Musils Gedenkrede auf Rilke

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lilaloufan
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Musils Gedenkrede auf Rilke

Beitrag von lilaloufan »

Robert Musil: Rainer Maria Rilke; Rede, gehalten am 16. Januar 1927 im Renaissance-Theater Berlin – in: Hay, Gerhard, ed. (1984): Deutsche Abschiede. München [Winkler-Verlag], pp. 268-280. ISBN 3-5380.6580-2

Als die Nachricht vom Tode des großen Dichters Rainer Maria Rilke nach Deutschland kam und in den folgenden Tagen, wenn man einen Blick in die Zeitungen richtete, um zu sehen, wie diese Botschaft von der deutschen Literaturgeschichte aufgenommen werde - denn täuschen wir uns nichts vor! der Prozess des Ruhmes wird heute in dieser ersten Instanz entschieden, da es so gut wie keine geistig Übergeordnete weiterhin für die Literatur gibt! - so konnte man etwas feststellen, was ich kurz ein ehrenvolles öffentliches Begräbnis zweiter Klasse nennen möchte.

Man schien sagen zu wollen - Sie wissen ja, wie sich durch Stellung der Nachricht im Blatt und Art des Drucks der Grad des Ohrenspitzens ausdrückt -: Hier ist etwas immerhin Erwähnenswertes geschehn, aber weiter haben wir nicht viel dazu zu sagen! Dieses Weitere überließ man dem Feuilleton; das es auch ehrenvoll erledigte. Aber stellen Sie sich vor, wie das in manchem anderen Fall gewesen wäre! Wie man eine Trauer der Nation daraus gemacht und das Ausland aufgefordert hätte, zu sehen, wie wir trauern! Die Spitzen des Staats hätten sich in Ehrfurcht gebogen, Leitartikel wären gehisst worden, der biographische Salut hätte gedröhnt, und wir wären m. e. W. untröstlich gewesen, wenn es auch nicht allen Beteiligten ganz klar gewesen wäre, warum. Mit einem Wort, es wäre ein Anlass gewesen.

Rilkes Tod war kein Anlass. Er bereitete der Nation kein festliches Vergnügen, als er starb. Lassen Sie uns einige Augenblicke der Besinnung daran knüpfen.


Als ich gewahr wurde, wie gering der Verlust Rilkes im öffentlichen Rechenexempel veranschlagt wurde - er wog

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kaum so schwer wie eine Film-Premiere, so war, ich gestehe es offen, mein erster Einfall, auf die Frage, warum wir heute zusammenkommen, zu antworten: weil wir den größten Lyriker ehren wollen, den die Deutschen seit dem Mittelalter besessen haben!

Es wäre erlaubt und ist doch auch unerlaubt, so etwas zu sagen.

Gestatten Sie mir, mit dieser Unterscheidung zu beginnen. Sie soll in keiner Weise die Größe Rilkes einschränken, verklauseln oder einem Kompromiss unterwerfen. Sie soll nur den Begriff der dichterischen Größe überhaupt richtigstellen, soweit er heute unsicher geworden ist, damit wir nicht eine falsche Ehrfurcht beweisen und das Bild Rilkes über einem Fundament aufbauen, das keinen Halt hat.

Die neuzeitliche Gepflogenheit, dass wir Deutsche immer einen größten Dichter haben müssen - gewissermaßen einen Langen Kerl der Literatur - ist ein üble Gedankenlosigkeit, die nicht wenig Schuld daran trägt, dass die Bedeutung Rilkes nicht erkannt worden ist. Weiß Gott, woher sie stammt! Sie kann ebensogut vom Goethekult kommen, wie vom Exerzieren, von der konkurrenzlos unübertroffenen Qualität der X-Zigarette wie von der Tennisrangliste. Es liegt ja auf der flachen Hand, dass der Begriff der künstlerischen und geistigen Größe niemals nach Metermaß und Nummer bestimmbar ist. (Auch nicht nach dem »Umfang« des Werks oder des Bereichs behandelter Gegenstände - sozusagen nach der Handschuhnummer des Schriftstellers!: dennoch gilt zweifellos das Viel-schreiben bei uns für schwerer als das Wenig-schreiben!) Niemand hat in so edler Weise kundgegeben, dass der Begriff der künstlerischen Größe nicht ausschließend ist, wie Rilke, welcher stets der selbstlose Förderer seiner jungen Mitbewerber gewesen ist.

