Fluchtpunkte

Paris und Frankreich, Russland, Schweiz, Skandinavien, Spanien, ...

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Mona
Beiträge: 175
Registriert: 5. Apr 2006, 20:47
Wohnort: Neustadt

Fluchtpunkte

Beitrag von Mona »

Hallo,

war Rilke ein Grenzgänger ?

Mona :lol:
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Fluchtpunkte

Beitrag von stilz »

Gegenfrage:
Soll der Betreff "Fluchtpunkte" bedeuten, daß man nur dann Grenzgänger sein kann, wenn man sich auf der Flucht befindet?
Oder beziehst Du Dich darauf, daß wir - bei aller Begrenzung unserer sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten - dennoch gewissermaßen ins Unendliche blicken können? Denn dort, so lehrt die Geometrie, befindet sich der Schnittpunkt paralleler Linien...

Zum Thema "Grenzgänger" fällt mir vor allem dieses Gedicht ein. In meinem Rilke-Band läuft eine sichtbare Grenze senkrecht mittendurch - in jeder Zeile ist die erste Hälfte durch Leerzeichen von der zweiten getrennt (hier hab ich schon einmal sowas abgeschrieben).

Gute Nacht!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
DoMi
Beiträge: 80
Registriert: 10. Aug 2007, 16:45
Wohnort: Bayern

Fluchtpunkte

Beitrag von DoMi »

Hallo stilz, hallo Mona,

ich finde den Begriff "Fluchtpunkte" ziehmlich gut gewählt...(ist er zitiert, Mona, oder stammt er von dir?). Meiner Meinung nach, bedeutet es zum einen ein "Grenzgänger" zu sein, immer neue Ideen, immer abwegigere Ideen zu finden, welche vielleicht später einmal als fortschrittlich betrachtet werden können. In diesem Fall wäre es eine Flucht nach vorne, hin zu Neuem; oder um in deinem Bild zu bleiben, stilz, ein Blick, eine Flucht, in Richtung Unendliches... Zum anderen kann dieser "Grenzgänger" auch vor der Gesellschaft fliehen, sich also aus-grenzen.
In beiden Versionen, so denke ich, könnte man sich Rilke ganz gut vorstellen... Einer, der in seiner eigenen Einsamkeit, in seinen persönlichen Eigenarten gelebt hat und aus diesen heraus immer Neues, Neubedachtes gefunden hat. Ist nicht so gesehen ein jeder Dichter oder Schriftsteller in gewisser Weise ein Grenzgänger?

Liebe Grüße,

Dominik
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Fluchtpunkte

Beitrag von stilz »

Lieber Dominik,

ich verstehe, was Du meinst... dennoch finde ich den Begriff "Flucht" in diesem Zusammenhang nicht ganz glücklich gewählt. Denn er scheint zu suggerieren, daß das, was man hinter sich läßt, die Motivation für das Überschreiten einer Grenze ist, und nicht das, was man jenseits der Grenze zu finden hofft.
Und bei Rilke erlebe ich immer wieder, daß weder das eine noch das andere ihm das Wichtigste ist, sondern eben der "Grenzgang" selber, so wie es in dem von mir erwähnten Gedicht heißt:
  • wiedererholtes Herz ----- ist das bewohnteste:
    freier durch Widerruf
    ----- freut sich die Fähigkeit.
Ist das wirklich das, was man gemeinhin unter "Flucht" versteht?

Zudem denke ich bei "Grenzgang" auch an Rilkes Zeit bei Rodin, an die "Haut der Dinge", die er zu sehen lernte, also auch hier wurden ihm die Grenzen interessant, und auch hier wieder, meiner Meinung nach: ganz ohne "Flucht".

Also, liebe Mona, meine Antwort auf Deine Frage: Ja, ich finde schon, daß man Rilke als "Grenzgänger" bezeichnen könnte.

Was mich jetzt noch interessieren würde: warum fragst Du?

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
Beiträge: 342
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Fluchtpunkte

Beitrag von helle »

Hallo Mona,

ich finde, daß Deine Frage, eine solche Frage, unbedingt erläuterungsbedürftig ist und daß es wenig hilft, sie hier vorzutragen, als wüßte jeder schon, was damit gemeint ist, wie wenn man fragen würde, ob Rilke Linkshänder oder Weinkenner wäre. »Grenzgänger« ist ja ein anderes Wort als »Fußgänger« oder »Grenzbeamter«, weil man es in der Regel metaphorisch verwendet und deshalb erläutern müßte, an welchen Begriff der Grenze man dabei denkt. Nimmt man es nicht metaphorisch, bezeichnet es »üblicherweise Arbeitnehmer, die täglich zwischen dem Land, in dem sie leben, und dem Land, in dem sie arbeiten, pendeln« (Wikipedia). Das ist nun offenbar nicht gemeint, obwohl die Frage in der Rubrik »Kulturräume, Orte und Reisen« steht, sondern ein Grenzgänger, dessen Tun etwas mit »Fluchtpunkten« zu tun haben muß. Und spätestens hier wird es ohne eine Konkretisierung dessen, was Dir bei dieser Frage eigentlich vorschwebt, diffus, weil man einerseits mit Rilke, worauf auch Dominik schon hingewiesen hat, wie mit jedem Dichter, der in seiner Art aufs Ganze geht, natürlich einen Begriff der Grenze – etwa des Sagbaren – verbinden kann, was ein Problem seiner Dichtung ist und andererseits, angesichts seiner vielen Aufbrüche und Aufenthaltsorte, ebenso den Begriff der Flucht, was aber ein Problem seines Lebens und seiner Persönlichkeit wäre.

