Muzot 1953

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helle
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Muzot 1953

Beitrag von helle »

»[...] so war es in Muzot, wo ich der Haus-verwalterin und -herrin, Frida Baumgartner, die mit 18 Jahren als Hausgehilfin zu Rilke kam, bei einer irdenen Kanne weissen Rhôneweins, einige mich fesselnde Dinge entlockte: er war knapp 1,65 gross, konnte durch die niedrigen Bogen, die die Zimmer verbinden, ohne sich zu bücken durchgehen, eine Gestalt von morbider Fragilität, meistens in grauen Hosen, mit einem schwarzen, sehr formellen Cutaway-artigen Rock. Seine Briefe schickte er fast alle eingeschrieben; das Mädchen musste immer ein Postbuch aus Sierre heraufholen, in dem 365 Briefe eingetragen werden konnten; im Jahre 25, ein Jahr vor seinem Tode, erinnerte sie sich, eins geholt zu haben, das in 45 Tagen voll war! Meistens Briefe an Frauen und junge Mädchen, Stapel sollen noch in Wien und Zürich und in privatem Gewahrsam liegen.«

So Friedrich Wilhelm Oelze an Gottfried Benn, in dem erstmals mit Oelzes Gegenbriefen publizierten Briefwechsel zwischen beiden (1932-56), Göttingen 2016. Der Bremer Kaufmann, Goethekenner und Briefpartner Benns hatte Muzot 1953 besucht und schreibt, leicht ironisch: »Wurden, weil aus Bremen, ins Heiligtum eingelassen.«

Die Altersangabe zu Frida Baumgartner ist falsch, sie soll 1895 geboren sein und kam 1921, folglich mit 26 Jahren zu Rilke.
Die Konstellation Rilke-Benn-Oelze ist speziell (im Kontext der genannten Briefe ist noch einiges dazu zu finden), vor Jahren wurde hier noch ein anderer Aspekt erwähnt (viewtopic.php?f=11&t=2997&p=9353&hilit=oelze#p9353).

Gruß, namentlich an die neue Moderatorin,
helle
stilz
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Re: Muzot 1953

Beitrag von stilz »

Lieber helle,

vielen Dank für diesen Fund (und auch für den „namentlich“ Gruß...)!

Zu Rilkes Körpergröße, die ihm erlaubte, ohne Bücken durch die niedrigen Bogen von Zimmer zu Zimmer zu schreiten, fällt mir mein Lieblingsgedicht aus Karl Heinrich Waggerls „Heiterem Herbarium“ ein (ich habe das Büchlein zu Weihnachten an eine frischgebackene quacksalberei verschenkt):

  • Stengelloser Enzian

    Bist du verzagt,
    weil dich so vieles überragt?
    Schau in dies holde Angesicht
    und merk: Am Stengel liegt es nicht!

Was Oelze bzw Frida Baumgartner über das Postbuch berichtet, paßt gut ins Bild... 30.000 Briefe sollen's ja gewesen sein, wie wir vor bald 12 Jahren (!) hier im Forum besprochen haben; gliwi hat damals (wenn auch mit etwas anderer Bewertung :wink: ) im Grunde Ähnliches dazu gesagt wie Etty Hillesum, auf deren Äußerung lilaloufan vor einiger Zeit aufmerksam gemacht hat:
Etty Hillesum hat geschrieben:Immer wieder komme ich auf Rilke zurück. Es ist sonderbar, er war ein empfindsamer Mensch und schrieb viele seiner Werke innerhalb der Mauern gastfreundlicher Schlösser, und er wäre möglicherweise zugrunde gegangen unter den Umständen, unter denen wir heute leben müssen. Aber zeugt es nicht von einer guten Ökonomie, dass sensitive Künster in ruhigen Zeiten und unter günstigen Umständen ungestört nach der schönsten und passendsten Form für ihre tiefsten Erkenntnisse suchen können, an denen sich Menschen, die in bewegteren und kräftezehrenden Zeiten leben, aufrichten können und in denen sie ein fertiges Gehäuse vorfinden für ihre Verwirrung und ihre Fragen, die noch zu keiner eigenen Form und Lösung gelangt sind, weil die tägliche Energie für die täglichen Nöte aufgebraucht wird?

Danke auch für die Verlinkung des (erst knapp 10 Jahre alten) Gottfried-Benn-threads!

Wie schön, daß wir heute nicht nur Rilke, sondern auch Benn und Waggerl und viele andere „haben“; ich betrachte es überhaupt als Privileg, daß wir uns die Zeit nehmen können, hier im Rilke-Forum Gedanken auszutauschen, die wohl von so manchem als Luxus empfunden werden...

Herzlichen Gruß!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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