Keine Therapeutisierung der Kunst!

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lilaloufan
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Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von lilaloufan »

In einem Gespräch über die Paradigmen „helfender Berufe“ habe ich dieser Tage mich ausgetauscht über die Frage nach Lebenshilfe durch Kunst, im Speziellen - etwas überspitzt formuliert: - „Rilke als ’Seelsorger’“. Ich war der Meinung, ein Gedicht ist Kunst, ist zunächst nicht dazu da, die Seele des Lesenden zu ordnen, aber: es kann zu Recht vom Lesenden und auch vom Vermittelnden dazu geeignet gemacht werden. Eine Kollegin vertrat die Auffassung, der Dichter selbst stelle - darum wissend[!] - das für ihn selbst als ordnend Erlebte in seiner gültigsten Form einer Leserschaft zur Verfügung, als Heilmittel gewissermaßen.

Daran haben sich zunächst ein paar Missverständnisse entzündet, die wir jetzt geklärt haben, und ich möchte nun das Thema hier zur allgemeinen Diskussion stellen.

Die beiden Textstellen, die uns da weiterhalfen, will ich hier nennen:

«Sie überschätzen gewiss überaus, was den Einfluss meiner Bücher angeht, seine Kraft und Leistung in Ihnen; kein Buch, sowenig wie ein Zuspruch, vermag etwas Entscheidendes, wenn der, den es trifft, nicht durch ganz Unabsehliches vorbereitet ist für eine tiefere Aufnahme und Empfängnis: wenn nicht seine Stunde der Einkehr ohnehin gekommen ist. Die in die Mitte des Bewusstseins zu rücken, genügt dann das oder dies: manchmal ein Buch oder Kunstding, manchmal der Aufblick eines Kindes, die Stimme eines Menschen oder eines Vogels, ja, unter Umständen ein Geräusch des Windes, ein Krachen im Fußboden, - oder, da man noch am Kaminfeuer saß (was ich ab und zu tat im Leben), ein Hineinschauen in die Verwandlungen der Flamme. Alles dies und noch viel Geringeres, scheinbar Zufälliges, kann ein Sich-Finden oder Sich-Wieder-Finden (…) veranlassen und bestärken -, die Dichter, ja, ab und zu mögen auch sie unter diesen guten Anlässen sein…» (Brief an Ilse Blumenthal-Weiß, 28.XII.1921)

An der anderen Stelle, fast drei Jahre später, in einem Brief an Professor Hermann Pongs, spricht Rilke von der völligen «Unlust, ja Abneigung, irgend jemandes Lage zu verändern oder, wie man sich ausdrückt, zu verbessern» und schreibt: «Niemandes Lage in der Welt ist so, dass sie seiner Seele nicht eigentümlich zustatten kommen könnte … Und ich muss gestehen, mir ist, wo ich an anderem Schicksal teilzunehmen genötigt war, immer vor allem dies wichtig und angelegentlich gewesen: dem Bedrückten die eigentümlichen und besonderen Bedingungen seiner Not erkennen zu helfen, was jedes Mal nicht so sehr ein Trost als eine (zunächst unscheinbare) Bereicherung ist. Es scheint mir nichts als Unordnung zu stiften, wenn die allgemeine Bemühung (übrigens eine Täuschung!) sich anmaßen sollte, die Bedrängnisse schematisch zu erleichtern oder aufzuheben, was die Freiheit des anderen viel stärker beeinträchtigt, als die Not selber es tut, die mit unbeschreiblichen Anpassungen und beinahe zärtlich dem, der sich ihr anvertraut, Anweisungen erteilt, wie ihr – wenn nicht nach außen, so nach innen – zu entgehen wäre. Die Lage eines Menschen bessern wollen setzt einen Einblick in seine Umstände voraus, wie nicht einmal der Dichter ihn besitzt, einer Figur gegenüber, die aus seiner eigenen Erfindung stammt. Wieviel weniger noch der so unendlich ausgeschlossene Helfende, dessen Zerstreutheit mit seiner Gabe vollkommen wird. Die Lage eines Menschen ändern, bessern wollen, heißt, ihm für Schwierigkeiten, in denen er geübt und erfahren ist, andere Schwierigkeiten anbieten, die ihn vielleicht noch ratloser finden. Wenn ich irgendwann die imaginären Stimmen des Zwerges oder des Bettlers in der Form meines Herzens ausgießen konnte, so war das Metall dieses Gusses nicht aus dem Wunsche gewonnen, der Zwerg oder der Bettler möchten es weniger schwer haben; im Gegenteil, nur durch eine Rühmung ihres unvergleichlichen Schicksals vermochte der zu ihnen plötzlich entschlossene Dichter wahr und gründlich zu sein, und er müsste nichts mehr fürchten und ablehnen als eine korrigierte Welt, darin die Zwerge gestreckt sind und die Bettler bereichert.» (21.X.1924; das Zitat geht noch spannend weiter.)
[Die Überschrift hier ist geklaut auf der Site http://www.blaumeier.webmen.de/kuenste.htm ; man wird dort gewiss nichts dagegen haben.]
Zuletzt geändert von lilaloufan am 12. Feb 2008, 17:26, insgesamt 1-mal geändert.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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Beitrag von stilz »