Denken Sie einen Augenblick daran, dass das schmächtige Werk Hardenbergs und Hölderlins zur gleichen Zeit entstanden ist, wo sich das mächtige Werk Goethes vollendete; dass gleichzeitig mit den Riesenwürfen von Hebbels dramati-

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schem Würfelspiel die knappen Entwürfe Büchners entstanden sind: Ich glaube nicht, dass Sie empfinden werden, eines von diesem wäre durch das andere zu ersetzen, wäre wegen eines anderen zu entbehren; sie sind beinahe völlig den Begriffen des Mehr, Weniger, Größer, Tiefer, Schöner, kurz jeder Art von Graduierung entzogen. Dies ist der Sinn dessen, was eine überschwengliche Zeit den Parnass, eine Zeit, welche die Würde und Freiheit liebte, die Republik der Geister genannt hat. Die Höhe der Dichtung ist keine Spitze, auf der es immer höher geht, sondern ein Kreis, innerhalb dessen es nur ungleich Gleiches, Einmaliges, Unersetzliches, eine edle Anarchie und Ordens-Brüderlichkeit gibt. Je strenger eine Zeit in dem ist, was sie überhaupt Dichtung nennt, desto weniger Unterschiede wird sie darüber hinaus zulassen. Unsere Zeit aber ist sehr tolerant in dem, was sie Dichtung nennt; es genügt ihr unter Umständen schon, - wenn der Papa ein Dichter ist. Dem entspricht es, dass sie auf der anderen Seite den Begriff des Stars, des Cracks im Verlagsstall, des Literaturchampions auf die Spitze getrieben hat, - wenn er als Federgewicht auch natürlich nicht ganz den gleichen Anspruch auf Beachtung erheben darf wie die Schwergewichte des Boxsports!

Rainer Maria Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet. Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten wegschreitet … Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages. […]

Wenn ich von der Vollkommenheit gesprochen habe, zu der Rilke das deutsche Gedicht emporgehoben hat, so ist damit zunächst nur ein äußeres Kennzeichen gemeint. Ich kann es Ihnen beschreiben, wenn ich Sie an den überaus bezeichnenden Eindruck erinnere, dem man beim ersten Lesen seiner Werke ausgesetzt ist. Nicht nur sinkt kaum ein Gedicht, kaum eine Zeile oder ein Wort sinken aus der Reihe

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der übrigen herab, und man hat das gleiche Erlebnis durch die ganze Reihe seiner Bücher. Es entsteht so eine beinahe schmerzliche Spannung wie eine gewagte Zumutung, die noch dazu ganz ohne allen Aufwand an Orchester, ganz wie natürlich, nur von dem einfachen Flötenklang des Verses begleitet, geleistet werden soll.

Weder vor ihm, noch nach ihm ist diese hohe und ebene Spannung des Eindrucks, diese edelsteinklare Stille in der niemals anhaltenden Bewegung erreicht worden. Weder das ältere deutsche Gedicht, noch George oder Borchardt haben dieses freie Brennen des Feuers ohne Flackern und Dunkelheit. Das deutsche lyrische Genie wirft wie der Blitz eine Furche auf, aber das Erdreich darum häufelt es sorgsam oder nachlässig auf; es zündet wie der Blitz, aber es ritzt nur wie der Blitz; es führt auf den Berg, aber um auf den Berg führen zu können, muss man zuvor immer wieder unten sein. Damit verglichen, hat Rilkes Gedicht etwas breit Geöffnetes, sein Zustand dauert wie ein gehobenes Anhalten.