Gruß, H.
Mona
Beiträge: 175
Registriert: 5. Apr 2006, 20:47
Wohnort: Neustadt

Re: Fluchtpunkte

Beitrag von Mona »

Hallo,

entschuldigt, dass ich mich erst jetzt wieder zu dem Thema melde, aber es ist einfach noch zu viel los hier momentan...

Nun ursprünglich ist meine Frage bezogen auf Rilke eine Frage der Ortsbestimmung. Besonders sieht man das wohl in seinem Bezug zu Frankreich. Da lässt es sich sowohl örtlich bestimmen, also zb Rilke in Paris und dazwischen immer mal wieder in Deutschland... aber genauso gut auch am Übergang in seinem Kunstverständnis wie seinen Neuen Gedichten oder dem Malte oder seinen Übersetzungen und natürlich auch : Rodin !

Fluchtpunkt, dieser Begriff kommt aus der Perspektivität, also zb aus der Fotografie oder Architektur...

Gebraucht habe ich diesen Begriff in einem übertragenen Sinn, das Darüberhinausgehende, über das eigentlich Sichtbare, Erkennbare ... und auch hier gibt es wieder einen Bezug zu Rilke : die innere und äußere Wahrnehmung, zb im Panther-Gedicht oder das Sehen - lernen des Malte... oder zuletzt auch in den Elegien ...

Für uns kann es bedeuten, dass Grenzüberschreitende, das nicht offensichtlich auf den ersten Blick Erkennbare...

Für mich persönlich bedeutet es auch, seit einigen Tagen - und hier wieder bezogen auf Rilkes Ausgangspunkt:

DIE VOR UNS UND - WIR

"Licht übers Land -
Das ists, was wir gewollt"
1884, Jens Peter Jacobsen.

Die vor uns liebten das Grollen
Der Stürme in schauernden Schluchten,
der Berge gigantisches Wuchten,
des Wildbachs flutende Fluchten
und das stöhnende Sterben der tollen
Wogen in bangen Buchten.

Anders ist, was wir wollen:

Weit in die Lande schauen
Bis an den Himmelssaum,
einer Blonden vertrauen
einen lieben Traum,
lichte Wege erkiesen
durch den dämmernden Hain
und in wartenden Wiesen
wie in der Heimat sein.
Immer leiser werden
Und immer weiter gehn,
und des Gartens Gebärden
und seine Stille verstehn.
RMR

Ich hoffe, es ist nun einigermassen verständlich, was ich mit meiner Frage gemeint habe... ?!

Mona :lol:
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Fluchtpunkte

Beitrag von stilz »

Ja - nun wird es klarer.

DIE VOR UNS UND - WIR ... diesem Gedicht bin ich hier im Forum schon früher begegnet. In meinem Rilke-Band finde ich es leider nicht.
Ich nehme an, es ist ein "früher" Rilke? Du, Mona, sprichst ja auch vom "Ausgangspunkt"...

Die Schilderung dessen, was "DIE VOR UNS" liebten, bringt mich zum Schmunzeln - die "schaurigen Schluchten", die "bangen Buchten" lassen in mir ein ähnliches Gefühl entstehen wie das "bang und beklommen" des Schubert-Liedes "Alinde" (Text: Johann Friedrich Rochlitz, 1769-1842; ich habe eine Aufnahme mit Heinrich Schlusnus, der es mit einer Hingabe singt, die man heute für einen solchen Text nicht mehr zu hören gewohnt ist :wink: - ja, nicht nur bei Dichtern, sondern auch bei Sängern kann man diesen Unterschied zwischen denen "VOR UNS" und denen zu Rilkes Zeit bzw kurz danach - und schließlich uns Heutigen - bemerken).

Aber auch das andere, das, "was wir wollen", kann ich nicht ohne ein leises Lächeln lesen: "lichte Wege erkiesen", "einer Blonden vertrauen"... und ich frage mich, ob auch Rilke ein Lächeln auf den Lippen hatte, als er dieses Gedicht schrieb. Ob er zunächst "DIE VOR UNS" und danach auch sich selber und seine eigenen Sehnsüchte liebevoll ein wenig "auf die Schaufel nahm", wie wir in Wien sagen...

Und in mir entsteht auch noch die Frage, wie wohl Jahre später eine "dritte Strophe" zu diesem Gedicht ausgesehen hätte.

Ich denke beispielsweise an das Gedicht "Im Saal" aus dem Jahr 1907. Auch da geht es um Menschen "VOR UNS", allerdings von ganz anderer Art als die, die "das stöhnende Sterben der tollen/Wogen" liebten.
Und da heißt es zum Schluß:
  • ... Sie wollten blühn,
    und blühn ist schön sein; doch wir wollen reifen,
    und das heißt dunkel sein und sich bemühn.
Dieses "dunkel sein und sich bemühn" , um zu reifen - das scheint mir noch etwas ganz anderes zu sein als "in wartenden Wiesen/wie in der Heimat sein."

Wie schön, nicht an seinem "Ausgangspunkt" stehenzubleiben...
"Grenzgang" ist für mich auch das: "... immer weiter gehn" und nicht auf einem einmal bezogenen Standpunkt verharren...

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Antworten