Vielen Dank für diese Zitate!!!


Das Thema betrifft mich auch sehr, und ich komme hier nicht von der "therapeutischen", sondern von der "künstlerischen" Seite.
Sowohl beim Singen als auch beim Gesang-Unterrichten erlebe ich es immer wieder, wie wenig sich "Therapie" und "Kunst" oft auseinanderhalten lassen.
Denn wenn man sich ehrlich mit dem Singen (und natürlich gilt das ebenso für andere Sparten der Kunst) beschäftigt und auseinandersetzt, kommt man unweigerlich an Schwellen, die man im Alltagsleben nicht unbedingt überschreiten müßte. Und vieles wird "angestoßen" und sogar erübt, das einem dann im "wirklichen Leben" weiterhelfen kann...

Das merken auch die "ganz Großen", ich möchte hier zum Beispiel meinen verehrten Lehrer Walter Berry zitieren: "Wann i an Wozzek hab, derspar i mir ja jeden Psychotherapeuten: alle Komplexe und alle Neurosen, die sing i ma da in zwa Stund ab, und dann krieg ich noch Geld dafür!"

Und dann traf ich noch einen ehemaligen Opernsänger, der schließlich auf Psyhotherapeut "umgesattelt" hatte, der sagte mir: "Früher hab ich verschiedene Rollen in den Opern verkörpert - und jetzt versuche ich, den Menschen zu helfen, damit später niemand eine Oper über sie schreibt".




Ich finde es sehr, sehr "wahr", was Rilke in diesen beiden Briefen schreibt, und danke Dir noch einmal für diese Zitate!
Rilke "verbietet" es (im ersten Brief) nicht, daß Kunst zu Therapiezwecken benützt wird. Er macht nur klar, daß "Therapie" nicht ursprünglicher Zweck der Kunst ist (und trifft sich damit vollständig mit Deiner und auch meiner Meinung).
Der zweite Brief allerdings scheint mir "Therapie" und Therapeuten, dort wo sie den Menschen helfen wollen, ihre Lage zu verbessern, insgesamt in Frage zu stellen.
Ich kann und möchte auch in dieser zweiten Textstelle jedes Wort "unterschreiben", weil ich so sehr einverstanden bin!

Das würde heißen, ich möchte die gesamte Psychotherapie am liebsten abschaffen?
Nein.
Das heißt es nicht.

Ich finde sogar, daß Rilke hier eigentlich fast so etwas wie eine Definition der Psychotherapie gibt, die er (und ich mit ihm!) gutheißen kann:
nämlich dem Bedrückten die eigentümlichen und besonderen Bedingungen seiner Not erkennen zu helfen... (ebenso wie die) Anweisungen, wie ihr – wenn nicht nach außen, so nach innen – zu entgehen wäre.

Ich bin sehr neugierig, was es für Mißverständnisse gab, und wie Ihr sie schließlich aufgelöst habt!

Lieben Gruß

stilz
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lilaloufan
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Kunst - therapeutisiert?

Beitrag von lilaloufan »

Fast schade @stilz, dass wir uns viel zu einig sind; so ist der reizvolle Thread, fürchte ich, schon bald zu Ende – es sei denn: Wo seid ihr anderen, mit einem Band Rilke-Briefe in die Ägäis geflogen?