In diesem Sinne habe ich von seiner Vollkommenheit und Vollendung gesprochen. Es bezeichnet das eine bestimmte Eigenschaft und zunächst noch nicht Rang und Wert. Im Schönen haben, wie Sie wissen, auch Unvollendung und Unvollkommenheit ihre Würde. Ja, so paradox es klingt (wenn es in Wirklichkeit auch nichts anderes bedeutet als unser Unvermögen zu genauer Bezeichnung), diese innere Planheit und Faltenlosigkeit, diesen aus einem Guss geformten Charakter des Gedichts findet man oft auch in der Poesie jener Versschwätzer, die ein Gedicht so glatt hinschreiben, wie ein Barbier eine Wange rasiert. Ja, noch viel paradoxer!: man hat den Unterschied nicht immer bemerkt.

Es gab eine Zeit, wo jeder bessere junge Mann mit schwülen Augen Gedichte in der Weise Rilkes machte. Es war gar nicht schwer; eine bestimmte Art des Schreitens; ich glaube, dass Charleston schwieriger ist. Darum hat es auch immer scharfsinnige Kritiker gegeben, welche das bemerkten und Rilke einen Platz - fast bei den Kunstgewerblern des Verses

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anwiesen. Die Zeit, wo man ihn nachahmte, war aber kurz, und die Zeit, wo man ihn unterschätzte, dauerte sein Leben! Als er jung war, galt Dehmel für einen Mann, und er - für einen Österreicher! Wenn man ihm wohlwollte, fügte man etwas von slawischer Melancholie hinzu. Als er reif war, hatte sich der Geschmack gewendet; nun galt Rilke als ein feiner, ausgegorener Likör für erwachsene Damen, während die Jugend andere Sorgen zu haben glaubte.

Gewiss ist nicht zu leugnen, dass die Jugend auch für ihn mancherlei Liebe hatte. Aber es ist nicht zu übersehn, dass ihr da vielleicht wirklich eine Schwäche unterlief. Ich sehe nirgends heute Rilkes Geist im Wirken. Was es heute an Gewissens- und Gefühlsspannung gibt, ist nicht die Art der Spannung Rilkes. So ist es möglich, dass er noch einmal geliebt wird; weil er ent-spannt! Dazu ist er zu anspruchsvoll! Er stellt mehr als infantile Ansprüche an die Liebe! Das möchte ich, wenn nicht zeigen, so doch andeuten.


Ich könnte es tun, indem ich Sie auffordere, den Weg Rilkes von den Frühen und Ersten Gedichten bis zu den Duineser Elegien zu verfolgen.

Wir würden dabei in einer ungemein fesselnden Weise sehn, wie früh er fertig ist - genau so wie der junge Werfel;- aber wie seine Entwicklung von da an erst beginnt! Die innere wie die äußere Form erscheint von allem Anfang an (wenn natürlich auch Versuche dazwischen kommen und wieder aufgegeben werden) wie ein feines Rippenwerk vorgezeichnet; blass; rührend verschlungen mit typischen Jugenderscheinungen; verblüffend durch die Umkehrung, dass sich weit mehr »Manier« in den ersten Anfängen findet, als in den späteren Wiederholungen! Man könnte zuweilen sagen: der junge Rilke mache Rilke nach. Aber dann erlebt man das für den Künstler ungeheure Schauspiel, wie sich dieses Schema füllt. Wie aus Prozellan Marmor wird. Wie alles, was von Anfang an da war und sich kaum verändert, von einem immer tieferen Sinn gestaltet wird: Mit einem Wort, man erlebt das

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ungeheuer seltene Schauspiel der Gestaltung durch innere Vollendung!

Statt dieser Entwicklung in ihren Schritten zu folgen - wobei ein jeder wohl am besten den Dichter selbst zum Führer nimmt -, möchte ich jedoch lieber versuchen, die tiefen Beziehungen, von denen ich spreche, an der Erscheinung der fertigen Rilkeschen Poesie zu verdeutlichen, indem ich noch einmal, aber diesmal nach innen hin, an den ungewöhnlichen Eindruck anknüpfe, den sie hervorruft.

