Sonette an Orpheus
Sonette an Orpheus
Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil
V
Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schooß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
daß der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
Du, Entschluß und Kraft von wieviel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?
Ich habe, meiner Gewohnheit folgend, den Insel-Gedichtband an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und bin in dem o. g. Teil der Sonette an Orpheus gelandet.
Da ich mich gerade – trotz Sonnenschein und Frühlingserwachen (oder deswegen?) – sehr licht- und antriebslos gefühlt hatte, kamen mir diese Zeilen wie Diagnose und Medizin in einem vor. Viel Interpretation braucht es dazu nicht, nur etwas Reflektion und Einfühlen aus der gerade vorherrschenden Stimmung heraus. Rilkes Gedichte sind für mich oft wie Träume, die in unterschiedlichen Situationen und Zeiten immer wieder neue Bedeutung haben.
Im Moment spiegelt mir das Sonette das angstvolle Versagen der Hingabe an das Leben, weil die Fülle auch den „Ruhewink des Untergangs“ anruft. Mir ist lediglich nicht ganz klar, ob die Angst vor dem Untergang oder davor, nicht untergehen zu können die größere ist!?
Auch wenn in der abschließenden Fragestellung etwas Resignation mitschwingt, gibt sie dennoch auch das Ziel vor, für das es sich immer wieder lohnt, aufzustehen und weiter zu suchen...
V
Blumenmuskel, der der Anemone
Wiesenmorgen nach und nach erschließt,
bis in ihren Schooß das polyphone
Licht der lauten Himmel sich ergießt,
in den stillen Blütenstern gespannter
Muskel des unendlichen Empfangs,
manchmal so von Fülle übermannter,
daß der Ruhewink des Untergangs
kaum vermag die weitzurückgeschnellten
Blätterränder dir zurückzugeben:
Du, Entschluß und Kraft von wieviel Welten!
Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
sind wir endlich offen und Empfänger?
Ich habe, meiner Gewohnheit folgend, den Insel-Gedichtband an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und bin in dem o. g. Teil der Sonette an Orpheus gelandet.
Da ich mich gerade – trotz Sonnenschein und Frühlingserwachen (oder deswegen?) – sehr licht- und antriebslos gefühlt hatte, kamen mir diese Zeilen wie Diagnose und Medizin in einem vor. Viel Interpretation braucht es dazu nicht, nur etwas Reflektion und Einfühlen aus der gerade vorherrschenden Stimmung heraus. Rilkes Gedichte sind für mich oft wie Träume, die in unterschiedlichen Situationen und Zeiten immer wieder neue Bedeutung haben.
Im Moment spiegelt mir das Sonette das angstvolle Versagen der Hingabe an das Leben, weil die Fülle auch den „Ruhewink des Untergangs“ anruft. Mir ist lediglich nicht ganz klar, ob die Angst vor dem Untergang oder davor, nicht untergehen zu können die größere ist!?
Auch wenn in der abschließenden Fragestellung etwas Resignation mitschwingt, gibt sie dennoch auch das Ziel vor, für das es sich immer wieder lohnt, aufzustehen und weiter zu suchen...
Vielleicht ist auch das Gedicht von Elisabeth Langgässer zur gleichen Blume etwas?
Frühling 1946
Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, wenn sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht?
Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
gräßlich noch im Ohr.
Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört‘ ich flüstern, daß sie tauge
mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
laß mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.
Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren,
ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!
Frühling 1946
Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, wenn sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht?
Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
gräßlich noch im Ohr.
Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört‘ ich flüstern, daß sie tauge
mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
laß mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.
Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren,
ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!
E. Langgässers Gedicht
Das Gedicht von E. Langgässer gefällt mir bis auf die letzten beiden Strophen gut:
Rilkes Sonette ist sinnlicher, verbindet Sinnliches und Übersinnliches. E. L. dagegen endet in der Leugnung des Sinnlichen („Ohne zu verführen/ (...) still an meinem Herz zu rühren,/ ohne es zu schüren“). Das erinnert mich ansatzweise an die erste der Duineser Elegien: über den unmöglichen Geliebten hinauswachsen etc., nur das Rilke gerade hier anfängt und nicht aufhört. Ich versuche mal meinen eher emotionalen spontanen Widerstand mit Worten zu sortieren:
Wie will Odysseus nach Hause finden, die Unterweltflüsse Styx und Lethe (der das Vergessen bringt!) überwinden, ohne sich auf die nährende Kraft, das Feuer der Erde einzulassen? Und Erde wie Feuer sind sinnlich! Nur „rühren“ ist mir zu ätherisch, zu kraftlos – es ist vielleicht auch die Angst vor dem Weiblichen schlechthin (Feuer ist ja auch verzehrend) – ersatzweise lieber das idealisierte Unschuldige, das „Kind Nausikaa“? Ich habe keine Ahnung wie Homer das Problem löst, weiss das jemand?
