöpfer-Wort
  2. Engel-Wort
  3. kultisches Wort
  4. Propheten-/ Evangelisten-/ Eingeweihten-Wort
  5. mantrisches Wort
  6. poetisches Wort
  7. philosophisches Wort
  8. Gesetzeswort
  9. kommunikatives Wort
  10. Gebell
Wie gesagt, das ist noch in Werkstatt.

Was man aber sagen kann: Rilke hat den Grimm eifrig genutzt, hat den Herkunften und den vergessenen Bedeutungen der Worte nachgespürt, ihrer Menschlichkeit, ihrer Schönheit und Fülle, ihrer Kraft. Und er hat Wort neu geprägt. Er hat sie nicht „ganz“ werden lassen, sondern sie ins Offene geführt, den Reiz des Nichtgeschlossenen künstlerisch gehandhabt, der Phantasie des Sprechenden Atemraum gegeben. Er hat ihre Wahrheit aufgesucht; das ist weit mehr als ihre Bedeutung. Immer sind Worte weiser als ihre Nutzer. Und er hat sie geliebt. Als ein sie Liebender ist er zu ihnen – nicht sie zu ihm – gekommen, ringend, auch beim beidhändigen Schreibsturm dann auf Duino, beinah’ hätt’ ich Patmos geschrieben. Spätere sind am Wort verzweifelt, vor dem Wort verstummt, gerade wenn ihnen ihr Mysterium vertraut war und sie es vor dem Missbrauchtwerden schützen wollten. Nicht Rilke. Hinaufzulangen bis zum Engel-Wort („Sieh“) hat er versucht; das Gebell in den Schluchten der Städte war ihm Graus. „Mach mich ganz“ sagt nur das verwahrloste Wort; das geahnte Wort sagt: „Lass’, die mich vernehmen, ganz werden“, ganz Mensch vielleicht, wenn man’s so auffassen mag. Ich belasse es für heute mal mit dem eben gefundenen Begriff: Das Wort will erahnt werden. Nicht geflickt. Nicht in Behauptungen verstrickt. Die Dichter, seine Ahner, geben ihm Zukunft.

lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von lilaloufan »

sedna hat geschrieben:Du machst es mir nicht einfach ... :)
Rilke am 14.Ⅴ.1904 hat geschrieben:Die Leute haben (mit Hilfe von Konventionen) alles nach dem Leichten hin gelöst und nach des Leichten leichtester Seite; es ist aber klar, dass wir uns an das Schwere halten müssen; alles Lebendige hält sich daran, alles in der Natur wächst und wehrt sich nach seiner Art und ist ein Eigenes aus sich heraus, versucht es um jeden Preis zu sein und gegen allen Widerstand. Wir wissen wenig, aber dass wir uns zu Schwerem halten müssen, ist eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird
Wie schön sedna, dass Du dennoch antwortest und das mit unübersehbarem Smiley sagst. Der sei auch Dir entgegen gelächelt. :)

Das Altarbild haben wir ja hier, das Wort vom beidhändigen Schreiben hier schon mal reflektiert, in einem nach der technischen Forumskrise noch einmal aktualisierten Gespräch.

Danke auch für den kodikologischen Hinweis samt Bild.

Ob Ekelöf Alemannisch kannte? Ich vermute eher, dass im Original ein schwedischer Dialekt genannt ist und der in Friesland aufgewachsene Übersetzer (jetzt Berliner) gnitz die entlegenste der ihm bekannten Lokal-Mundartvarietäten dort eingesetzt hat; wer weiß es? Dialekt galt Goethe ja als „doch eigentlich das Element, in welchem die{se} Seele ihren Atem schöpfe“. Ja, daraus möchte man orphisch singen können.

