Jede dumpfe Umkehr der Welt

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vivic
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Freunde,

Ich moechte hier nur eine kurze Beobachtung machen die fuer mich irgendwie im Hintergrund dieses Themas schwebt und nicht besonders unseren Dichter angeht. Wenn es euch nichts sagt, dann vergesse es bitte und verzeih.

Naturwissenschaftler wissen sehr viel ueber den typischen Lebenslauf einer Ameise, weil sie sehr viele von diesen Tieren beobachten koennen und daher allgemeine Wahrheiten entdecken. Man weiss auch viel ueber den typischen Lebenslauf eines Menschen, Wichtiges auch, wenn auch Oberflaechliches. Dazu gehoeren die typischen Wendepunkte, wie Pubertaet, Heirat, Kinderhaben, sich fuer einen Beruf entscheiden, alt und krank werden, usw. Gewiss verstehen wir verdammt wenig ueber die Menschliche Seele, aber ein guter Arzt kann doch in manchen Faellen sehr nuetzlich sein. Wir verstehen diese Entwickelungen ein wenig weil wir eben viele, viele Beispiele zur Verfuegung haben.

Wir kennen aber nur EIN Beispiel der Entwickelung einer "intelligenten" Art (species) wie die Menschheit auf einem Planeten, eine Species die eine Technologie erfindet. Fuer uns ist das ein einmaliges Phaenomen; wir haben keine Vergleichsobjekte, nicht ein enziges. Wir koennen nicht tausende solcher Planeten beobachten und allgemeine Wahrheiten entdecken ueber Menschheitsentwickelung. Vielleicht eines Tages, aber so etwas ist heute nicht in Aussicht.

Also haben wir keine Ahnung was die typischen Wendepunkte sind fuer so eine Tiergattung. So etwas wie der Planet Erde in Jahre 2013 (oder, fuer RMR, in 1922) ist fuer uns, fuer unser beschraenktes Verstehen, absolut neu und unbekannt. Vielleicht zerstoeren sich und ihren Planeten immer solche Tiere?? Vielleicht kommen im Laufe der Technologischen Entwickelung ganz andere typische Phasen, die wir uns kaum vorstellen koennen? Wer von uns haette in unserer Kindheit den Internet vorstellen koennen?

Wenn diese an sich ganz einfache Ueberlegung richtig ist, dann sind ALLE Aussagen ueber menschliche Wendepunkte ziemlich leer. Wir leben immer am Rande des total Unbekannten: ein Geheimnis das immer geheimnisvoller wird. Wir haben nicht die kleinste Ahnung, wie das alles in ein Tausend Jahren aussehen wird, wenn man unseres Jahrhundert betrachtet.

Vivic
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lilaloufan
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von lilaloufan »

Friedrich Schiller hat geschrieben:It may be urged that every individual man carries within himself, at least in his adaptation and destination, a purely ideal man. The great problem of his existence is to bring all the incessant changes of his outer life into conformity with the unchanging unity of this ideal.
Lieber Vito, das steht im vierten der „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen“, Anfang des zweiten Absatzes. Es bezieht sich auf Fichtes Gedankengang:
Fichte hat geschrieben:Die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, und – damit er mit sich selbst übereinstimmen könne – die Übereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendigen praktischen Begriffen von ihnen, – den Begriffen, welche bestimmen, wie sie sein sollen, – ist das letzte höchste Ziel des Menschen. Diese Übereinstimmung überhaupt ist, dass ich in die Terminologie der kritischen Philosophie eingreife, dasjenige, was Kant das höchste Gut nennt: welches höchste Gut an sich, wie aus dem obigen hervorgeht, gar nicht zwei Teile hat, sondern völlig einfach ist: es ist – die vollkommene Übereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst. In Beziehung auf ein vernünftiges Wesen, das von den Dingen außer sich abhängig ist, lässt dasselbe sich als zweifach betrachten: – als Übereinstimmung des Willens mit der Idee eines ewig geltenden Willens, oder – sittliche Güte – und als Übereinstimmung der Dinge außer uns mit unserem Willen (es versteht sich mit unserem vernünftigen Willen) oder Glückseligkeit. – Es ist also – im Vorbeigehen sei dies erinnert – so wenig wahr, dass der Mensch durch die Begierde nach Glückseligkeit zur sittlichen Güte bestimmt werde; dass vielmehr der Begriff der Glückseligkeit selbst und die Begierde nach ihr erst aus der sittlichen Natur des Menschen entsteht. – Nicht: Das ist gut, was glückselig macht; sondern: Nur das macht glückselig, was gut ist. Ohne Sittlichkeit ist keine Glückseligkeit möglich. Angenehme Gefühle zwar sind ohne sie – und selbst im Gegenstreite gegen sie – möglich, und wir werden an seinem Orte sehen, warum; aber diese sind nicht Glückseligkeit, sondern oft widersprechen sie ihr sogar.

Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eigenen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muss, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu sein, und wenn er nicht Gott werden soll. Es liegt im Begriffe des Menschen, dass sein letztes Ziel unerreichbar, sein Weg zu demselben unendlich sein muss. Mithin ist es nicht die Bestimmung des Menschen, dieses Ziel zu erreichen. Aber er kann und soll diesem Ziele immer näher kommen: Und daher ist die Annäherung ins Unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d. i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen. – Nennt man nun jene völlige Übereinstimmung mit sich selbst Vollkommenheit, in der höchsten Bedeutung des Wortes, wie man sie allerdings nennen kann: So ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare Ziel des Menschen; Vervollkommnung ins Unendliche aber ist seine Bestimmung. Er ist da, um selbst immer sittlich besser zu werden, und alles rund um sich herum sinnlich, und wenn er in der Gesellschaft betrachtet wird, auch sittlich besser und dadurch sich selbst immer glückseliger zu machen.
Meinst Du wirklich, das kann ein „höheres Tier“ denken? Selbstreflexiv?
vivic hat geschrieben:Fuer uns ist das ein einmaliges Phaenomen; wir haben keine Vergleichsobjekte, nicht ein einziges.
Du sagst es also selbst.

Won’t you acknowledge that next to the kingdoms of nature there is another one: the kingdom of mankind, nowadays being busy to build a new unique kingdom into the culture: that of technology, even with its self-destructive outgrowths? Couldn’t so the contradictions that preoccupy you become get healed completely?

Ha, es reizte mich einerseits, Dir eine abendfüllende Antwort zu geben. Du beobachtest gut, und ich würde mich erst mal nicht Deinen Fragen zuwenden, sondern Deinen Schlussfolgerungen [„Also haben wir …“; „Wenn (…), dann sind ALLE Aussagen ueber menschliche Wendepunkte ziemlich leer“] widersprechen (gerade mit Blick auf Rilkes Wende-Worte, deren einige Du im Eröffnungsbeitrag benennst); aber andererseits würde solcherlei Antwort nur neue Rätsel eröffnen und uns keines lösen. Mag eine unfertig bleibende und doch beruhigende Antwort vielleicht im Dialog zwischen Freunden entstehen? Hier also – nach Deinem – mein erstes Wort dazu.

l.
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stilz
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von stilz »

Ich möchte einerseits sagen, daß auch ich noch mitlese, sehr nachdenklich ob Eurer so unterschiedlichen Gedanken...

Und andererseits möchte ich Dir, lieber Christoph, zu bedenken geben:
lilaloufan hat geschrieben: ...
Meinst Du wirklich, das kann ein „höheres Tier“ denken? Selbstreflexiv?
...
„Tier“ sagen wir auf deutsch, wo es im Englischen "animal" heißt - beseeltes Wesen.

Und ein „höheres beseeltes Wesen“ --- das ist doch der Mensch, nicht wahr?

Herzlichen Gruß, und Gute Nacht!

Ingrid
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vivic
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Zur Etymologie: ja, "animal" stammt vermutlich von Latein "anima" = "Seele." "Tier" scheint kompliziert zu sein, hier Wiki:

Herkunft:

[1] von mittelhochdeutsch ‚tier, dier‘, althochdeutsch ‚tior, tëor‘ germanisch ‚*deuza- n‘ „wildes Tier“ – vermutlich zur indoeuropäischen Wurzel ‚*dheu-‘ „blasen, atmen“ im Kontext „atmendes Wesen, Lebewesen“ (analog zu lateinisch ‚animal → la‘ „Tier“ zu ‚anima → la‘ „Seele“). Das Wort ist seit dem 8. Jahrhundert belegt.[1]
[2] spezialisierte Beibehaltung der älteren Bedeutung „Wildtier, Wild“, ähnlich englisch ‚deer‘

"Blasen" und "Atmen" haben, sicher, eine Verwandtschaft zu "anima" ???

Vivic
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lilaloufan
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Re: Jede dumpfe Umkehr …

Beitrag von lilaloufan »

Ihr Lieben,
τὸ πνεῦμα ὅπου θέλει πνεῖ, "the wind blows where it wishes", da können wir etwas wiedererkennen von uns selbst, die wir nicht nur ANIMAL RATIONALE, höheres beseeltes Wesen, sind, sondern, wie heißt es an der hier zitierten Stelle bei Johannes im dritten Kapitel, "born of the Spirit".

Unser Windflüsterer sprach mit dem Winde; dass man diesen Wind wieder verstehen konnte nach Jahrhunderten der Taubheit, das war das „unerhört“ :wink: Neue: Es war „an der Zeit“. Orpheus' an den Sternenhimmel versetzte Lyra war verstummt, und in der Stille reifte das Menschenwort, das dem Engel die Welt pries, die hiesige.

