Rilkes Stimme

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lilaloufan
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Rilkes Stimme

Beitrag von lilaloufan »

Als ich (hier: Site Thomas Edison, National Historical Park New Jersey) heute las, dass nach 130 Jahren Reichskanzler Bismarcks Stimme auf einer alten Wachswalze aufgetaucht ist, habe ich mich gefragt, ob es wohl phonographische Aufnahmen auch von Rilke geben mag. Theo Wangemann lebte bis 1906, und Rilke nahm schon als Schüler lebhaft (und einigermaßen beunruhigt) Notiz von der aufkommenden Tonaufzeichnungstechnik; siehe den Kronennaht-Aufsatz „Ur-Geräusch": «Das Phänomen blieb ja auch überraschend, ja recht eigentlich erschütternd, von einem Male zum anderen. Man stand gewissermaßen einer neuen, noch unendlich zarten Stelle der Wirklichkeit gegenüber (…) durch die Jahre hin meinte ich, es sollte mir gerade dieser selbständige, von uns abgezogene und draußen aufbewahrte Klang unvergesslich bleiben.»

Es könnte insofern sein.

Wer weiß etwas darüber?

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
sedna
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Re: Rilkes Stimme

Beitrag von sedna »

Lieber lilaloufan,
lilaloufan hat geschrieben:habe ich mich gefragt, ob es wohl phonographische Aufnahmen auch von Rilke geben mag
... habe ich mich auch schon gefragt, und bin vor einiger Zeit sogar mal einer Spur auf Youtube gefolgt:
"Heres a virtual movie of the celebrated Austrian poet Rainer Maria Rilke (1875 - 1926) reading his poem "Der Panther " (The panther) ..." (http://www.youtube.com/watch?v=nSIdzAdCU_A)
Dieses Video ist nun ein anderes als das damalige, auch die Stimme ist jetzt eine andere. Das, was ich aber in Erinnerung habe, klang schon irgendwie authentisch, sodass ich mit dem Videokünstler in Sachen Originalität Kontakt aufgenommen habe. Leider erhielt ich keine Antwort.
Man kann ja technisch heutzutage wahre Wunder vollbringen, und solche Animationen sind ein Riesen-Act.
Aber die Stimme von Rilke - ich bin froh, dass sie mir ein Geheimnis geblieben ist ;)

Schöne Sonntagsgrüße

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
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lilaloufan
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Re: Rilkes Stimme

Beitrag von lilaloufan »

Lieben Dank, sedna. Und ja, wenn ich Tonaufzeichnungen vergleiche mit dem Klang einer mir aus dem Leben vertrauten Sprechstimme, da wünschte ich auch manchmal, das Konservieren wär' unterblieben.

Ich meine mich zu erinnern, dass irgendein Rilke-Zeitgenosse Rilkes Sprechweise und Stimme in Lebenserinnerungen sehr gut charakterisierend beschrieben hat, aber leider weiß ich nicht mehr, wo ich das gelesen habe. Es war nicht in einer Rilke-Biographie.

l.
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stilz
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Re: Rilkes Stimme

Beitrag von stilz »

lilaloufan hat geschrieben:Ich meine mich zu erinnern, dass irgendein Rilke-Zeitgenosse Rilkes Sprechweise und Stimme in Lebenserinnerungen sehr gut charakterisierend beschrieben hat, aber leider weiß ich nicht mehr, wo ich das gelesen habe.
Vielleicht meinst Du diese Stellen aus dem Aufsatz Gerd Kluges?:
Gerd Kluge hat geschrieben:In weiter Modulation paßte er seine Stimme dem jeweiligen Text an. Fast schreiend und mit männlicher Härte kamen aus den Elegien die Worte der zweiten Elegie: „Jeder Engel ist schrecklich“, anklingend an die Eingangszeilen der ersten: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: Ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.“ Das Schreckliche der Engel, erklärte er, liege darin, daß sie im Gegensatz zum Menschen in einem Sein ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben. Ihm komme es aber entscheidend darauf an, deutlich zu machen, daß der Mensch, der Vergängliche, von seiner ersten Stunde an nicht nur lebe, sondern auch laufend stürbe. Jede Stunde sei zugleich Erfahrung und Abschied. „Wolle die Wandlung“, „sei jedem Abschied voran“ las er mit besonderer Betonung. Die mit diesem Ernst aber auch verbundene Heiterkeit strahlte sein Lesen des 13. Sonetts des ersten Teils aus:

„Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere … Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund… Ich ahne …
Lest es einem Kind vom Angesicht“,
„O Erfahrung, Fühlung, Freude -, riesig!“

und
Gerd Kluge hat geschrieben:Beim Lesen des 17. Sonetts: „Zu unterst der Alte“ wurde deutlich, daß die Schlußzeilen:

„Drängender Zweig an Zweig,
nirgends ein freier …
Einer! O steig … o steig …
Aber sie brechen noch.
Dieser erst oben doch
Biegt sich zur Leyer“,

ihn selbst meinen und er sich trotz Tochter und Enkelin als letzter seines Geschlechtes empfand. Im Kontrast zu den Wintererfahrungen auf Muzot las er mit besonderer Freude die Verse des 5. Sonetts des 2. Teils: „Blumenmuskel, der der Anemone Wiesenmorgen nach und nach erschließt -“ und mit echtem Entzücken das 21. Sonett des 1. Teils: „Frühling ist wieder gekommen. Die Erde ist wie ein Kind, das Gedichte weiß; viele, o viele … Für die Beschwerde langen Lernens bekommt sie den Preis.“ Nach den Schlußworten: „Sie singt’s, sie singt’s“, brach er wieder aus in ein von seiner eigenen Freude am Gelungenen hingerissenes Lächeln. Hier und auch sonst kam wiederholt in den Gast verblüffender Weise sein Humor zum Ausdruck, wie man ihn aber auch schon ahnt an einigen Stellen der Geschichten vom lieben Gott.
Herzlichen Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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lilaloufan
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Re: Rilkes Stimme

Beitrag von lilaloufan »

Ja stilz, das waren Zeiten, als es das ›Marburger Forum‹ noch gab!

Dieser Aufsatz von Gerd Kluge bot viel, aber ich meinte hinsichtlich Rilkes Sprechweise etwas noch Ausführlicheres; es war wohl von einer Frau geschrieben, glaub' ich zu erinnern.

Danke!
l.
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