Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Rilkes Eltern und Familie, seine Kindheit, Prag, St. Pölten

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Mona
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von Mona »

Hallo,

gestern wurde ich nach der Quelle gefragt für die Aussage:
Am Rande des Artikels von Hermann Pongs von 1936 - der hier meine Quelle ist - steht nämlich, dass die "Legende" von Rilkes "jüdischer Mutter", in Josef Nadlers Literaturgeschichte, vom Rilke Archiv widerlegt wird.
Nun, ich habe heute in der Bibliothek nachgesehen und es ist, wie ich bereits vermutet habe im Rilke Sonderheft der Zeitschrift Dichtung und Volkstum 1936 erschienen, die von Hermann Pongs herausgegeben wurde. Sein Artikel lautet: Rilkes Umschlag und das Erlebnis der Frontgeneration, S. 75-99. Auf Seite 76 merkt Hermann Pongs in einer Fussnote, die sich auf Josef Nadler bezieht, an: Literaturgeschichte 4, 891ff. Die Legende von der jüdischen Mutter ist durch das Rilke-Archiv widerlegt. Auch Deutsch-Österr. Lit.-Gesch. III, 1835 (Franz Koch).


Unabhängig davon bleibt es eine spannende Frage, ob Rilke jüdische Vorfahren hatte... Beeinflusst das sein Werk und wenn das der Fall ist, woran können wir es erkennen ?

Es ist übrigens die gleiche Zeitschrift, gleicher Jahrgang, in der auch Ernst Zinn seine Rezension der Späten Gedichte Rainer Maria Rilkes schreibt, woraufhin ihm August Kippenberg die Herausgabe der Sämtlichen Werke Rilkes überträgt.

Der Artikel von Hermann Pongs ist übrigens in einem Brief an Ernst Zinn von einer seiner Deutschlehrerinnen und Freundin Rainer Maria Rilkes damals heftig kritisiert worden, wie mir Barbara neulich als PN mitteilte.

Mona :D
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Sophia
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von Sophia »

Vielen Dank für den Literaturhinweis!
Sophia
gliwi
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von gliwi »

Mona hat geschrieben: Unabhängig davon bleibt es eine spannende Frage, ob Rilke jüdische Vorfahren hatte... Beeinflusst das sein Werk und wenn das der Fall ist, woran können wir es erkennen ?
´

Wieso ist diese Frage spannender als die, ob er wikingische oder hottentottische Vorfahren hatte? Wie könnte es ihn beeinflussen, wenn es ihm gar nicht bewusst ist? Und woran sollten dann wir es "erkennen" können? Das wären doch nichts anderes als unsere Meinung darüber, wie die Juden sind, in sein Werk hineinlesen. Das halte ich für einen ausgemachten Unsinn. Unser genetisches Material unterscheidet uns überhaupt nicht voneinander - also die einzelnen Völker, "Rassen" gibt es ja ohnehin nicht - und nur unwesentlich von den Menschenaffen, also was solls? Was wäre denn das "Jüdische", von dem ihr meint, dass es aus seinem Werk herausschauen soll? Die Frage ist legitim, wenn jemand seine Familiengeschichte rekonstruieren will, aber in Bezug auf das Werk halte ich sie nicht für legitim.
gliwi
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Mona
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von Mona »

Hallo gliwi,

um Deine Frage beantworten zu können, muss ich wohl noch eine Weile nachdenken und einiges lesen ... Da ich gerade an einem Vortrag arbeite, könnte es noch etwas dauern damit ...

Jetzt nur eine kleine Antwort bzw. Gegenfrage: woher willst Du wissen, ob es Rilke nicht bewusst war, wie Du schreibst ?

Für mich ist die Verbindung zwischen Person und Werk stärker eine kulturelle als eine genetische Frage. Meines Wissens nach gibt es im Judentum eine ausgeprägte Verbindung zwischen Sprache und Leben, was auf die Wikinger und Hottentotten vielleicht nicht unbedingt zutreffen dürfte.
In Rilkes Elegien liesse sich sicher - so sehe ich es - ein Zusammenhang zum Judentum finden.

Daneben sollte auch der zeitliche Bezug beachtet werden. Wenn Hermann Pongs 1936 betont, Rilke habe - entgegen älterer Literaturgeschichten, die eben auch nationalistisch geprägt sind - keine jüdische Mutter, und die Nationalsozialisten Rilke für sich vereinnahmen wollen, ist es doch nur erklärbar, dass versucht wird, Rilke hier - von Pongs u.a. - "reinzuwaschen": er "darf" kein Jude sein ! Dazu kommt noch, dass die Assimilisierung um 1900 eine bedeutende Rolle spielt, selbst unter den Juden, die zum christlichen Glauben, aus welchen Gründen auch immer, konvertieren. Vielleicht konnte es ihm deshalb gerade nicht
be-wusst sein ?!

Ich finde jedenfalls: es bleibt eine spannende Frage !

Mona :D
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gliwi
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von gliwi »

Natürlich ist es eine kulturelle Frage, Mona, aber wenn er nicht im Judentum aufwächst, wie kann es ihn dann beeinflussen? Und wenn es ihm bewusst gewesen wäre, wieso hätte er dann in all seinen vielen Briefen und Äußerungen niemals auch nur den Hauch einer Andeutng gemacht, sondern vielmehr Sidonie (oder wen immer, mit Namen bin ich unsicher) brieflich vor dem Juden Karl Kraus gewarnt, wie es hier irgendwo nachzulesen ist?
Übrigens wird jedeR, der/die sich mit dem AT intensiv beschäftigt, "vom Judentum beeinflusst", den das AT ist ja die Grundlage der jüdischen Kultur. Das hat mit den Vorfahren nichts zu tun.
Gruß
gliwi
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Mona
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von Mona »

Hallo gliwi, hallo Forum,

nun habe ich mir mal die Mühe gemacht, die Beiträge über Rilke und Karl Kraus herauszusuchen, also - bei genauerer Betrachtung - lässt sich zum Antisemitismus nichts finden, Rilke warnt Sidonie (lediglich) vor den scharfen Waffen von Karl Kraus.