„Lass mich klingen“ meint Dein: „Mach mich ganz“! Wie schön; darauf wär’ ich nicht gekommen. Also nicht die helle Tasse mit ihrem dunklen Sprung, denn die hätte keine Chance mehr, und klebte man sie mit Siebenkomponentenzeugs. — Ja, „lass mich klingen“ sagt nicht verwahrlostes, das sagt das noch unerlöste, noch nicht aus dem Schlaf des Intellekts erweckte Wort: „Die Dinge singen hör’ ich so gern.
sedna hat geschrieben:In Wahrheit liegen unsere Ansichten wohl näher beisammen, als es den Anschein hat.
Find’ ich auch.

lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von stilz »

sedna hat geschrieben:Darin versteckt sich die Redensart "Rotwelsch reden" (= kauderwelschen), wird "Rottweilsch singen", im Sinne von unverständliches, unschönes Gebell.
Ich kenne Ekelöf nicht und weiß nicht, wie es im Original heißt, aber:
Rotwelsch ist nicht dasselbe wie Kauderwelsch, sondern so wird die (deutsche) Gaunersprache bezeichnet.

:lol: Kleine Anmerkung aus Wien, wo das durchaus noch ein gängiges Wort ist,
von
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von lilaloufan »

sedna, [b]deutlich in Klammern[/b], hat geschrieben:(Dein Punkt 10 erinnerte mich daran, daß Der ketzerische Orpheus versuchte, "Rottweilerisch" zu singen, ist mißlungen, sagt er, aber ich hätte es gerne gehört ...)
Wär’ ich doch nur auf dieses aside nicht eingegangen! Jetzt bin ich aber ganz dafür, dass wir alle uns noch mal an das Thema erinnern; sonst wundert sich die Nachwelt einmal sehr, was da alles unter der Überschrift: „Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen“ zu finden ist und vor allem, was alles zu ihrem (und meinem) Bedauern nicht.

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
sedna
Beiträge: 368
Registriert: 3. Mai 2010, 14:15
Wohnort: Preußisch Sibirien

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von sedna »

Schweren Herzens gelöscht.

Entschuldige bitte:

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
helle
Beiträge: 342
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von helle »

lilaloufan hat geschrieben: sonst wundert sich die Nachwelt einmal sehr
(und die Mitwelt staunt. Rufe Herrn Enzensberger in den geistigen Zeugenstand; auch die Blindenschrift, 1964, kann sichtbar machen)

weiterung

wer soll da noch auftauchen aus der flut,
wenn wir darin untergehen?

noch ein paar fortschritte,
und wir werden weitersehen.

wer soll da unsrer gedenken
mit nachsicht?

das wird sich finden,
wenn es erst so weit ist.

und so fortan
bis auf weiteres

und ohne weiteres
so weiter und so

weiter nichts

keine nachgeborenen
keine nachsicht

nichts weiter
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von lilaloufan »

sedna in [url=http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=17007#p17007]Posting 17007[/url] hat geschrieben: Du befindest Dich bereits inmitten des unerschöpflichen Buches, das wir machen, eines, in dem man nirgendwo auf "Keine Vorschau" oder "Snippet-Ansicht" stößt ... :)
Weiter so; viel Erfolg! Nichts weiter l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Moderne Lyrik

Beitrag von stilz »

Ich versuche also, zum Thema zurückzukehren – zu lilaloufans Frage danach, »was Rilke selbst als seine dichterische Intention und als sein Welt-Erleben beschreibt.«

In seinem 1898 in Prag gehaltenen Vortrag über Moderne Lyrik heißt es (unter vielem anderen — ich empfehle von Herzen die Lektüre, nicht nur wegen des Was, sondern fast noch mehr wegen des Wie...):

