Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise

Persönliche Briefe an Freunde, Geliebte, Bekannte

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
cilli11
Beiträge: 5
Registriert: 1. Jun 2011, 22:36

Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise

Beitrag von cilli11 »

Hallo ihr Lieben,
vielleicht kann mir jemand bei der "Übersetzung" helfen ...irgendwie verstehe ich nicht, was Rainer hier sagt (Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise, es geht um das Schicksal der Frau, die Unerschöpfliches und Erschöpftes zugleich ist):
"Und erschöpft nicht aus Ausgegebenheit, sondern weil sie nicht immer weiter geben und gehen darf, weil ihre eigene hingebliche Reichheit in ihrem überaus vorrätigen Herzen zur Last wird, weil der unbändige glückliche Anspruch fehlt, zu dem sie morgends aufwachen müßte und dem sie auch als eine warme Schlafende noch unaussprechlich zu genügen vermag."
Es ist besonders dieser Satz, der mir Schwierigkeiten macht. Kann mir jemand helfen?
Vielen Dank
Cilli
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise

Beitrag von stilz »

Liebe Cilli,

ich hab Deine Frage erst jetzt entdeckt - und ich antworte Dir also seeeeehr verspätet:

Der Brief, aus dem Du zitierst, ist die Antwort Rilkes auf Lisa Heises zweiten Brief an ihn, vom 23. August 1919. Sie hatte ihm darin ein wenig von ihrem Schicksal angedeutet - sie lebte damals „allein gelassen in einem kleinen ländlichen Ort mit einem eben geborenen Kind und zum Lebenskampf weder geboren noch veranlagt“, wie sie im Vorwort des Büchleins „Briefe einer jungen Frau an Rainer Maria Rilke“ schreibt.

In ihrem zweiten Brief*) heißt es unter anderem:
  • „Ich bin wie ein Baum, dem man das Erdreich abgegraben hat, und den nur noch eine tiefe Wurzel mit dem Boden verbindet: mein Kind. Warum muß eine Frau sich immer so ganz verschwenden? Warum ist sie immer auf die nämliche Art begeistert, hingerissen, opferwillig und gläubig, da sie doch wissen müßte, daß sie in unendlich sparsamen und wohlabgewogenen Teilen zurückempfängt; und daß immer wieder eine Zeit kommt, in der sie sich mühsam wieder suchen muß, weil sie sich an etwas zu Großes verlor, das in ihr war und über sie hinauswuchs. Ist nicht alles Gerede von der Erlösung der Welt eitel, solange in den Beziehungen zwischen Mann und Weib die Gerechtigkeit unvollkommen ist? Müßte nicht auch der Mann auf dem Grunde seines inneren Lebens ein Bild jener Liebe bewahrt halten, die nicht so vielem Irrtum unterworfen wäre? Warum ist er so schlecht zur Liebe vorbereitet? Ist es ein Mangel an Willfährigkeit, daß er sich scheut, eine große seelische Arbeit auf sich zu nehmen? Aber wir? Müßte uns nicht die Erfahrung des Leidens gelehrt haben, maßvoll zu sein?
    Unfaßbar, daß das, was das Herz einmal als Besitz, als unverlierbares Eigentum wähnte, in eine Ferne gerückt ist, zu der man jegliches Maß verlor. Daß es nur noch als eine Skizze im Gefühl steht, die quälend zur Vollendung drängt. Wie viele schwere Dinge gibt es für den Zurückgebliebenen, von denen der andere nichts weiß.“


In seiner Antwort zieht nun Rilke einen Vergleich: dem Frauen-Schicksal stehe der Mann gegenüber
  • „... genau wie wir selbst, jeder einzelne, der Natur gegenüberstehen: unvermögend nämlich, so viel Unerschöpfliches aufzufassen, nehmend, atmend und dann wieder ablassend, absehend von ihr, uns verlierend an Städte, an Bücher, wegfallend aus ihr in die Zwischenräume des Daseins, sie verneinend und verleugnend in jeder Gewohnheit des Schlafens und Wachseins –, bis uns eine Welle des Unmuts, das Gefäll der Enttäuschung und Müdigkeit, ein entschlossener Schmerz wieder ihr zu Herzen reißt, uns hinwirft an sie, als an die Seiende, uns, die wir schon im Vergehen waren.“
Die Frau und die Natur haben also nicht nur das sich verschwendend Schenkende gemeinsam, von dem Lisa Heise gesprochen hatte, sondern auch das unvollkommene Gegenüber...

