10. November 1916

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Gast

10. November 1916

Beitrag von Gast »

Gibt es irgendwelche Hinweise in Tagebüchern oder Briefen, die Auskunft darüber geben, wo sich Rilke an diesem Tag aufhielt?
Paula
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Beitrag von Paula »

Hallo,

so ungefähr habe ich es herausgefunden: er hielt sich in dieser Zeit in München auf, wo er den Nachlass von Paula Modersohn-Becker sichtete und sich überlegte, ob er ihn editieren solle. Auf den Tag genau kann ich das aber nicht bestimmen ...

Paula
Gast

10. November 1916

Beitrag von Gast »

Danke. Das war mein Verdacht auch. Kurz zum Hintergrund meiner Frage:
Franz Kafka hat an diesem Tag in München seine "Strafkolonie" vorgelesen und schreibt an Felice Bauer die etwas rätselhaften Zeilen: "Ich habe mein Schreiben zu einem Vehikel nach München, mit dem ich sonst nicht die geringste geistige Verbindung habe, mißbraucht und habe nach 2jährigem Nichtschreiben den phantastischen Übermut gehabt, öffentlich vorzulesen ... Übrigens habe ich mich in Prag auch noch an Rilkes Worte erinnert. Nach etwas sehr Liebenswürdigem über den Heizer meinte er, weder in Verwandlung noch in Strafkolonie sei diese Konsequenz wie dort erreicht. Die Bemerkung ist nicht ohne weiteres verständlich, aber einsichtsvoll."

Eugen Mondt hat in seinen Erinnerungen über den Vortragsabend geschrieben, erwähnt aber genauso wenig wie Max Pulver Rilkes Anwesenheit. Andererseits war Kafkas Geschichte zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht. (Kafka musste allerdings das Manuskript vorweg der Zensurbehörde zur Verfügung stellen, die überraschenderweise nichts auszusetzen fand.)
So bleibt die (Nicht-)Begegnung mit Rilke einigermaßen rätselhaft.
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Hallo,

Eugen Mondt hat gemeinsam mit Georg Hecht 1912 ein Rilke Buch veröffentlicht. Weiss jemand mehr über Georg Hecht ? Ich habe gegoogelt, aber irgendso ein sch... Webprogrammierer mit Namen Georg Hecht blockt jede sinnige Recherche ab. Auch in meinem Literaturlexikon kommt er nicht vor. Ich habe nur über google erfahren können, dass er vor 1915 ermordet wurde.

Anna :lol:
"anna blume... man kann dich auch von hinten lesen... du bist von hinten wie von vorne: "a-n-n-a." (kurt schwitters)
Harald
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Re: 10. November 1916

Beitrag von Harald »

Zeitschrift für Germanistik, Leipzig - 1983, Seite 35 sieht nach einer brauchbaren Informationsquelle aus. Dort steht unter anderem, dass Hecht am 14. Mai 1915 im Alter von dreißig Jahren an der Westfront erschossen wurde.
Hier sind wenigsten ein paar seiner Veröffentlichungen:
Der neue Jude / Hecht, Georg / 1911
Herbert Eulenberg oder Ein Traktat über Kritik / Hecht, Georg / 1912
Gerhart Hauptmann: Traktat über Kunst und Pathos - 1912
Rainer Maria Rilke / Eugen Mondt. - Lpz: Engel, 1912
Die fünf portugiesischen Briefe der Nonne Maria Alcoforado / Alcoforado, Marianna / 1913
Briefwechsel mit Thomas Carlyle / Goethe, Johann Wolfgang von / [1914]
Georg Hecht: Das Werk des Charles Louis Philippe. In: Die weißen Blätter. Jg. 1, Nr. 11/12 (Juli/August 1914), S. 1348-1350.
Denkwürdigkeiten über das Leben Napoleons des Ersten / / Marie Henri Beyle. - München: Langen, 1914
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P.S. Der Gast, der den Thread eröffnet hat, war ich.
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Harald
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Re: 10. November 1916

Beitrag von Harald »

Mittlerweile ist mr eine unveröffentlichte Tagebucheintragung Rilkes bekannt geworden, die seine Anwesenheit bei Kafkas Lesung annähernd verbürgt (Rilke hätte sich anders auch kaum zur Strafkolonie äußern können, da sie noch nicht veröffentlicht war):
"Wie sein erhaltener Taschenkalender beweist, hatte er sich an diesem 10. November für fünf Uhr nachmittags mit Lou Albert-Lazard verabredet und dann 'Franz-Kafka-Abend bei Goltz' vermerkt." (Hartmut Binder, Prager Profile: Vergessene Autoren im Schatten Kafkas).
Kafka las in der "Galerie neue Kunst Hans Goltz" in der Reihe "Abende für neue Literatur".
Was für ein Zusammentreffen!
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helle
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Re: 10. November 1916

Beitrag von helle »

Man findet zu diesem Zusammentreffen auch Hinweise im dritten und abschließenden Band der Kafka-Biographie von Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (2008), den ich großartig finde (der erste Band wird paradoxer Weise als letzter erscheinen).