Ich habe ihn, mit den ersten tastenden Worten, eine klare Stille in einer niemals anhaltenden Bewegung, eine gewagte Zumutung, ein gehobenes Dauern, ein breites Geöffnetsein, eine beinahe schmerzliche Spannung genannt, und man darf wohl hinzufügen, dass Spannungen am leichtesten dann den Charakter des Schmerzes annehmen, wenn sie sich nicht ganz begreifen und lösen lassen, wenn sie in den Ablauf unserer Gefühle einen Knoten bringen, der nicht wie die gewöhnlichen geknüpft ist. Der Affekt des Rilkeschen Gedichts hat eine große Besonderheit. Wir werden sie verstehn, wenn wir uns darüber Rechenschaft geben, dass dieses Gedicht eigentlich niemals ein lyrisches Motiv hat. Es hat auch niemals einen besonderen Gegenstand der Welt zum Ziel. Es spricht von einer Violine, einem Stein, einem blonden Mädchen, von Flamingos, Brunnen, Städten, Blinden, Irren, Bettlern, Engeln, Verstümmelten, Rittern, Reichen, Königen…; es wird ein Gedicht der Liebe, der Entbehrung, der Frömmigkeit, des Kampftumults, der einfachen, ja sogar der mit Kulturreminiszenzen belasteten Beschreibung…; es wird ein Lied, eine Legende, eine Ballade…: Nie ist es das selbst, was den Inhalt des Gedichts ausmacht; sondern immer ist es ein Etwas wie das unbegreifliche Dasein dieser Vorstellungen und Dinge, ihr unbegreifliches Nebeneinander und unsichtbar Verflochtensein, was den lyrischen Affekt auslöst und lenkt.

In diesem milden lyrischen Affekt wird eines zum Gleichnis des anderen. Bei Rilke werden nicht die Steine oder Bäume zu Menschen - wie sie es immer und überall getan

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haben, wo Gedichte gemacht wurden -, sondern auch die Menschen werden zu Dingen oder zu namenlosen Wesen und gewinnen damit erst ihre letzte, von einem ebenso namenlosen Hauch bewegte Menschlichkeit. Man kann sagen: im Gefühl dieses großen Dichters ist alles Gleichnis, und - nichts mehr nur Gleichnis. Die vom gewöhnlichen Denken getrennten Sphären der Wesensgattungen scheinen sich zu einer einigen Sphäre zu vereinen. Niemals wird etwas mit einem anderen verglichen - als zwei andere und Getrennte, die sie dabei bleiben -; denn selbst wenn das irgendwo geschieht und gesagt wird, irgendeines sei wie das andere, so scheint es schon im gleichen Augenblick seit Urzeiten das andere gewesen zu sein. Die Eigen-schaften werden zu Aller-schaften! Sie haben sich von den Dingen und Zuständen losgelöst, sie schweben im Feuer und im Wind des Feuers.

Man hat dies Mystik genannt, Pantheismus, Panpsychismus…; mit solchen Begriffen tut man aber etwas hinzu, das überflüssig ist und ins Ungewisse führt. Lassen Sie uns lieber bei dem bleiben, was uns vertraut ist; wie verhält es sich denn nun wirklich mit diesen Gleichnissen? Bei nüchternster Betrachtung? Es verhält sich bemerkenswert genug; das Metaphorische wird hier in hohem Grade Ernst.

Lassen Sie mich dazu mit etwas Beliebigem beginnen: ein Schriftsteller vergleiche einen bestimmten Novemberabend, von dem er erzählt, mit einem wollenen weichen Tuch; ein anderer Schriftsteller könnte ebensogut ein eigenartig weiches Wolltuch mit einem Novemberabend vergleichen. In allen solchen Fällen liegt der Reiz darin, dass ein schon etwas erschöpfter Gefühls- und Vorstellungsbereich dadurch aufgefrischt wird, dass ihm Teile eines neuen zugeführt werden. Das Tuch ist natürlich kein Novemberabend, diese Beruhigung hat man, aber es ist in der Wirkung mit ihm verwandt, und das ist eine angenehme kleine Mogelei. Nun, es liegt - eine gewisse Tragikomik in dieser menschlichen Neigung für Gleichnisse. Wenn die Spitzen der Brüste mit Taubenschnäbeln oder mit Korallen verglichen werden, kann man, streng

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genommen, nur sagen: Gott behüte uns davor, dass es wahr sei! Die Konsequenzen wären nicht auszudenken. Man gewinnt aus den menschlichen Gleichnissen eigentlich den Eindruck, dass der Mensch niemals dort recht aushalten kann, wo er sich gerade befindet. Er gibt das niemals zu; er umarmt das ernste Leben; aber er denkt dabei zuweilen an eine andere!