Ich lasse den Wind hier nun mal wehen wo er will, habe sein Sausen wohl vernommen und verabschiede mich aus diesem Thread mit herzlichem Dank für die Denkanstöße in @vivic Deinen ursprünglichen Fragen, in denen es um Rilke ging und um den Zeitgeist in Rilkes Wende-Zeit. Nun setzt die Segel; 't seems I'm somewhat like a landlubber :)!

Grüße von Christoph
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Freunde,

OK, ich nehme an, meine letzte Posting war ein Fehlschlag. Nur noch ein Versuch … in einer anderen Richtung.
Lilaloufan, du hast geschrieben:

Rilke als Seismograph, als Mitgehilfe oder als meisterlicher Vorreiter jener Zeitgeist-Wende – wenn das die Frage ist, dann möchte ich dieses Forum nicht dessen verdächtigt finden, hier sei nur eine, die preisende Antwort willkommen oder gar einzig zugelassen.

So hoffe ich dass du uns dich doch nicht voreilig verabschiedest, guter Lilaloufan, denn du bist ja selber das halbe Forum.

Die Antworten bisher haben Religion (den Gekreuzigten) und auch die moderne Physik (Einstein) betroffen, Gegenstaende, die ich selber nicht genuegend verstehe, aber Literaturgeschichte haben wir bis jetzt noch nicht diskutiert. Hier aber ist Rilke tatsaechlich allgemein anerkannt als “Seismograph.” Ueberall lese ich dass der MALTE Roman als “erster Roman der Deutsche Moderne” gilt; Rilke oeffnete den Weg fuer Autoren wie Doeblin und Musil. Ich moechte hier weder eine Definition des Modernismus noch eine Interpretation Rilke’s Roman’s wagen; vielleicht koennen wir mindestens ungefaehr zustimmen dass MALTE sich zu einem klassischen Roman wie MADAME BOVARY verhaelt wie ein Kubistisches oder Surrealistisches Gemaelde zu einem von Ingres oder Franz Hals. MALTE ist keine gewoehnliche, lineare Erzaehlung sondern eher eine Kollage von Trauemen, Erlebnissen, und Gedankengaenge. “Auch das Naechste ist weit fuer die Menschen”? Bestimmt! Fuer seine Leser war MALTE sicher ein ganz neues Leseerlebnis.

Rilke als Seismograph? Ja, ja, ja. Erstaunt stelle ich fest, dass Joyce’s ULYSSES und Eliot’s WASTELAND erst in 1922 erschienen, ein Jahrzehnt nachdem MALTE schon den Deutschen Lesern die Moderne eroeffnete. Aber 1922 hatte fuer unseren Dichter eine ganz andere Bedeutung…

Und damit moechte ich enden. Denn eines der Kennzeichen der literarischen Moderne ist dass der Roman das lyrische Gedicht ueberholte; seitdem ist die wichtigste Literatur meistens Prosa. Nicht aber fuer Rilke, fuer dem der MALTE eher etwas zu ueberleben und loszuwerden war. Es hat ihm Jahre gekostet. Und das hat natuerlich zu tun mit dem Inhalt, dem vorwiegend Negativen, Haesslichen, Depriemierenden.

Er hat nie wieder einen Roman geschrieben, sondern hat sich zum Positiven gewendet, zur Liebe, zur Ruehmung, zum Preisen, and hat uns “das Leben bereichtert,” wie Lilaloufan sagt, in Hunderten der schoensten Deutschen Gedichten. Und viele von diesen sind in Form ganz traditionnel! Hier, im lyrischen Gedicht, war er KEIN Seismograph der Moderne, sondern “staerkte in uns die Bewahrung der noch erkannten Gestalt.” War es Benn der sagte dass Rilke das Deutsche Gedicht “vollendet” hat?
Was meint ihr dazu??

Vivic
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stilz
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von stilz »

Lieber Vivic,

oh, bitte nicht so schnell annehmen, daß Dein letztes posting ein „Fehlschlag“ gewesen sei, ich möchte schon gern noch auf die Frage antworten, die Du darin gestellt hast!
Ich jedenfalls finde sie nicht irgendwie „unpassend“. Und es ist ja gewissermaßen Deine Frage von Anfang an: Du hast nie nur danach gefragt, was Rilke gemeint haben könnte, sondern immer auch danach, ob er denn „recht hat“ mit dem, was er sagt.

Und ich finde die Frage sehr interessant, ob wir, die wir Teil davon sind, denn überhaupt jetzt schon, während es geschieht, etwas sagen können von der „Richtung“, in die wir uns insgesamt bewegen – oder ob wir das erst hinterher werden sagen können, wenn die gesamte Erden-Entwicklung „abgeschlossen“ sein wird.