Kafkas Lesung in München war die einzige, die außerhalb von Prag stattfand und Kafkas einzige Begegnung mit Rilke. Es gibt auch nur eine umfangreichere Besprechung dieser Lesung, die Überlieferung ist insgesamt ziemlich dürftig, nur unter den Kennern war Kafka kein Unbekannter. Stach schreibt: »Und so bleibt alles in einem eigentümlichen Zwielicht: jene stadtbekannte Galerie [Neue Kunst Hans Goltz] im ersten Stock der Buchhandlung Goltz, behängt mit Werken der Neuen Sezession, darin einige Dutzend Zuhörer, die meisten in Mänteln (auch in München herrschte längst Kohlennot), unter ihnen Rilke nebst weiteren Autoren und Kritikern, nicht zu vergessen Felice Bauer [...]. Danach die übliche kleine Runde im Restaurant, leider ohne Rilke [...]. ›Ich hätte meine kleine schmutzige Geschichte [In der Strafkolonie] nicht lesen sollen‹: So lauter die einzige Äußerung Kafkas, die von diesem Abend glaubhaft überliefert ist. [...].«

Die Presse hat Kafkas Lesung kritisch beurteilt, und Kafka hat sich diese Kritik natürlich zu eigen gemacht. » ›ein Lüstling des Entsetzens‹, hieß es am Sonntag in der Münchener Zeitung, während Kafka schon wieder im Zug saß«, so Stach weiter, und er zitiert noch zwei andere wenig wohlwollende Berichte. »Auf die Zusendung weiterer Rezensionen verzichtete er«. Dann führt er Kafka selbst an, im Brief an Felice Bauer vom 7. Dez. 1916:
Ich habe mein Schreiben zu einem Vehikel nach Müncghen, mit dem ich sonst nicht die geringste geistige Verbindung habe, mißbraucht und habe nach 2jährigerm Nichtschreiben den phantastischen Übermut gehabt, öffentlich vorzulesen, während ich seit 1½ Jahren in Prag meinen besten Freunden nichts vorgelesen habe. Übrigens habe ich mich in Prag noch an Rilkes Worte erinnert. Nach etwas sehr Liebenswürdigem über den Heizer, meinte er, weder in Verwandlung noch in Strafkolonie sei diese Konsequenz wie dort erreicht. Die Bemerkung ist nicht ohne weiters verständlich, aber einsichtsvoll.
»Eine eindeutige Zeugenaussage zu Rilkes Anwesenheit bei Kafkas Lesung existiert leider nicht«, heißt es dann in einer Anmerkung von Stach. Aber auch er geht aufgrund der obigen Äußerung sowie des Eintrags in Rilkes Terminkalender davon aus, daß beide miteinander gesprochen haben.

Gruß, h.
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: 10. November 1916

Beitrag von Harald »

Man kann tatsächlich nicht sicher sein, weil Kafka die zu lesenden Texte schon vorher nach München schicken musste wegen der Zensur. Sie trafen am 30. September dort ein, so dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass Rilke sie über Goltz oder Mondt zu lesen bekam. Mit der Tochter von Goltz habe ich vor circa 12 Jahren korrespondiert, aber sie konnte keine konkreten Auskünfte geben. Etwa vorhandene Dokumente sind im Krieg verloren gegangen. Auch hinsichtlich der Akten der Zensurstelle wurde ich abschlägig beschieden. Wenn ich mich recht erinnere, waren Kriegsschäden die Ursache. Die Bücher des Hotels Bayerischer Hof sind gleichfalls unvollständig. Pulver ist wenig zuverlässig als Quelle, da er seine etwas selbstgefälligen Erinnerungen erst in den Fünfzigern veröffentlicht hat. Ein kafkaesker Geisterbesuch mit einer geisterhaften (Nicht-)Begegnung.
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