»Sehen Sie: seit den ersten Versuchen des Einzelnen, unter der Flut flüchtiger Ereignisse sich selbst zu finden, seit dem ersten Bestreben, mitten im Gelärm des Tages hineinzuhorchen bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens, – giebt es eine Moderne Lyrik.
[…]
Wer durchaus Stammbäume liebt, der möge ruhig in dem Dichter der Divina Comedia den Ahnherrn unseres jungen Dichtergeschlechtes erkennen und eingestehen, daß es von altem Adel ist. Den anderen wieder kann ich die Versicherung geben, daß in dem Vorbilde des hohen Florentiners für jeden Schaffenden die Gewähr liegt, ein ahnenloser Erster zu sein, wenn er nur tief genug in sich hineinhorcht bis zu jenem Nochniegesagten und Neuen, welches mit ihm beginnt. Erst dann, wenn der Einzelne durch alle Schulgewohnheiten hindurch und über alles Anempfinden hinaus zu jenem tiefsten Grunde seines Tönens hinabreicht, tritt er in ein nahes und inniges Verhältnis zur Kunst: wird Künstler. Dieses ist der einzige Maßstab. Alles andere Beschäftigen mit Pinsel oder Feder oder Meißel ist nur eine persönliche Gewohnheit, welche dem Einzelnen und seiner Umgebung gleichgültig oder lästig sein kann, wie etwa das Tabakrauchen oder das Daumendrehen. Es giebt auch auf diesen Kunstgebieten Leute von großer Fertigkeit, die man gelten lassen muß. Aber ich glaube kaum, daß sie bei aller Virtuosität etwas beitragen werden zu dem großen Fortschritt, nach welchem der dumpfe Drang der Massen sich ebenso sehnt, wie das lichte liebende Vertrauen der Einsamen. Denn vergessen Sie nicht, daß die Kunst nur ein Weg ist, nicht ein Ziel. Es müßte sonst die letzte Absicht des Malers sein, Farben in die Welt zu setzen, und der Musiker müßte seine tiefste Erfüllung darin begrüßen, aus seinen Tönen Klangpaläste zu bauen, was doch schließlich nichts bedeutete, als die Harmonie des Alls, die eine große Ordnung durch diese unzulänglichen Miniaturen zu stören und nachzuäffen. Diese unglückselige Meinung, daß die Kunst sich erfülle in der Nachbildung (sei es nun der idealisierten oder möglichst getreuen Wiederholung) der Außenwelt, wird immer wieder wach. Die Zeit, welche diesen Aberglauben erweckt, schafft zugleich auch immer von neuem diese scheinbare Kluft zwischen der künstlerischen Betätigung und dem Leben. Und indem sie dies tut, zieht sie die einzig möglichen Konsequenzen ihres Irrtums. In der Tat: wenn dem so wäre, so würden die Künstler wie Kinder oder Kretins sein, welche, während Männer in Waffen gehn, Kartenhäuser bauen oder ihr blödes Lächeln in dem Glanze bunter Glaskugeln bespiegeln. Wäre aber einer unter diesen, mit reifem und vollem Verstande, ich glaube, den müßte man ja aus seinem feigen Hinterhalt mit tiefster Verachtung herauspeitschen.
[…]
Kunst erscheint mir als das Bestreben eines Einzelnen, über das Enge und Dunkle hin, eine Verständigung zu finden mit allen Dingen, mit den kleinsten, wie mit den größten, und in solchen beständigen Zwiegesprächen näher zu kommen zu den letzten leisen Quellen alles Lebens. Die Geheimnisse der Dinge verschmelzen in seinem Innern mit seinen eigenen tiefsten Empfindungen und werden ihm, so als ob es eigene Sehnsüchte wären, laut. Die reiche Sprache dieser intimen Geständnisse ist die Schönheit.

So sehen Sie also, daß der Künstler nichtnur kein Ausgeschalteter des Lebens ist, sondern, daß vielmehr die Kunst sich darstellt als eine bewegtere – ich möchte sagen – unbescheidenere Lebensform, indem der Schaffende auch an die schweigsamsten Dinge mit seinen flehenden Fragen herantritt und, mit keiner Antwort zufrieden, immer weiter muß.«


Das scheint mir sehr gut zu passen sowohl zu dem berühmten Ausspruch im Kappus-Brief vom 16. Juli 1903:
»ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.«

– als auch zu dem Satz aus der Einleitung*) der Worpswede-Monographie, den sedna vor kurzem hier in größerem Zusammenhang zitiert hat:
»Das ist alle Kunst: Liebe, die sich über Rätsel ergossen hat, – und das sind alle Kunstwerke: Rätsel, umgeben, geschmückt, überschüttet von Liebe.«

- - -

:lol: Vielen Dank, helle, für die in Enzensbergers Blindenschrift sichtbar gemachte Weiterung... was für ein schöner Kontrapunkt!