In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ spricht Johann Gottfried Herder den Gedanken aus, daß die Entwicklungen auf unserem Planeten zusammenhängen nicht nur mit der Größe der Erde, sondern auch mit dem Verhältnis und der Dauer »ihres Umschwungs um sich und ihres Umlaufs um die Sonne«. Die Erde nennt Herder dabei einen »mittleren Planeten« im Vergleich zu Merkur und Venus, die sie »unter sich«, und Mars, Jupiter, Saturn und Uranus, die sie »über sich« hat…
Und weiter:
Johann Gottfried Herder hat geschrieben:Das Verhältnis unsrer Materie zu unserm Geist ist vielleicht so aufwiegend gegeneinander als die Länge unsrer Tage und Nächte. Unsre Gedankenschnelligkeit ist vielleicht im Maß des Umschwunges unsres Planeten um sich selbst und um die Sonne zu der Schnelligkeit oder Langsamkeit andrer Sterne, so wie unsre Sinne offenbar im Verhältnis der Feinheit von Organisation stehen, die auf unsrer Erde fortkommen konnte und sollte. Zu beiden Seiten hinaus gibt es wahrscheinlich die größesten Divergenzen. Lasset uns also, solange wir hier leben, auf nichts als auf den mittelmäßigen Erdeverstand und auf die noch viel zweideutigere Menschentugend rechnen. Wenn wir mit Augen des Merkurs in die Sonne sehen und auf seinen Flügeln um sie fliegen könnten; wenn uns mit der Raschheit des Saturns und Jupiters um sich selbst zugleich ihre Langsamkeit, ihr weiter, großer Umfang gegeben wäre oder wenn wir auf dem Haar der Kometen, der größesten Wärme und Kälte gleich empfängig, durch die weiten Regionen des Himmels schiffen könnten: denn dörften wir von einem andern, weitern oder engern, als dem proportionierten Mittelgleise menschlicher Gedanken und Kräfte reden. Nun aber, wo und wie wir sind, wollen wir diesem milde proportionierten Gleise treu bleiben; er ist unserer Lebensdauer wahrscheinlich gerade recht.
Daran mußte ich denken, als ich las:
vivic hat geschrieben:Wir kennen aber nur EIN Beispiel der Entwickelung einer "intelligenten" Art (species) wie die Menschheit auf einem Planeten, eine Species die eine Technologie erfindet. Fuer uns ist das ein einmaliges Phaenomen; wir haben keine Vergleichsobjekte, nicht ein einziges. Wir koennen nicht tausende solcher Planeten beobachten und allgemeine Wahrheiten entdecken ueber Menschheitsentwickelung. Vielleicht eines Tages, aber so etwas ist heute nicht in Aussicht.

Können nicht Herders Gedanken ein Ansatz für den Versuch sein, die Entwicklungen hier auf der Erde (und natürlich unter Einschluß der Entwicklung der Menschheit) zu beobachten?

Wir sehen doch, was ein Tag ist, und ob dieser Tag eine „Entwicklung“ hat, und wir können den Unterschied empfinden, ob die Sonne auf- oder untergeht... wir können empfinden, wie es ist, wenn der Mond steigt, wenn er voll wird, wenn er abnimmt... wir empfinden „Frühling“ ganz anders als „Herbst“ oder „Winter“… Rilke hat diese unterschiedlichen Empfindungen in unzähligen Gedichten geschildert.

Wir können in der Rückschau auf unser bisheriges Leben Entwicklungsrichtungen erkennen --- und natürlich auch in der Rückschau auf die Geschichte der Menschheit. Auch dazu findet sich vieles bei Rilke.
Dabei geht es nie um das bloße Wahrnehmen von „Punkten“, sondern es geht um das Empfinden von Richtungen – und wir können unser „Richtungsempfindungsvermögen“ schulen, indem wir die Dinge unserer Umgebung, die Bilder unserer Träume und die Gegenstände unserer Erinnerung „gebrauchen“…

Du hast nichts gesagt zu den Gedanken, die ich hier zu formulieren versucht habe – sind sie Dir ganz fremd?

Im Zusammenhang mit diesen Gedanken möchte ich heute aufmerksam machen auf einen Text von Leonard Bernstein – in seiner zweiten Symphonie, Kaddish, heißt es im dritten Satz:
  • I have You, Father, locked in my dream,
    And You must remain till the final scene ...
    Now! Look up! High! What do You see?
    A rainbow, which I have created for You!
    My promise, my covenant!
    Look at it, Father: Believe! Believe!
    Look at my rainbow and say after me:
    MAGNIFIED ... AND SANCTIFIED ...
    BE THE GREAT NAME OF MAN!