Es ist ein schönes, wenn auch ein wenig altmodisches Gleichnis, zu sagen: ihre Zähne waren wie Elfenbein. Setzen Sie statt dessen einen sachlich-nüchternen, aber richtig anderen Ausdruck, so heißt das - höchst unerwünscht -: sie besaß Elefantenzähne! Vorsichtiger, aber immerhin noch verfänglich: ihre Zähne besaßen die optischen Qualitäten von Elefantenzähnen, mit Ausnahme der Form. Ganz vorsichtig: ein ich weiß nicht was war gemeinsam. Ersichtlich ist das die übliche Tätigkeit des Gleichnisses: wir lösen das Erwünschte los und lassen das Unerwünschte zurück, ohne dass wir daran erinnert werden wollen, und wir lösen das Feste in das Gerüchtweise auf.

Was man der Kunst an Unernst, verglichen mit der Wirklichkeit, vorwirft, was in ihr auch wirklich an Divertissement liegt, Oberflächlichkeit, »letzter Neuigkeit«, an Modischem, Dienerischem…: es freut mich, schon an einem so einfachen Beispiel, das der Aufnahme in jede Schulgrammatik und -poetik gewürdigt wird, zeigen zu können, wie sich alles das in dem Gebrauch spiegelt, den man von den Gleichnissen macht.

Er hängt tatsächlich mit einer bestimmten Welt-Anschauung (dazugehörig: Kunst als Erholung, Zerstreuung, spontane Erhebung) zusammen. Und nun frage ich Sie: Statt zu sagen, der Novemberabend sei wie ein Tuch oder das Tuch sei wie ein Novemberabend, könnte man nicht beides in einem sagen? Was ich frage, Rilke hat es immerwährend getan.

Bei ihm sind die Dinge wie in einem Teppich verwoben; wenn man sie betrachtet, sind sie getrennt, aber wenn man

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auf den Untergrund achtet, sind sie durch ihn verbunden. Dann verändert sich ihr Aussehen, und es entstehen sonderbare Beziehungen zwischen ihnen.

Das hat weder mit Philosophie, noch mit Skepsis, noch mit irgend etwas anderem zu tun als dem Erleben.

Ich möchte Ihnen zum Abschluss ein Lebensgefühl beschreiben. Aber ich schicke voraus, dass ich es nur andeuten kann. So wenig es nach Rilke aussehen wird, Sie werden mehr davon in seinen Gedichten finden als in meinen Worten. Und ich habe bisher eigentlich nur von einer einzigen Schönheit unter den vielen seines Werks in ihren Beziehungen gesprochen; aber es muss mir genügen, darauf hinzuweisen, wie schon diese in einen großen Entwicklungszusammenhang gehört. Und eben das, dieses Einbezogensein des Kleinsten ins Größte, ist Rilke.

Eine feste Welt, und darin die Gefühle als das Bewegliche und Veränderliche: das ist die normale Vorstellung. Eigentlich aber sind beide, die Gefühle und die Welt unfest, wenn auch innerhalb sehr verschiedener Grenzen. Dass die eine zur Wand für die anderen wird, hat zwar seine guten Gründe, ist aber ein wenig willkürlich. Und eigentlich wissen wir das ja recht gut. Dass kein Einzelner heute weiß, wessen er morgen fähig sein wird, ist kein ganz ungewöhnlicher Gedanke mehr. Dass die Übergänge von der moralischen Regel zum Verbrechen, von der Gesundheit zum Kranksein, von unserer Bewunderung zur Verachtung der gleichen Sache gleitende, ohne feste Grenzen sind, das ist durch die Literatur der letzten Jahrzehnte und andere Einflüsse vielen Menschen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Ich möchte nicht übertreiben. Betrachten wir den Einzelnen, so ist diese »Fähigkeit zu allem« recht starken Hemmungen unterworfen. Wenn wir aber die Geschichte der Menschheit, also die Geschichte der Normalität par excellence, betrachten, so kann es keinen Zweifel geben! Die Moden, Stile, Zeitgefühle, Zeitalter, Moralen lösen einander derart ab oder bestehen gleichzeitig in solcher Verschiedenheit, dass die Vorstellung kaum abzuwei-