Rilke spricht im zitierten Vortrag vom Anfang einer neuen Epoche und sagt darüber:
»Daß darin die große, vielleicht mächtigste Bedeutung der Lyrik besteht, daß sie dem Schaffenden ermöglicht, unbegrenzte Geständnisse über sich und sein Verhältnis zur Welt abzulegen, kann nur von einer Zeit erkannt werden, welche fühlt, daß sie etwas eingestehen will. Und das sind weder Mitten noch Enden von Perioden, sondern stets reiche Anfänge, welche ihr Herz auf der Zunge tragen. Denn Mittelperioden sind zu bequem einerseits und zu tätig nach der anderen Richtung hin, um viel zu erzählen, Enden sind zu greisenhaft und zu müde dazu – nur junges Beginnen hat etwas zu bekennen und nur der Anfang ist auch vertrauensvoll genug, um aufrichtig, ohne Falsch zu verraten, wie ihm zumute ist.«

Das läßt in mir die Fragen aufsteigen:
Wie lange dauert wohl ein solcher Anfang?
Und wie würde Rilke (eingedenk des Jacobsen-Zitates im Eingang*) der Worpswede-Monographie) wohl den drei Jahre nach seinem (Rilkes) Tod geborenen Hans Magnus Enzensberger charakterisieren?

- - -

*) Diese Einleitung findet sich leider derzeit nicht auf rilke.de, ebensowenig wie der Absatz »Zum Eingang« mit dem Jacobsen-Zitat...
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
Beiträge: 342
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von helle »

stilz hat geschrieben:wie würde Rilke (eingedenk des Jacobsen-Zitates im Eingang*) der Worpswede-Monographie) wohl den drei Jahre nach seinem (Rilkes) Tod geborenen Hans Magnus Enzensberger charakterisieren?
Liebe stilz,

ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, danach zu fragen. Man kann doch nur vermuten, und »ein Kerl, der spekuliert«, sagt Mephistoteles im Studierzimmer, »ist wie ein Tier, auf dürrer Heide / von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, / und ringsumher liegt schöne, grüne Weide.«

Rilke hat die expressionistische Lyrik abgelehnt, aber Trakls oder Kafkas Besonderheiten genau gesehen, diese Dinge sind hier ja auch diskutiert worden. Wer weiß schon, was er an Enzensberger oder Celan gesehen hätte.

Enzensberger ist nicht nur eine andere Zeit und Sozialisation, sondern auch ein anderes dichterisches Temperament, das klingt sicher nach subjektiver Kategorie, aber ich glaube, daß es so etwas gibt. Er ist Heine oder Nietzsche viel näher als Rilke, dem es an jenem Funken göttlicher Bosheit gefehlt hat, der für Nietzsche zur Vollkommenheit gehört. Aber das sind so ausgedehnte Felder, daß man nur an ihrem Rand gehen kann. Man könnte doch auch sagen, gut, daß es Rilke daran fehlt, Zynismus ist ja keine Notwendigkeit und eher Haltung. Das hängt wiederum vom eigenen Temperament ab.

Hier, glaube ich, ist die Frage nicht am richtigen Platz und vielleicht hat sie auch keinen.
Gruß von helle
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von stilz »

Lieber helle,

ah, so hatte ich meine Frage auch nicht gemeint.

Es ging mir mehr darum, ob Enzensberger, oder auch die noch späteren „Heutigen“, noch immer am Anfang der Zeitperiode stehen, von der Rilke sprach --- oder ob die Zeit des Anfangs, der unbegrenzten Geständnisse über sich und sein Verhältnis zur Welt – ob diese Zeit inzwischen vorüber ist.