    The colors of my rainbow are blinding, Father,
    And they hurt Your eyes, I know.
    But don't close them now. Don't turn away.
    Look. Do You see how simple and peaceful
    It all becomes, once You believe?
    […]
    O my Father, Lord of Light!
    Beloved Majesty: my Image, my Self!
    We are one, after all, You and I:
    Together we suffer, together exist,
    And forever will recreate each other.
    Recreate, recreate each other!
    Suffer, and recreate each other!
(hier geht’s zum vollständigen Text)

Herzlichen Gruß,
stilz
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Liebe Ingrid,

Du hast gesagt: Wir sehen doch, was ein Tag ist, und ob dieser Tag eine „Entwicklung“ hat, und wir können den Unterschied empfinden, ob die Sonne auf- oder untergeht... wir können empfinden, wie es ist, wenn der Mond steigt, wenn er voll wird, wenn er abnimmt... wir empfinden „Frühling“ ganz anders als „Herbst“ oder „Winter“…

Ich dazu: ja eben, weil Menschen viele Tage, viele Jahreszeiten, und unzaehlige Male den Sonnununtergang und Mondaufgang erlebt haben. Da haben wir eben genuegend Beispiele, die wir verallgemeinern koennen. (Kann man es so verdeutschen? “To generalize over”?) Wohin die Menschheit sich treibt oder getrieben wird in der Zukunft auf diesem Planeten, das koennen wir nicht von wegen vielen Beispielen vorhersagen.

Und wenn du sagst: Wir können in der Rückschau auf unser bisheriges Leben Entwicklungsrichtungen erkennen, da kann ich auch zustimmen. Ich werde leider aelter und gebraechlicher, auch vorsichtiger, langsamer, und bin immer weniger von meiner eigenen Weisheit ueberzeugt, und ich weiss von vielen anderen Biografien, dass aehnliche Veraenderungen wahrscheinlich weitergehen werden, schon weil der einzelne Mensch seine Richtungen nicht gern aendert, vorwiegend aber weil alle einzelnen Menschen sterblich sind. [Manchmal hoffe ich natuerlich dass ich die Ausnahme bin!]

Aber wenn du sagst: natürlich auch in der Rückschau auf die Geschichte der Menschheit… da komm ich nicht mehr mit. Gibt es da Richtungen die sicher festgestellt werden koennen? Beispiele? Mir faellt ein: “die Menschheit wird allmaehlich international.” Oder vielleicht Feminismus? OK, seit der Renaissance vielleicht. Aber nach einem Dritten Weltkrieg mit raffinierten neuen Waffen koennten wir ganz schnell zu einem langen Mittelalter zurueck, mit isolierten Gruppen der Ueberlebenden welche auf einer verwuesteten Erde die alte rohe "Maennlichkeit" ueben. Was sagt die Rueckschau dazu? Die Geschichte der Menschheit zeigt fortwaehrend beides: “Fortschritt” und schlimmere Kriege. Wer weiss? Man hat einfach keine Ahnung, wie sich so ein Tier benehmen wird. “Richtungen,” wenn man gar kein Ueberblick hat, koennen taueschen. Wir haben NIE das Endresultat einer technologisch bemaechtigten Menschheit beobachten koennen. Nicht ein einziges Mal.

[Hier eine kurze Entschuldigung an Lilaloufan. Wenn ich den Menschen ein “Tier” nenne, ist das nicht beleidigend gemeint. (Ich nehme doch an, dass du Darwin glaubst.) Aber dass der Mensch ein ganz besonderes Tier ist kann ja niemand verneinen. Streiche “Tier” und schreibe statt dessen “Kreatur” oder “Geschoepf,” ich haenge nicht an das Wort.]

Nun, Stilz, an deine frueheren Gedanken die ein Zusammenhang zwischen den Naturwissenschaften (besonders Physik) und der Literatur versuchen. Ich habe nicht geantwortet, weil ich einfach Einstein und seine Kollegen nicht verstehe, nicht einmal als Anfaenger. Aber gerade weil dieses Material so viel Mathematik voraussetzt, bin ich sehr skeptisch wenn Literaturwissenschaftler von solchen Zusammenhaengen schreiben. [Ein Satz wie der folgende: Alle Beobachter können ihre eigene vollkommen schlüssige kausale Erklärung dafür geben, warum Dinge geschehen scheint mir ziemlich unmoeglich!]

Aber bitte lese doch auch meine letzte Post. Ich glaube unbedingt dass Rilke, als einer der ersten, den zukuenftigen literarischen "Zeitgeist" witterte und in seinem Roman ein Bahnbrecher und Vorbereiter des Neuen war. Leider war das mit einer tiefen Depression verbunden, und er hat spaeter, in seinen groessten Werken, wieder (in Form) meistens traditionnel geschrieben. Das alles wuerde ich gerne weiter diskutieren.

Vivic
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von stilz »

Lieber Vito,
vivic hat geschrieben:Nun, Stilz, an deine frueheren Gedanken die ein Zusammenhang zwischen den Naturwissenschaften (besonders Physik) und der Literatur versuchen. Ich habe nicht geantwortet, weil ich einfach Einstein und seine Kollegen nicht verstehe, nicht einmal als Anfaenger.
Oh. Aber was Rilke über den Phonographen sagt – das verstehst Du doch?
vivic hat geschrieben:Aber gerade weil dieses Material so viel Mathematik voraussetzt, bin ich sehr skeptisch wenn Literaturwissenschaftler von solchen Zusammenhaengen schreiben. [Ein Satz wie der folgende: Alle Beobachter können ihre eigene vollkommen schlüssige kausale Erklärung dafür geben, warum Dinge geschehen scheint mir ziemlich unmoeglich!]
Naja, Arthur Zajonc (von dem dieser „unmögliche“ Satz stammt) ist weder Dichter noch Literaturwissenschaftler, sondern Quantenphysiker.