Auf deine Frage nach den Missverständnissen möchte ich heute aus zwei Gründen nicht eingehen. Zum einen war’s doch sehr persönlich, weil eine Persönlichkeit hier ihrer Psychotherapie viel verdankt, sagt sie, und das fühlte sie – anders als ich’s meinte – infragegestellt. [Psychotherapie ist ja in den 70-er Jahren sozusagen mit dem Trinkwasser verabreicht worden.] Zum anderen will ich jetzt nicht Positionen beschreiben, die längst aufgeräumt sind, denn das nimmt dem weiteren Gespräch mit Anderen oft entweder die Spannung, oder es führt zu einer ganz unnötigen Polarisierung der jeweils sympathisierend Solidarischen. In beiden Fällen würde dieses wichtige Thema zu etwas ganz anderem hin verbogen. – Du wirst beide Gründe verstehen.

Köstlich übrigens, deine selbst erlebten Anekdoten!

Eines noch: Die Not selber, im rechten Sinne betrachtet, gibt die Anweisungen.
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stilz
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Beitrag von stilz »

Natürlich, die Not selber gibt die Anweisungen...
Aber sie werden dennoch nicht immer erkannt und verstanden, und der Therapeut kann eventuell bei diesem Erkennen behilflich sein.
Oder?

Lieben Gruß

stilz
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lilaloufan
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Ja genau!

Beitrag von lilaloufan »

Ja, so sehe ich es auch: Darauf, dass der seines Weges unsicher Gewordene die Welt - und seinen Zusammenhang mit ihr - wieder versteht, kommt es viel mehr an als darauf, dass er sich von dem Therapeuten verstanden, und erst recht als dass er sich von diesem gar angeleitet fühlte. Manchmal hilft schon eine leichte Entschleunigung, und schon liest man Wegweiser, die man vorher für Fabelbestien hielt. Die schlichte Bethesda-Frage, willst du wirklich gesund werden, kann dieses Innehalten auslösen. Irgendwann weiß man dann: Ich will gar nicht entlastet werden, sondern ich will mein Leben ändern. Wer Geburtshelfer solcher Einsichten sein will, sollte - statt nur menschelnd das Professionellsein - methodisch das "Menschlichwerden" beherrschen. Das wäre seelische Heilkunst.

Wir berühren hier eine andere Diskussion: Posting #6730 , worauf ich einige PN erhalten und beantwortet habe.

Und nun wünschte ich mir, beherzt zum Thema voranzufinden: die Blaumeier-Site vor dem Hintergrund von Rilkes Anschauung.
Zuletzt geändert von lilaloufan am 29. Apr 2009, 09:34, insgesamt 1-mal geändert.
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stilz
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Re: Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von stilz »

Lieber Christoph,

diese Diskussion ist ja damals im Sande verlaufen... aber ich habe immer wieder mal daran gedacht, mit dem deutlichen Gefühl: "Da fehlt noch etwas."

In einem Brief (an Erwein Freiherrn von Aretin, am letzten März 1921, Schloß Berg am Irchel) hab ich's nun gefunden:

"...Auch das Hervorbringen, selbst das produktivste, dient ja nur der Schaffung einer gewissen inneren Konstanten, und Kunst ist vielleicht nur deshalb so viel, weil einzelne ihrer reinsten Bildungen eine Gewähr geben für die Erreichung einer zuverlässigeren inneren Einstellung - - (et encore!). Gerade in unserer Zeit, da die meisten aus Ambition zur künstlerischen (oder scheinkünstlerischen) Leistung angetrieben werden, kann man gar nicht genug auf diesem letzten, ja einzigen Grunde der Kunstwertung bestehen, der so tief und heimlich ist, daß der unscheinbarste Dienst an ihm erst recht diesem scheinbarsten und berühmten (: der wirklichen Produktion) gleichzusetzen ist."

Ich finde es sehr interessant, daß Rilke in diesem Zusammenhang auch von "Kunstwertung" spricht: trifft sich das nicht mit Goethes Faust?

  • Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen,
    Wenn es nicht aus der Seele dringt
    Und mit urkräftigem Behagen
    Die Herzen aller Hörer zwingt.
    Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,
    Braut ein Ragout von andrer Schmaus
    Und blast die kümmerlichen Flammen
    Aus eurem Aschenhäuschen 'raus!
    Bewundrung von Kindern und Affen,
    Wenn euch darnach der Gaumen steht –
    Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
    Wenn es euch nicht von Herzen geht.
lilaloufan hat geschrieben: ... ein Gedicht ist Kunst, ist zunächst nicht dazu da, die Seele des Lesenden zu ordnen,
Ja. Aber wie viele Gedichte werden geschrieben, um die Seele des Schreibenden zu ordnen...

Lieben Gruß!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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lilaloufan
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Re: Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von lilaloufan »

Einen Hinweis will ich auch hier noch unterbringen:

Rilke: «Über Kunst», posting #11290

Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Gwendolina
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Re: Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von Gwendolina »

VERSUCH EINER ANKNÜPFUNG nach Äonen

Lieber lilaloufan,
So gern man ..., so zwingend ist auch die Erkenntnis, dass für eine gültige Definition möglichst wenig Worte reichen sollten. Eben mal in lange nicht angefasster Studienlektüre gestöbert und einen Satz bei Heinrich Wölfflin ("Kunstgeschichtliche Grundbegriffe") gefunden, der mir damals schon ein wesentlicher gemeinsamer Nenner (aller Künste) zu sein schien ... und deshalb unterstrichen ward: "Aus dem verschieden orientierten Interesse an der Welt entspringt jedesmal eine andere Schönheit." Dies und die inzwischen bekannte Tatsache, dass 15-20% aller Menschen (und Tiere und Pflanzen) auf der Welt HS (hochsensibel) sind (betr. u. a. Rilkes Wahrnehmungs-Begriff) - mit allen damit einhergehenden Erscheinungen -, kann vielleicht eine Grundlage sein, dem Kunstbegriff etwas näher zu kommen. Denn hier lassen sich aus meiner Sicht sowohl Ansätze finden zur Frage: "Kunst als Therapie" als auch zur "Interpretation von Kunst" u. a.

Grüße von Gwendolina
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lilaloufan
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Re: Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von lilaloufan »

Weißt Du Gwendolina, Wölfflin hat diesen Satz 1915 ja nicht im allerallgemeinsten Sinne geschrieben, sondern (bis in die Ausdrucksweise ganz im Geiste Goethes) speziell bezogen auf eine der von ihm systematisch dargestellten Polaritäten, hier die zwischen dem ›malerischen‹ und dem ›linearen‹ Stil. Diese entspreche „einem grundsätzlich verschiedenen Interesse an der Welt. Dort ist es die feste Gestalt, hier die wechselnde Erscheinung; dort ist es die bleibende Form, messbar, begrenzt, hier die Bewegung, die Form in Funktion; dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang. Und wenn man sagen kann, dort habe sich die Hand die Körperwelt wesentlich nach ihrem plastischen Gehalt ertastet, so ist jetzt das Auge für den Reichtum verschiedenartigster Stofflichkeit empfindlich geworden, und es ist kein Widerspruch, wenn auch hier noch die optische Empfindung durch das Tastgefühl genährt erscheint, jenes andere Tastgefühl, das die Art der Oberfläche, die verschiedene Haut der Dinge kostet. Über das Greifbar-Gegenständliche dringt aber jetzt die Empfindung auch in das Reich des Ungreifbaren: Erst der malerische Stil kennt eine Schönheit des Körperlosen.“

Diese verschiedenen Interessen sind also nicht bloß priorisierte Wahrnehmungsstile oder präferierte sensorische bzw. kognitive Repräsentationssysteme, sondern sie sind Auslenkungen der Seele hin zum Sinnenfälligen einerseits, zum Welt-Innenraum andererseits.