Einmal abgesehen vom „künstlerischen Temperament“:
Stehen wir heute wohl bereits in der Mitte der von Rilke bezeichneten Epoche (und sind bequem, oder nach der anderen Richtung hin tätig), oder sind wir gar schon greisenhaft und müde geworden?
Am „Bosheitsfunken“ kann's nicht liegen: da Rilke die Epoche mit Dante beginnen läßt, ist Heinrich Heine durchaus mit drin in diesem Anfänglichen. Was mir auch stimmig erscheint.

Um noch einmal, ein wenig zumindest, auf das von lilaloufan ursprünglich benannte Thema zurückzukommen:
Horchen auch unsere heutigen Dichter mitten im Gelärm des Tages hinein bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens, um in ihren Werken das Geistige sichtbar zu machen, das sie auf diese Weise finden – oder haben sie ihre „Lauschrichtung“ geändert und be-dichten lieber das Gelärm des Tages?

Und auch: wieviel davon ist dem „Zeitgeist“ geschuldet, wieviel dem „künstlerischen Temperament", wieviel der Individualität des jeweiligen Dichters?

:lol:
Es ist mir natürlich bewußt, daß es auf all diese Fragen keine schnellen, eindeutigen Antworten geben kann; und auch, daß hier möglicherweise nicht der rechte Platz für sie ist.

Aber ich entschließe mich dazu, diese Fragen liebzuhaben, wie verschlossene Stuben etc etc ...

Herzlich,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
Beiträge: 342
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Dichtersein: Sichtbarmachen des Geistigen

Beitrag von helle »

Liebe stilz,

ich verstehe Deine Frage jetzt besser und muß die voreilige Antwort entschuldigen.

Sie erscheint mir aber ähnlich unbeantwortbar, nur aus anderen Gründen. Man müßte m.E. entweder die konkurrierenden Periodisierungsversuche der europäischen Literaturgeschichte (sind nicht so wenig) oder Rilkes Gedanken diskutieren, Dante als Beginn neuzeitlicher künstlerischer Subjektivität zu sehen.
Allein die Frage, in welcher Form die Nachahmung (der Natur) als oberstes oder gar einziges Kunstprinzip gegolten hat und wann dann vielleicht nicht mehr usw. (»Diese unglückselige Meinung, daß die Kunst sich erfülle in der Nachbildung (sei es nun der idealisierten oder möglichst getreuen Wiederholung der Außenwelt)«), hat zahllose Seiten mit Druckerschwärze gefüllt, ich kann für mich hier nur sagen, das übersteigt meine zeitlichen Möglichkeiten, was natürlich keine Diskussion verhindern soll.

Was dagegen die Literaturgeschichte angeht, ist es schwer, eine Periode von Dante bis Rilke ohne einige Zäsuren anzusehen. Ich denke, daß Klopstock so etwas war, etwas Neues, und in seiner Folge Hölderlin, der seinem Freund Böhlendorff in einem oft kommentierten Brief nach seiner Rückkehr aus Frankreich schreibt »ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Charakter nehmen«, daß sich mit Goethe auch (aber nicht nur) in literarhistorischer Hinsicht eine Epoche schließt, daß nichts zuvor und nichts danach der französischen Lyrik Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts gleicht und daß in der deutschen Literatur auch der Expressionismus unter einem neuen Vorzeichen steht. Hier z.B. finde ich die Alternative »Horchen auch unsere heutigen Dichter mitten im Gelärm des Tages hinein bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens, um in ihren Werken das Geistige sichtbar zu machen, das sie auf diese Weise finden – oder haben sie ihre „Lauschrichtung“ geändert und be-dichten lieber das Gelärm des Tages?« gar nicht zwingend, aber dies wäre ein neues Thema.

Jede Periodisierung müßte auf die ihr zugrunde liegenden Kriterien geshen werden. Ich glaube, und das betrifft auch meine Vorbehalte gegen allzu lange Abhandlungen hier, für dieses Forum ist es weiterführend, wie ja vielfach schon geschehen, Rilkes allgemeine Thematisierung der Kunst im Blick auf seine eigenen künstlerischen Realisierungen zu betrachten.

Bon samedi soir!
h.
Antworten