Es tut mir leid, aber ich werde dennoch nochmal auf die Wissenschaft zurückkommen müssen – denn ich bin davon überzeugt, daß die Naturwissenschaft versucht, sich mit der Wirk-lichkeit auseinanderzusetzen, in der wir alle leben, und nicht nur mit bloß errechneten Hirngespinsten.
vivic hat geschrieben:Die Geschichte der Menschheit zeigt fortwaehrend beides: “Fortschritt” und schlimmere Kriege. Wer weiss? Man hat einfach keine Ahnung, wie sich so ein Tier benehmen wird. “Richtungen,” wenn man gar kein Ueberblick hat, koennen taueschen. Wir haben NIE das Endresultat einer technologisch bemaechtigten Menschheit beobachten koennen. Nicht ein einziges Mal.
Ja, da gebe ich Dir natürlich recht. Wir kennen kein solches „Endresultat“.
Aber einmal angenommen, es hätte schon einmal ein solches Wesen, wie es der Mensch ist, auf einem Planeten gelebt, wie es die Erde ist. Und angenommen, wir wüßten von dem damaligen „Endresultat“: was würde das bedeuten für unsere Frage?
Meinst Du etwa, wir könnten dann mit Sicherheit davon ausgehen, unser „Endresultat“ müßte zwangsläufig dasselbe sein?
Siehst Du – das glaube ich nicht.
Ich bin davon überzeugt, daß unsere Entwicklung hier auf Erden ergebnisoffen ist. Und daß es daher wirk-lich darauf ankommt, was jeder einzelne von uns denkt, spricht und tut.

Nochmal zur Wissenschaft: die Chaostheorie zeigt, daß ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings ALLES verändern kann.
Das Chaospendel von Hans Peter Dürr zeigt das sehr schön (falls er sprachlich nicht gut verständlich sein sollte, hier eine englische Version, die allerdings ich von der Sprache her nicht sehr gut verständlich finde...).

Und so sehe ich, wenn ich auf unsere Vergangenheit blicke, natürlich unzählige Richtungen, und unzählige „Umkehrpunkte“. Aber es scheint mir eben größere „Umkehrpunkte“ zu geben und kleinere...

Und wenn wir als „Umkehrpunkt“ nun nicht den Umkehrpunkt eines einzelnen Pendels ansehen, sondern (ich beziehe mich jetzt auf den Film mit Hans Peter Dürr, Minute 4.10) das Herausziehen einer Arretierung --- so kommen wir vielleicht in die Nähe dessen, wovon Rilke gesprochen haben mag...

Die „Entwicklungsrichtung“, die ich aus der Geschichte der Menschheit abzulesen meine, ist die in Richtung Individualisierung.
Auf allen Gebieten: In der Kunst. In Religion und Moral. Im Familienleben...
Und auch die Wissenschaft scheint mir das zu bestätigen.

Du sagst, Dir geht es nicht um eine Definition des Begriffes „Die Moderne“ --- und doch trifft der erste Satz im wikipedia-Artikel ziemlich gut, was ich meine:
»Der Begriff Moderne in der Geschichte Europas, Amerikas und Australiens bezeichnet einen Umbruch in allen Lebensbereichen gegenüber der Tradition.«

Sehr sehr vieles, das früher in selbstverständlicher Weise „gruppenmäßig“ geregelt war, ist heute in die Freiheit des einzelnen gestellt. Es gibt immer weniger große „Pendel“, die einzelne Individuen zusammenfassen – bald wird es vielleicht überhaupt keine solchen „Arretierungen“ mehr geben...
Aber natürlich gibt es immer auch „Gegenbewegungen“, die gewisse „Arretierungen“ nicht aufgeben wollen und umso stärker an ihnen festhalten (ich denke beispielsweise an die immer stärker auftretenden Nationalismen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts...).