Der Brief lässt sich nachlesen bei:

http://www.rilke.de/briefe/210214.htm

Einen Beitrag im Forum findet Ihr:

http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.ph ... raus#p8556

Hier kann ich der Aussage von stilz nur zustimmen !

Übrigens gefällt mir der Satz im Rilke Brief:
Sie stehen da nicht der lieben, rein bewegten Geistigkeit eines fühlenden und sich mittheilenden Menschen -, Sie stehen einer Waffe, einem Bewaffneten, einem geistigen Angreifer gegenüber, und die natürliche Gegenseitigkeit dieses Gegenüberstehens ist nur solange fruchtbar, als Sie sich irgendwie wehren; wenn sich Freundschaft daraus ergiebt, so kann es nur eine Freundschaft ganz in Waffen sein, zu dem Zwecke, daß die Ihrigen daran sich übten.
(Hervorhebung von mir.)

ganz besonders gut 8) !

Mona :D
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stilz
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von stilz »

Liebe Mona,

danke! Ich freue mich wirklich sehr über Deine Zustimmung; ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, daß jemand meinen damaligen Beitrag liest und sieht, worauf ich hinauswollte.
Leider sind wir wohl noch immer nicht soweit, das Wort "Judentum" aussprechen und nach dessen möglichen Einfluß fragen zu können, ohne in bösen Verdacht zu geraten...

Ob Rilke nun wirklich jüdische Vorfahren hatte, weiß ich nicht.
Aber eine Art "Ehrfurcht" vor, vielleicht sogar etwas wie eine Sehnsucht nach einer ähnlich starken und unmittelbaren "Gottes-Verwurzelung", wie er sie zum Beispiel bei den Juden fand, scheint mir aus dem Brief an Ilse Blumenthal-Weiß, aus dem ich hier zitiert habe, herauszuklingen.
Und genau dieses Vertrauen, von dem Rilke da spricht, macht die Frage, ob er jüdische Vorfahren hatte, sehr viel spannender als die nach Wikingern oder Hottentotten.

Es geht nicht darum, das, was jeder einzelne von uns vielleicht für etwas "Jüdisches" halten könnte, aus seinem Werk herauszulesen. Sondern es handelt sich darum, was für Rilke "jüdisch" war.
Für mich stellt sich die Frage, ob Rilke ein ähnliches "Vertrauen" zu seiner eigenen Gottesbeziehung haben konnte wie zu der des jüdischen oder arabischen oder auch des alten mexikanischen Volkes. Gott als "Herkunft und darum auch Zukunft" - ist das nach Rilkes Anschauung so un-mittelbar grundsätzlich nur für Angehörige der von ihm erwähnten Völker zu haben? Oder kann man sich solche un-mittelbaren "Gottes-Wurzeln" auch erringen, ohne sie sozusagen aus seiner Volkszugehörigkeit geschenkt zu bekommen?

Was bedeutet das alles in Bezug auf den "Mittler, den Anknüpfer, den, der ihr Blut, das Idiom ihres Blutes übersetzt in die Sprache der Gottheit." ? (Übrigens finde ich es sehr interessant, daß die Richtung der Übersetzung hier "aufsteigend" dargestellt ist und nicht umgekehrt, aus der Sprache der Gottheit in die des Blutes...)

Im "Stunden-Buch" jedenfalls gibt es solch eine un-mittelbare Gottesbeziehung. Ob es die Rilkes ist oder die des russisch-orthodoxen Mönchs, in den er sich hineinversetzt - darüber haben wir ja hier schon einmal ausführlich diskutiert, ohne damals wirklich zu einer einstimmigen Lösung zu kommen.

Ich denke also schon, daß Rilkes mögliche jüdische Herkunft ein relevanter Gesichtspunkt ist, nicht nur im Hinblick auf die "Familiengeschichte".

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Arosa
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Re: Hatte Rilke jüdische Vorfahren?

Beitrag von Arosa »

Hallo,
im Rilke Sonderheft der Zeitschrift Dichtung und Volkstum 1936 erschienen, die von Hermann Pongs herausgegeben wurde. Sein Artikel lautet: Rilkes Umschlag und das Erlebnis der Frontgeneration, S. 75-99. Auf Seite 76 merkt Hermann Pongs in einer Fussnote, die sich auf Josef Nadler bezieht, an: Literaturgeschichte 4, 891ff. Die Legende von der jüdischen Mutter ist durch das Rilke-Archiv widerlegt. Auch Deutsch-Österr. Lit.-Gesch. III, 1835 (Franz Koch).
...würde mich nicht wundern, wenn das auf politischen Grundlagen aufbaut. Die Literaturgeschichte Nadlers ist nationalistisch begründet und öffnet damit den Nationalsozialisten Tor und Tür. 1936 dagegen wird versucht, Rilke als Nicht-Juden "reinzuwaschen", um sein Werk - gegenüber den Nationalsozialisten - zu "legitimieren". Zu fragen wäre, warum Rilke nicht - wie so viele seiner Zeitgenossen - zu den verbrannten Dichtern gehörte sondern - im Gegenteil - später von den Nationalsozialisten für ihre Ideologie vereinnahmt wurde. Musste das Rilke-Archiv dazu vielleicht sogar die "Legende von der jüdischen Mutter" "widerlegen", was vom nationalsozialistischen Pongs nur um so bereitwilliger aufgegriffen wurde ?

Arosa :D
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer -?
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