Frage zur modernen Literatur

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gast

Frage zur modernen Literatur

Beitrag von gast »

Peter Weibel schrieb in "Kritik der Kunst – Kunst der Kritik" : Wissenschaft projiziert in die Welt neue Sprachstrukturen, Literatur in die Sprache neue
Weltstrukturen.“ Wie kann man diesen Satz in der modernen Literatur interpretieren? Gibt es Beispiele aus Werken von Rilke, die die Richtigkeit dieser These aufzeigen können?
Marie
Beiträge: 308
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Beitrag von Marie »

Hallo,

das kann ich mir schon vorstellen. Mir fiel als erstes Martin Heidegger ein, der die Sprache virtuos einsetzte und sicher auch ihre bis dahin gültigen Strukturen durchbrach, um dem Unaussprechlichen sprachlich so nahe wie nur irgend möglich zu kommen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Weibel die Philosophie zu den klassischen Wissenschaften zählt. Was die Literatur betrifft sind Rilkes Duineser Elegien ein gutes Beispiel, weil es explizit um neue Weltstrukturen geht, die mit Metaphern und dichterischen Kunstgriffen eine literarische Brücke in ein neues Weltbild erstellen. Führen nicht irgendwie beide Wege "nach Rom"? Kommt nicht eine neue Sprachstruktur AUS einem neuen Weltverständnis? Wird nicht eine neue Weltstruktur ZUERST durch ein verändertes Sprachverständnis manifest?
Das ist jetzt nur mal ganz schnell und oberflächlich "angedacht", ich komme gerne nochmal auf das Thema zurück, falls es dazu noch weitere Rückmeldungen gibt.

Gruß M.
Nejka
Beiträge: 13
Registriert: 3. Apr 2003, 13:24

Beitrag von Nejka »

Hallo!

Ich finde dieses Thema ganz interessant. Als ich darüber nachgedacht habe, schien mir die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit noch verschwommener als früher.
Hier sind einige Gedanken zu deiner Frage:

Wissenschaft projiziert neue Sprachstrukturen in die Welt : Ich will jetzt nicht Werbung machen, aber man muss nur an Reinigungsmittel denken, die unser Heim "hgyenisch" sauber machen, oder an "Fruchtzwerge" die -- ach irgend etwas ganz Wissenschaftliches mit Wachstum (und das sagt ein 10-jähriger!). Oder "Wärme ist, wenn die kleinen Teilchen schneller um den Kern zu rotieren beginnen." -- aus einer Werbung für Heizanlagen. Undenkbar vor der Endeckung der physkalischen Energiegesetze.Vor 150 Jahren konnte der alltägliche Mensch nichts mit "hgyenisch", "antibakteriell", "Klimaanlage", "ökologisch vorteilhaft", "Zukunftsmodell", "Testsieger" usw. anfangen.

Dass die Literatur neue Weltstrukturen in die Sprache projiziert lässt sich auch sehen.
Man denkt sofort an Metaphern, die erst durch die Literatur geläufig geworden sind: ursprünglich sind nicht einmal "Haut, weiss wie Schnee", "rabenschwarzes Haar", "smaragdene" Augen akzeptabel -- weil es eben ein Monster sein muss, was solche Eigenschaften im ganz wörtlichen Sinne besitzt. Aber Literatur schafft eine Distanzierung von der Wirklichkeit und erlaubt Denkausflüge, die dann zuerst in der Literatur gelaüfig werden, und später können sie sich im alltäglichen Leben einbürgern.

Neue Weltstrukturen: wir sagen, dass eine ganz besondere Freundschaft eine "Wahlverwandschaft" ist; wir sagen "es ist ein (zu) weites Feld" wenn etwas ganz schwer zu erklären, überwinden usw. ist; wenn wir den Realitätsstatus von etwas beurteilen, dann ist "Dichtung" das Eine und "Wahrheit" das Andere ...
In der Literatur finden sich Verwörtlichungen von Phänomenen, die den menschlichen Geist -- eine Gesellschaft -- beschäftigen; d.h. dass diese Phänomene in der Literatur ihre Strukturierung, Modellierung finden, und wenn sie (gesellschaftlich, psychologisch) relevant genung sind, finden sie den Weg aus der Literatur in die Welt. Sobald sie aber in der Welt sind, formieren sie (mehr oder weniger) das Denken der folgenden Generationen: das Modell der Wahlverwandschaft, z.B., ist schon hier, ich kenne es. Und wenn ich eine ganz besondere Freundschaft mit jemandem habe, kann ich darüber im Sinne einer "Wahlverwanschaft" denken, oder etwa im Sinne von "Schwester / Bruder im Gott". Dabei brauche ich Goethes Werk oder die Bibel überhaupt nicht kennen, weil die Modelle, die sie bieten, schon in der Sprache sind.

Und nun zur Rilke: das sehr bekannte Modell für die Einsamkeit, geistliche Verstummung, Traurigkeit eines Lebewesens ist der Panther. Viele Menschen rund um die Welt werden wissen, was du meinst, wenn du sagst, dass es dir wie (Rilkes) Panther geht. Muttersprachler werden sicher genauer wissen, welche andere Termini aus Rilkes Werk in die deutsche Sprache aufgenommen worden sind -- und wenn in die Sprache, dann auch in die Weltstrukturen.