Um nach diesem Exkurs wieder zu Rilke zurückzukehren, nochmal der Schluß Deines vorletzten postings:
vivic hat geschrieben:Er hat nie wieder einen Roman geschrieben, sondern hat sich zum Positiven gewendet, zur Liebe, zur Ruehmung, zum Preisen, and hat uns “das Leben bereichtert,” wie Lilaloufan sagt, in Hunderten der schoensten Deutschen Gedichten.
Zur Frage des „Positiven“ oder „Negativen“ in Rilkes Roman und Gedichten möchte ich nochmal aus einem Brief zitieren, den Rilke am 24. Februar 1912 geschrieben hat (ich weiß leider noch immer nicht, an wen):
  • »Ich sehe seit einer Weile ein, daß ich Menschen, die in der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen muß, in den Aufzeichnungen Analogien für das zu finden, was sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht, muß notwendig abwärts kommen; erfreulich wird es wesentlich nur denen werden, die es gewissermaßen gegen den Strom zu lesen unternehmen.
    Diese Aufzeichnungen, indem sie ein Maß an sehr angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten wäre.«
Und:
vivic hat geschrieben:Und viele von diesen [den Gedichten Rilkes] sind in Form ganz traditionnel! Hier, im lyrischen Gedicht, war er KEIN Seismograph der Moderne, sondern “staerkte in uns die Bewahrung der noch erkannten Gestalt.”
Ja. Vom Inhalt würde ich das nicht sagen, aber die Form vieler Gedichte Rilkes (nicht aller! Ich denke an die Duineser Elegien...) ist traditionell.

Der Unterschied zu früher scheint mir zu sein – und ich halte das für einen ganz wesentlichen Unterschied! –: Rilke wählt sich diese Form aus Freiheit.
Ich will damit nicht sagen, daß alle früheren Dichter bloß um der „Konvention“ willen Sonette geschrieben haben (obwohl es sicherlich welche gab...). Aber ich habe den Eindruck (auch wenn ich es im Augenblick nicht belegen kann), Rilke war der erste, der sich der „Kräfte“, der „Wirkungen“ traditioneller Formen so deutlich bewußt war.


Herzlichen Gruß,
Ingrid
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von stilz »

vivic hat geschrieben: Ich glaube unbedingt dass Rilke, als einer der ersten, den zukuenftigen literarischen "Zeitgeist" witterte und in seinem Roman ein Bahnbrecher und Vorbereiter des Neuen war.
Lieber vivic, dazu möchte ich aus einem Vortrag zitieren, den Rilke am 5. März 1898 in Prag gehalten hat und der dann später (1965) unter dem Titel Moderne Lyrik veröffentlicht wurde:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:Daß darin die große, vielleicht mächtigste Bedeutung der Lyrik besteht, daß sie dem Schaffenden ermöglicht, unbegrenzte Geständnisse über sich und sein Verhältnis zur Welt abzulegen, kann nur von einer Zeit erkannt werden, welche fühlt, daß sie etwas eingestehen will. Und das sind weder Mitten noch Enden von Perioden, sondern stets reiche Anfänge, welche ihr Herz auf der Zunge tragen. Denn Mittelperioden sind zu bequem einerseits und zu tätig nach der anderen Richtung hin, um viel zu erzählen, Enden sind zu greisenhaft und zu müde dazu – nur junges Beginnen hat etwas zu bekennen, und nur der Anfang ist auch vertrauensvoll genug, um aufrichtig, ohne Falsch zu verraten, wie ihm zumute ist.
[…]
Ich weiß nicht zu sagen, wer von den Neuen zuerst diesen Sinn der Lyrik, mit Wissen oder unwillkürlich, bewiesen hat, aber ich weiß, daß alle augenblicklich sich dieser Mission bewußt sind und sich als die ersten Stimmen einer neuen Epoche fühlen, nicht deshalb, weil sie optimistischer als die anderen sind, sondern weil sie, dank ihrer Kunst, leiser und lauschender im Leben stehen und durch seine Stürme hindurch früher als die Zeitgenossen das ferne Läuten der Feiertagsglocken vernehmen.
[…]
Nicht der Künstler allein ist imstande, diese ersten Vorboten zu erkennen, auch religiöse oder politische Naturen können sie erlauschen, aber diese werden ihren Ruf einmal leicht mißverstehen und dann auch nicht fähig sein, ihre leisen Absichten würdig auszusprechen. Der moderne Dichter aber ist historisch besonders gut geschult. Der objektive Realismus vergangener Jahrzehnte hat ihn mit der Natur und dem Leben in Verkehr gebracht und sein Auge geübt für die Dimensionen der Dinge. Der vorhergegangene Idealismus der Objektivität mit seiner Schönfärberei wirkte wie eine sentimentale Kindheitserinnerung gerade herein, als der Realismus im Naturalismus untergegangen war, und machte, daß man leise begann, statt von den Dingen, mit den Dingen zu sprechen, also: ›subjektiv‹ zu werden. Und nun folgte im Subjektivismus eine Parallelentwickelung wie seinerzeit innerhalb der objektiven Welterkenntnis. Man lernte die eigene Seele betrachten wie früher die äußere Umgebung, man wurde auch hier Realist und Naturalist den intimen, inneren Sensationen wie vorher den äußeren Ereignissen gegenüber und lernte wie früher die Welt, nun ebenso genau die eigene Seele kennen, das heißt, man fand in sich selbst alles reicher und vielgestaltiger wieder, was man in der objektiven Schulzeit außerhalb der eigenen Persönlichkeit gesucht hatte.
[…]
Alle Bücher, von denen ich hier gesprochen habe, nicht zum wenigsten die letztgenannten, haben ein Gemeinsames: ihre künstlerische Ausstattung. An Stelle der sinnlosen Clichés ist allenthalben ein begleitender Buchschmuck getreten, Papier und Druckertype sogar haben sich der Art des Buches besonders angepaßt.
Ein freudiges Zusammentun der Künste und Künstler macht sich bemerkbar. Nicht nur der Inhalt ihrer Werke ist freudig und erwartungsvoll, auch ihr äußeres Gewand wird würdig und feierlich. Und in alle Dinge steigt diese leise sehnsüchtige Schönheit; die Möbel, Teppiche und die kleinsten Dinge täglichen Gebrauches um euch wird sie ganz unvermutet verwandeln. Und plötzlich werdet ihr die einzigen sein, die noch die Nutzkleider des Alltags tragen. Und ihr werdet erschrocken auch eure Seelen schmücken zu dem festlichen Empfang der neuen Zeit, deren bescheidener, unbeholfener Verkünder ich sein will in diesen Worten!
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Allerdings zweifle ich ein wenig, ob die „reichen Anfänge“, von denen Rilke hier spricht, dasselbe sein können, nach dem Du fragst, und wozu Du diese Stellen angeführt hast:
  • Erinnerung, als waere das, wonach man draengt, einmal naeher gewesen…
    Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte, denen das Fruehere nicht und noch nicht das Naechste gehoert…
    Mehr als je fallen die Dinge dahin, die Erlebbaren…
    Immer geringer schwindet das Aussen…
    Wo ach hin sind die Tage Tobiae…
    Tempel kennt er (der Zeitgeist) nicht mehr…
    Alles Erworbene bedroht die Maschine…
Herzlichen Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
vivic
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Ms. Stilz, das ist wirklich hochinteressant. Besonders diese Beschreibung der Moderne:

Man lernte die eigene Seele betrachten wie früher die äußere Umgebung, man wurde auch hier Realist und Naturalist den intimen, inneren Sensationen wie vorher den äußeren Ereignissen gegenüber und lernte wie früher die Welt, nun ebenso genau die eigene Seele kennen, das heißt, man fand in sich selbst alles reicher und vielgestaltiger wieder, was man in der objektiven Schulzeit außerhalb der eigenen Persönlichkeit gesucht hatte.

Das passt wunderbar fuer die Literatur, nicht nut fuer Rilke's eigene Werk aber auch von Autoren die er wahrscheinlich gar nicht kannte, wie James Joyce und Virginia Woolf.

Ich habe diesen Aufsatz nicht gut gekannt und danke Dir herzlich...

Vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
stilz
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

Du hast recht: das paßt wunderbar für die Literatur, und auch zu den Zitaten, die Du angeführt hast.
Ich hatte zu sehr auf das „Klagende“ in diesen Zitaten geblickt, und „Klagen“ wollte mir nicht zu den „reichen Anfängen“ passen. Aber es sind ja nicht die „Anfänger“ (beginner's mind), sondern es sind die „Enterbten“, die klagen.
Sind sie allein „zuständig“ für die „Bewahrung der noch erkannten Gestalt"?

  • Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,
    denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.
    Denn auch das Nächste ist weit für die Menschen. Uns soll
    dies nicht verwirren; es stärke in uns die Bewahrung
    der noch erkannten Gestalt.


Es berührt mich sehr, daß der junge Rilke in diesem Aufsatz davon schreibt, daß »man es aufgegeben hat, den Wert und die Eigenart lyrischer Geständnisse durch die kleidsamen, uniformen Trachten des Sonetts, der Stanze u. a. zu beeinträchtigen« und: »das reinreimigste Sonett ist noch lange nicht die Gewähr, Gedicht zu sein, wie die randvollste Seite niemals eine Gefahr bedeutet dafür.« --- und dennoch kommt er in seiner Reifezeit nicht nur (in den Elegien) ohne diese „uniformen Trachten“ aus, sondern er erweist sich gleichzeitig (in den Sonetten an Orpheus) in unvergleichlicher Weise als Bewahrer „der noch erkannten Gestalt".

Herzlich,
stilz
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Re: Jede dumpfe Umkehr der Welt

Beitrag von vivic »

Ingrid, wenn ich an "die noch erkannte Gestalt" denke, besonders in der Dichtung, dann kommt mir immer "Sternbild unserer Stimme" in den Sinn. Gerade das kann die Klage aber vollbringen, siehe Sonette an Orpheus, Erster Teil, #8:

...nur die Klage lernt noch ...

... ploetzlich, schraeg und ungeuebt
Haelt sie doch ein Sternbild unserer Stimme
in den Himmel, den ihr Hauch nicht truebt.


:) vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
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