das drollige Mißverständnis des guten Bürgers

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Harald
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das drollige Mißverständnis des guten Bürgers

Beitrag von Harald »

Ich glaube, daß viele Menschen denjenigen Künsten gegenüber, die mit starker Überwältigung auftreten (Musik z. B.) oft nichts als eine bequeme Hingabe leisten, ja dies wird es (fürcht ich) sein, was die Mehrzahl recht eigentlich unter Kunst-„Genuß" versteht, eineTrägheit auf Kosten der Überflüsse, die im Kunstwerk wirkend sind: hier setzt das drollige Mißverständnis des guten Bürgers ein, der sofort ins Ausruhen gerät, wo er mehr, als er begreift, geleistet sieht. Zuletzt wird es eine Sache des geistigen Gewissens sein, wie weit man in einem Kunsteindruck untergehen darf, oder, in ihm stehend, die Augen offenhalten muß. Mir konnte Musik oft einfach „Vergessen" bringen, aber jemehr ich an Bildern, Bildwerken und Büchern, oft auf langen Wegen, aufnehmend geworden bin, desto gefaßter werde ich auch der Musik gegenüber, desto weniger ist sie imstande, mich im Ganzen unter Wasser zu setzen und mir eine Verwandlung vorzutäuschen, in der ich mich doch, über sie hinaus, nicht zu erhalten wüßte.

Aus einem Brief Rilkes an die Gräfin Aline Dietrichstein vom 1.11.1916
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
gliwi
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Re: das drollige Mißverständnis des guten Bürgers

Beitrag von gliwi »

Dazu passt doch, dass manche Leute, wenn sie von einem Musikstück sehr begeistert sind, sagen: "Da könnte ich mich reinsetzen!" Ich finde das übrigens völlig legitim und kein "Missverständnis", schon gar kein "drolliges". Es ist eben ein anderes "Verständnis".
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Re: das drollige Mißverständnis des guten Bürgers

Beitrag von stilz »

Ich finde diese Briefstelle wirklich wunderbar. Rilke spricht mir aus der Seele. Vielen herzlichen Dank, Harald, für's Hereinstellen!

Und ja, ich stimme Rilke vollständig zu. Auch ich halte ein solches "Ausruhen", eine "Trägheit auf Kosten der Überflüsse, die im Kunstwerk wirkend sind", für ein Mißverständnis. Es ist nicht viel anders, als wenn ich ein Meisterwerk, in dem das Herzblut eines großartigen Malers steckt, einfach nur als Dekoration in mein Wohnzimmer hänge, ohne es jemals mit anderem Blick und Sinn anzuschauen als einen hübschen Vorhang oder eine buntgemusterte Tischdecke.

Natürlich geschieht so etwas tagtäglich, sowohl mit Musik als auch mit anderen Arten von Kunst... und es mag "legitim" sein, das will ich nicht beurteilen. Ein Mißverständnis bleibt es in vielen Fällen (wenn die Musik nicht schon vom Künstler als reine Unterhaltungsmusik gedacht ist) dennoch, und es tut mir immer ein bisserl weh, wenn ich dabei Zeuge bin.

Zum "Drolligen" daran eine kleine Geschichte aus dem Goldenen Wiener Musikvereinssaal, die mir ein Kollege vor einiger Zeit erzählte, und bei der weder er noch ich schließlich zu sagen wußten, ob man da eigentlich lieber lachen oder weinen sollte... :

Er war als Zuhörer im "Philharmonischen" gewesen, auf dem Programm Bachs "Matthäuspassion" unter Riccardo Muti.
Als er nach dem Konzert, noch ganz erfüllt von der Aufführung, die Treppe hinunterschritt, belauschte er unfreiwillig zwei elegant gekleidete Damen vor ihm:
"A so a Musik, a so a schene Musik - wunderbar!"
"Ja wirklich. Ganz wunderbar, herrlich, unvergleichliche Musik! - Aber die G'schicht: sowas Grausliches*) - lauter Blut und Wunden!"

- - -

Herzlichen Gruß!

Ingrid

*) edit: ich hatte nicht ganz richtig zitiert und, viel zu gelinde, "sowas Furchtbares" geschrieben.
Zuletzt geändert von stilz am 5. Nov 2009, 12:11, insgesamt 1-mal geändert.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
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Re: das drollige Mißverständnis des guten Bürgers

Beitrag von helle »

»Drollig« finde ich auch gut und Danke für die verschiedenen interessanten Stellen in den letzten Tagen. Die Spitze des Arguments scheint mir bei diesem Brief, daß »Kunst«, in welcher Form auch immer, in dem von Rilke gemeinten Sinn eben nicht Genuß meint, noch weniger »Ausruhen«, sondern eine Form der Beunruhigung (du mußt dein Leben ändern), des Wachseins, des Öffnens und Offenhaltens der Sinne, nicht vereinnahmt werden, sondern, noch mal anders gewendet, ein Standhalten – dem Ansturm auf das Bewußtsein, der die Kunst ist – gewärtigen statt vergessen, Dauer statt momentaner Rausch, Apollon statt Dionysos.

Das nicht zu verstehen oder mißzuverstehen, mag zwar eine andere Art von Verständnis sein, aber Legitimität hat sie für Rilke wohl nur in dem statistischen Sinn, daß sie vorkommt.
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