Zu deiner Frage "Wie kann man diesen Satz in der modernen Literatur interpretieren?": Für die moderne Zeit ist es bezeichnend, dass es eine grosse Zahl von Texten gibt -- und somit (potenziell) eine ungeheuere Menge Modelle und Weltstrukturen. Nur wenige können sich in die allgemeine Sprache einbürgern, die meisten bleiben spezifisch für bestimmte soziale Gruppen. Wenn man "Rose" sagt, wird dass bei den Lesern dieses Forums einen ganz anderen Effekt haben als wenn man das wo anders sagt.
Ein anderes Problem ist auch, dass es heute keine für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindliche Lesart gibt. (Zumindest wird das so gesagt, obwohl es doch eine starke Neigung zur Vereinheitlichung gibt. In der Schule lernt man doch, dass "der Panther ein Symbol für die Einsamkeit des Menschen" ist ...) Es wird also eine Vielfalt von Verstehensweisen vorausgesetzt, und das ist gegenproduktiv für die Bildung von Weltmodellen, die in die Sprache aufgenommen werden könnten. (Da ein Phänomen oder ein Wort eine hohe Frequenz aufweisen muss, um in die (allgemeine und nach der Zahl der tatsächlich gebrauchten Einheiten relativ begrenzte) Sprache aufgenommen zu werden.)
Eine andere charakteristische moderne Erscheinung (die möglicherweise mit den vorigen zwei in Verbindung steht -- Überangebot von Weltstrukturen und nicht verbindliche Lesarten) ist das Zitieren. Zitieren erlaubt hinwerfende Mischungen von Weltmodellen: auf einer Seite kann man buddhistische, einsteinsche und Jeans-Werbung-Weltmodelle identifizieren. Die neue Weltstruktur, die die Literatur hier bringt, ist ein Spiegelbild unserer Zeit: eine Mischung, in der man Sinn findet, wenn man ihn gerade finden will, "muss aber auch nicht so sein".

Aber die Literatur selbst bietet auch verschiedene Weltstrukturen / Weltmodelle als Ganzes: Ich kann von Kindheit denken (dass ein Text vieldeutig ist, sei hier im Auge zu behalten): wie in Rilkes "Kindheit" aus dem Buch der Bilder ("Da rinnt der Schule lange Zeit ...") oder wie in "Kindheit" aus den neuen Gedichten ("Es wäre gut viel nachzudenken ..."): das erste Gedicht (und damit Weltsicht) scheint mir viel trauriger und aussichtsloser zu sein als das zweite.
Eine unglückliche Liebe kann so wie in Goethes "Werther" modelliert sein -- betörend, tragisch und vernichtend; oder kritisch und ironisch wie in Thomas Manns "Der Bajazzo": "Man geht an keiner unglücklichen Liebe zugrunde. Eine unglückliche Liebe ist eine Attitüde, die nicht übel ist. In einer unglücklichen Liebe gefällt man sich. Ich aber gehe daran zugrunde, dass es mit allem Gefallen an mir selbst so ohne Hoffnung zu Ende ist!"

Dazu lässt sich noch viel sagen. :)

Gruss,
Nejka
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Einspruch, Euer Ehren! Der Panther ist kein "Symbol für die Einsamkeit des Menschen"! In Abwandlung eines weltberühmten Zitats behaupte ich: Der Panther ist der Panther ist der Panther. Eine ihm unbekannte und unerreichbare Macht hat ihn hinter die Gitterstäbe, aus denen er sich nicht selbst befreien kann, verbracht - wo wäre da der Bezug zum Menschen? In welcher Schule wird so kurzschlüssiges Denken vermittelt? :roll: Gruß Christiane
Marie
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Beitrag von Marie »

Unterstützung naht! Was den Panther betrifft, liebe Christiane, muss ich dir absolut zustimmen. Rilke hatte sich immer so tief und absolut auf die "Dinge" eingelassen, dass da definitiv kein Raum blieb für irgendwelche intellektuellen Konstrukte, gesellschaftskritischen Zeigefinger etc. - das wäre einfach nicht Rilke (einige Prosaschriften und frühe "überreligiöse" Gedichte vielleicht ausgenommen)! Allerdings schränke ich das auch wieder in so fern ein, wenn ich davon ausgehe, dass es unmöglich ist im Äußeren etwas auf tiefster Ebene einzusehen, ohne dass es dazu nicht auch ein eigenes Seelenmuster gäbe. Und was unbewusste, verdrängte und sonstige Mächte anbelangt, die einen Menschen "hinter Gitter" setzen können, da würde mir schon eine ganze Latte einfallen.