Drei Jahre nach dem Erscheinen von Wölfflins Buch, am 15. Februar 1918 sitzt Rilke (zusammen mit u. a. Albert Steffen, der das in seinem „Buch der Rückschau“ erzählt) in München in Rudolf Steiners Vortrag: »Das Übersinnlich-Sinnliche in seiner Verwirklichung in der Kunst« (und scheint übrigens nicht begeistert). Der Vortrag (in GA 271) beginnt mit den Worten: „Wohl aus einem tiefen Weltverständnis und vor allen Dingen aus einem tiefen Kunstempfinden heraus hat Goethe die Worte geprägt: ›Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.‹ – Man darf vielleicht, ohne dass man dadurch ungoethisch wird, zu diesem Ausspruch eine Art Ergänzung hinzufügen: Wem die Kunst ihr Geheimnis zu enthüllen beginnt, der empfindet eine fast unüberwindliche Abneigung gegen ihre unwürdigste Auslegerin, die ästhetisch-wissenschaftliche Betrachtung.“

Dieses Geheimnis der Kunst hat nämlich immer zu tun mit dem Wesen des Menschen, und wo nicht sie selbst es offenbaren kann, sondern die Schriftgelehrten bemüht werden, da löst sie nicht ein, was sie doch sein will und was ihre Mission ist zwischen Himmel und Erde.

Soweit glaube ich zu verstehen, was Du schreibst, und so mag ich auch gern zustimmen. Rätselhaft ist mir Dein Hinweis auf sensory-processing sensitivity: Ich weiß nicht mal recht, wie ich danach fragen könnte, in welchen Zusammenhang mit Rilkes Wahrnehmungs-Begriff Du das hier stellst. – Noch einmal aus Steffens Erinnerungen: „‚Wir empfangen Eindrücke durch die Sinne‛, sagte er [Rilke], ‚durch Auge, Ohr, Geschmack. Zwischen diesen Sinnen sind ›Leerräume‹, die zwar bei den Urvölkern noch ausgefüllt sind, aber bei uns erstorben.‛ Und er zog auf der Papierserviette einen Kreis, den er in einzelne Sektoren teilte, wobei er diese abwechslungsweise schattierte, so dass zuletzt etwas wie eine Scheibe mit schwarzen Keilschriftzeichen entstand. ‚Diese Teile urbar zu machen, ist nötig; das gibt genug zu tun.‛ Und er begann über Huysmans Symphonie der Gerüche zu reden. Ich erwiderte, dass ein solches Wiederbeleben erstorbener Fähigkeiten auf höherer Stufe erfolgen müsste, d. h. nicht nur von der Empfindungs-, sondern von der Erkenntnissphäre her, durch Methoden, die allen Menschen zugänglich wären und nicht das Vorrecht einzelner Auserwählter bleiben dürften. Hier empfand ich wiederum jene innere Abwehr, weshalb ich verstummte.“ (Ich hab’ das hier in Posting #8290 schon mal zitiert.)

Nun, Joris Huysmans’ Duftkomponist Jean Floressas Des Esseintes ist ohne Zweifel auch „hochsensibel“ im Sinne der Neuropsychologie Arons. Wäre Kunst vielleicht geeignet zum Erwachenlassen solcher Gaben „auf höherer Stufe“? Wenn nicht Kunst – was dann? Eines jedenfalls gewiss nicht: Therapie.

lilaloufan

P.S.: Auch über Rilkes „Wahrnehmungsröhren“ (Thema 1442), über den Aufsatz: „Urgeräusch“, über Synaesthesie-Fragen (Thema 380) und über das formidable Buch von Silke Pasewalck (u. a. Posting #7381) haben wir schon gesprochen.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Gwendolina
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Re: Keine Therapeutisierung der Kunst!

Beitrag von Gwendolina »

Ja, lilaloufan, zu wenig Worte lassen zu viel Spielraum --- auch dann für ungewollte Auslegungen. Schließlich kennen wir uns ja nicht. Leider sehe ich mich jetzt und vielleicht auch ÜBERHAUPT nicht in der Lage mangels entsprechender Kompetenz - nicht nur Zeit - weitere Beiträge in Sachen Kunstbegriff beizusteuern. Schon gar nicht allgemein - alle Künste betreffend. Einfach zu komplex und vielschichtig und in der Tat nicht in einen Satz zu fassen.
Das folgende Zitat finde ich gerade irgendwie passend - und hoffe, es steht hier nicht schon irgendwo ... ;)
"Weil alles was gewusst wird, besser und vollkommener gewusst werden kann, wird nichts so wie es wissbar ist, gewusst." (Nikolaus von Kues,1401-1464)

Gwendolina :)
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