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sen ist, sich die Menschheit wie eine gallertartige Masse zu denken, welche jede Form annimmt, die aus den Umständen entsteht. Natürlich haben wir ein eminentes Interesse daran, das zu leugnen, nämlich das praktische und moralische des jeweiligen Zustands. Es ist die ewige Tätigkeit des Lebens und zugleich sein Selbsterhaltungstrieb, die Wirklichkeit fest und eindeutig zu gestalten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Schwierigkeiten dafür überall dort sich verstärken, wo das Gefühl beteiligt ist. Darum schalten wir es nach Möglichkeit aus, wenn wir Wahrheit, Ordnung und Fortschritt wollen. Zuweilen schalten wir es aber vorsichtig auch wieder ein, z. B. im Gedicht oder in der Liebe. Das sind bekanntlich recht unlogische Vorgänge, aber man darf vermuten, dass die Eindeutigkeit des Erkennens überhaupt nur dort vorhält, wo die Gefühlslage im großen stabil ist. Ich kann das hier nicht weiter ausführen; aber Sie werden bemerkt haben, dass unser Umgang mit dem Gefühl nicht mehr ganz geheuer geworden ist. Und da dies dem geschärften Verständnis der Gegenwart nicht verborgen geblieben ist, lässt sich aus vielerlei Zeichen schon erwarten, dass wir einer großen Problemstellung nicht nur des Verstandes, sondern auch der Seele entgegengehn.

Und nun gibt es ein Gedicht, das in der Welt des Festen eine Ergänzung, Erholung, einen Schmuck, Aufschwung, Ausbruch, kurz Unterbrechung und Ausschaltung bedeutet; man kann auch sagen, es handelt sich da um bestimmte und einzelne Gefühle. Und es gibt ein Gedicht, das die im ganzen Dasein versteckte Unruhe, Unstetheit und Stückhaftigkeit nicht vergessen kann; man könnte sagen, hier handelt es sich, wenn auch nur in einem Teil, um das Gefühl als Ganzes, auf dem die Welt wie eine Insel ruht.

Das ist das Gedicht Rilkes. Wenn er Gott sagt, meint er dies, und wenn er von einem Flamingo spricht, meint er auch dies; deshalb sind alle Dinge und Vorgänge in seinen Gedichten untereinander verwandt und tauschen den Platz wie die Sterne, die sich bewegen, ohne dass man es sieht. Er war in gewissem Sinn der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich

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bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte. Er sah anders. In einer neuen, inneren Weise. Und wird einst, auf dem Weg, der von dem religiösen Weltgefühl des Mittelalters über das humanistische Kulturideal weg zu einem kommenden Weltbild führt, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Führer gewesen sein.

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»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
sedna
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Re: Musils Gedenkrede auf Rilke

Beitrag von sedna »

Musil hat geschrieben:Weder das ältere deutsche Gedicht, noch George oder Borchardt haben dieses freie Brennen des Feuers ohne Flackern und Dunkelheit.
Rudolf Borchardt am 1. April 1900 in einem Brief an Literarhistoriker Otto Deneke "über den ersten gedichtband von Rainer Maria Rilke, der den grässlichen titel Mir zur Feier führt":

"[...] interessant deshalb, weil er das anständige mittelgut von kunstübung darstellt, das in kulturländern wie Frankreich und England immer als stämmiges unterholz um die grossen künstler herumsteht, während es bei uns bislang fehlt. Sehr viel Georgetöne, die die eigenen fast ersticken, aber zwei oder drei gute gedichte"

sedna :lol:
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
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