Und dann spricht Rilke von dem, was dennoch bei der Frau anders sei als in der Natur:
  • „Aber die Natur, die vollzählige, in sich betätigte und beruhte, merkt es nicht, wenn wir sie verlassen; unabhängig von unseres Herzens Andrang oder Abkehr, hat sie uns immer bei sich, sie kennt nicht die Not des Alleinseins, oder sie ist es als eine Vollständige, ist allein, weil sie alles ist, und lebt dann nicht an den Grenzen dieses Zustandes, sondern in seiner warmen vollkommenen Mitte und Innigkeit.“
Und nun fragt Rilke:
  • „Müßte nicht die Frau, die Vereinsamte, diese selbe Zuflucht haben, in sich zu wohnen, in den konzentrischen Kreisen ihres in sich heil zurückkehrenden Wesens?
    – Soweit sie Natur ist, gelingt es ihr vielleicht zuzeiten, dann aber wieder rächt sich an ihr das Gegensätzliche ihrer Zusammensetzung, durch welches ihr zugemutet ist, in Einem Natur und Mensch zu sein –, Unerschöpfliches und Erschöpftes zugleich.“
Und darauf folgen nun die Zeilen, die Du zitiert hast.

Daß Lisa Heise „der unbändige glückliche Anspruch, zu dem sie morgens aufwachen müßte und dem sie auch als eine warme Schlafende noch unaussprechlich zu genügen vermag“, fehlt, der bewirken würde, daß „ihre eigene hingebliche Reichheit in ihrem überaus vorrätigen Herzen“ nicht „zur Last“ würde - das liegt eben daran, daß der Vater ihres Kindes sie verlassen hat.

Das versetze sie, so Rilke weiter, in die
  • „... Lage einer Natur, aus deren Erdreich die Blumen sich nicht aufrichten und nähren möchten, einer Natur, von der die jungen Hasen wegsprängen und die Vögel sich fortwürfen, ohne in die empfänglichen Nester zurückzufallen.“

Ich bin sehr froh, daß ich vor einigen Jahren in einem Antiquariat Lisa Heises Briefe an Rainer Maria Rilke entdeckt habe - nun lesen sich Rilkes Antworten doch noch ein wenig anders.

Herzlichen Gruß!

Ingrid

*) Gegen Ende dieses zweiten Briefes schreibt Lisa Heise übrigens einen Satz, der sich mit den letzten Worten des Requiems für Wolf Graf von Kalckreuth trifft (, das Rilke elf Jahre zuvor geschrieben hatte, und von dem ich nicht weiß, ob Lisa Heise es damals schon kannte):
  • „Alles ist ein recht mühsamer Kampf um Tapferkeit, in dem es nicht gilt, zu siegen, nur zu bestehen.“
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
cilli11
Beiträge: 5
Registriert: 1. Jun 2011, 22:36

Re: Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise

Beitrag von cilli11 »

vielen dank für die ausführliche antwort:)
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: Brief vom30.08.1919 an Lisa Heise

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:Und dann spricht Rilke von dem, was dennoch bei der Frau anders sei als in der Natur:
Rilke hat geschrieben:
  • „Aber die Natur, die vollzählige, in sich betätigte und beruhte, merkt es nicht, wenn wir sie verlassen; unabhängig von unseres Herzens Andrang oder Abkehr, hat sie uns immer bei sich, sie kennt nicht die Not des Alleinseins, oder sie ist es als eine Vollständige, ist allein, weil sie alles ist, und lebt dann nicht an den Grenzen dieses Zustandes, sondern in seiner warmen vollkommenen Mitte und Innigkeit.“
Und nun fragt Rilke:
Rilke hat geschrieben:
  • „Müßte nicht die Frau, die Vereinsamte, diese selbe Zuflucht haben, in sich zu wohnen, in den konzentrischen Kreisen ihres in sich heil zurückkehrenden Wesens?
    – Soweit sie Natur ist, gelingt es ihr vielleicht zuzeiten, dann aber wieder rächt sich an ihr das Gegensätzliche ihrer Zusammensetzung, durch welches ihr zugemutet ist, in Einem Natur und Mensch zu sein –, Unerschöpfliches und Erschöpftes zugleich.“
Und darauf folgen nun die Zeilen, die Du zitiert hast.
Das erinnert mich an Rilkes mächtigen Eindruck von dem Bild: „Främlingar” (Fremdlinge) der Malerin Tora Holmström. Er hatte am 12. Februar 1914 eine Photographie davon erhalten.
  • Bild
An Tora Holmström schreibt er am 13. Februar 1914:
Rilke hat geschrieben:«…das gibt der Frau diese Schwere, dass sie auch Ahnengräber in sich hat, – und ihr dunkel Verschlossenes kommt davon her, dass draußen für sie nichts ist, dass sie alles, dass sie Welt sein muss, wie eben die Erde Welt ist.»
(Um genau zu sein: Am tiefsten ergriffen ist Rilke von der Darstellung des Kindes. Dort sei «die Malerei, die Farbe am freiesten, am geistigsten zum Ausdruck Ihrer [T. H. l.] reinen, ja gewaltigen Erfahrung geworden.» Im nächsten Satz zeiht Rilke das „Wort“ der vergleichsweisen Armut: «Ich mag nicht mehr davon sagen –, da ist ja schließlich das Wort eben nur ein armes Wort, und Sie werden fühlen, dass wirs nicht brauchen, um uns zusammen über das zu freuen, was sich uns da – Ihnen im Wirken, mir im Schauen – herrlich fühlbar gemacht hat.»)

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Antworten