Viele Grüße :D
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Sicher, liebe Marie, wir wollen niemanden verwehren, sich mit dem Panther zu identifizieren. Wogegen ich mich immer wehre beim Interpretieren, das sind die Gleichheitszeichen. Und gerade bei Rilkes Dinggedichtenversuchen immer wieder AnfängerInnen, doch eine feste Symbolik herauszulesen:"Dieses ist x und jenes bedeutet y." Da könnte man ja gleich die ganze Lyrik "übersetzen". In diesem Sinne liebe Grüße Christiane R. :D
Marie
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Beitrag von Marie »

Guten Abend Christiane,

wir sind offensichtlich nicht nur zur gleichen Zeit im Forum, sondern im Grunde auch der selben Meinung. Mich stört es kolossal, wenn auch in "professionellen" Interpretationen Rilke quasi zum Pädagogen mit erhobenem Zeigefinger erklärt wird (wie du weißt, habe ich nichts gegen Pädagogen, zumal ich weiß, dass du auch zu der "Gattung" gehörst!). Ich glaube, er hat sich, wenn der richtige Impuls zum schreiben kam, fast selbst überholt und erst hinterher erstaunt festgestellt, dass sich z. B. auch die formalen Elemente wie von selbst ergeben hatten. (zumindest reagierte er einmal erstaunt als eine ihm bekannte Dichterin, Mme. de Noailles, über diesbezügliche Schwierigkeiten beim Dichten stöhnte)

Liebe Grüße :wink:
Gast

Beitrag von Gast »

Christiane,
Ich kann deine Empörung gut verstehen. Hmja, so ist es nun mal ... Die Menschen sind eben gewohnt, alles schon irgendwie auf sich selbst zu beziehen -- und somit ist auch der Panther "ein Symbol" für die Ensamkeit (Kraftlosigkeit etc.) des Menschen"... Populär ist es aber gerade in dieser Weise; schau dir z.B. den Film "Awakenings" mit Robert DeNiro und Robin Williams an.
(Ein Mann (DeNiro) hat eine schwere Gehirnkrankheit (kann nicht sprechen, nicht für sich sorgen) und sein Arzt (Robin Williams) gibt ihm ein neues Medikament, dass den Kranken wieder etwas "aufweckt". Und einmal signalisiert der Kranke dem Arzt den Titel dieses Gedichtes, der Arzt geht in einen Garten (!) und liest dort Rilkes Panther -- und kann besser verstehen, wie es dem Kranken ist. no?)

Eines ist, Gedichte so zu lesen, dass sie Gedichte bleiben (ein Gedicht ist ein Gedicht ist ein Gedicht), etwas Anderes ist, Gedichte so zu lesen, dass man sich selbst in ihnen sieht (ein Gedicht ist ein Bild ist ein Symbol ist ich). Es wird offensichtlich oft vergessen, dass es bei vielen "Symbolen" um ein Resultat des Sich-Identifizierens geht, und nicht um etwas, was es schon im Gedicht gibt.
(So z.B. das Eröffnungsthema von Beethovens Fünfter Symphonie: Beethoven habe da das "Klopfen des Schicksals" vertont ... Ugh!! Oder dass Richard Wagner ein "nazistischer Komponist" war ...)
Theoretisch ist das Ding an sich unantastbar, praktisch will man aber glauben, dass wir es definieren können.

Was Interpretationen im Sinne von "Dieses ist x und jenes bedeutet y." angeht: ja, leider, aber so geht es in vielen Schulen zu; und nicht nur Schulen! Die Welt scheint viel greifbarer zu sein, wenn man sie so sieht -- man muss bloss an die eigenwilligen Interpretationen von Bush denken! Und was für zerstörende Folgen das hat!
Und nicht zuletzt ganz alltäglich: Produkte einer kosmetischen Firma benutzen heisst "sich schätzen"; schön=gut (aber nicht umgekehrt!); reich=respektabel ... sind Stereotype, die wir täglich treffen, stimmen ihnen oft nicht zu -- aber woher kommen sie denn? Die schwarz-weisse Optik ist eben sehr präsent in unserer Gesellschaft. Wundert es denn, dass auch Literatur so schwarz-weiss interpretiert wird?

Grüsse
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

no, fragst du? Aus meiner Sicht gar nicht. Hier scheint es mir gar nicht um eine symbolische Ausdeutung des Gedichts zu gehen, sondern um eine innere Aufmerksamkeit für die Seelenerlebnisse des Patienten, die er an dem Gedicht hatte und die aus dessen Erinnerung auftauchen. Kurzschlüssig und no kann die Sache allenfalls in dem Zuschauer werden, der sich sagt: Aha, so also wie aus den Augen des Panthers sieht der Patient seine Welt. Wenn der Arzt aber nur sieht: Aha, daran also hat der Patient vor seiner Erkrankung mit innerer Beteiligung Anteil genommen, so intensiv, dass selbst die durch die Enzephalitisfolgen verschütteten Seelenfähigkeiten hier rudimentär und isoliert aufblitzen, dann legt er in den Patienten nichts anderes hinein als das, was man auch beim Schöpfer des Gedichts vermuten darf: tiefes Interesse an dem Panther als Panther.

Und selbst wenn ein (meinetwegen an dem Rilke-Gedicht erwachtes) Urverständnis für die Situation eines seiner Freiheit beraubten Tieres zur Metapher für menschlich sozialbiographische Situationen würde, was wäre daran no?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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