Rilkes Sonette ist sinnlicher, verbindet Sinnliches und Übersinnliches. E. L. dagegen endet in der Leugnung des Sinnlichen („Ohne zu verführen/ (...) still an meinem Herz zu rühren,/ ohne es zu schüren“). Das erinnert mich ansatzweise an die erste der Duineser Elegien: über den unmöglichen Geliebten hinauswachsen etc., nur das Rilke gerade hier anfängt und nicht aufhört. Ich versuche mal meinen eher emotionalen spontanen Widerstand mit Worten zu sortieren:
Wie will Odysseus nach Hause finden, die Unterweltflüsse Styx und Lethe (der das Vergessen bringt!) überwinden, ohne sich auf die nährende Kraft, das Feuer der Erde einzulassen? Und Erde wie Feuer sind sinnlich! Nur „rühren“ ist mir zu ätherisch, zu kraftlos – es ist vielleicht auch die Angst vor dem Weiblichen schlechthin (Feuer ist ja auch verzehrend) – ersatzweise lieber das idealisierte Unschuldige, das „Kind Nausikaa“? Ich habe keine Ahnung wie Homer das Problem löst, weiss das jemand?
Zum Gedicht von Langgässer gibt es einen grauenhaften Hintergrund: sie hatte ein "halbjüdisches" Kind. Mutter und Tochter wurden vor die Wahl gestellt: eine von ihnen muss ins KZ. Die 14jährige Tochter war die stärkere und ging "freiwillig". Sie hat tatsächlich überlebt. Mit diesem Gedicht feiert E.L.
die Rückkehr der tochter nach Kriegsende. Die Tochter hat vor wenigen Jahren unter ihrem heutigen Namen Kornelia Edvardson o.ä. ihre Erinnerungen ver-
öffentlicht. Wenn man das weiß, bekommt das Gedicht eine neue Dimension.
Gruß Christiane R.
die Rückkehr der tochter nach Kriegsende. Die Tochter hat vor wenigen Jahren unter ihrem heutigen Namen Kornelia Edvardson o.ä. ihre Erinnerungen ver-
öffentlicht. Wenn man das weiß, bekommt das Gedicht eine neue Dimension.
Gruß Christiane R.
Hallo Christiane,
dein Hinweis kam wie gerufen. Es ist erstaunlich, wie sehr man im Positiven wie im Negativen in Resonanz mit Gedichten geht, wenn sich etwas Eigenes dahinter verbirgt. So falsch lag ich mit meiner „Bauch“-Interpretation gar nicht: es geht schon um das Thema Kraft- besser Machtlosigkeit. Offensichtlich hatte die Tochter die Kraft, die im Gedicht der Mutter – trotz Heimkehr aus dem KZ – für mich nicht zu spüren war?!
E. Langgässer ist übrigens unsere „Ortsheilige“, sie stammte aus Alzey, meiner Schulstadt. Sie verband auch Mythos und Katholizismus in ihren Werken, was nicht unbedingt der einfachste Spagat ist, möglicherweise habe ich damit auch ein Problem (das liegt dann aber eindeutig an mir!). In der Region um Worms, nicht weit von Alzey, gab es in der NS-Zeit einige besonders dunkle Zellen. Schon oft habe ich von Bekannten, die sich nur kurzzeitig dort aufhielten, gehört, dass sie Orte in dieser Gegend als bedrückend und kräftezehrend empfanden, ohne sich das erklären zu können. Vielleicht fließen auch solche Strömungen, die ihre Wurzeln möglicherweise nicht erst im NS haben, manchmal unwissentlich in die Dichtung mit ein.
dein Hinweis kam wie gerufen. Es ist erstaunlich, wie sehr man im Positiven wie im Negativen in Resonanz mit Gedichten geht, wenn sich etwas Eigenes dahinter verbirgt. So falsch lag ich mit meiner „Bauch“-Interpretation gar nicht: es geht schon um das Thema Kraft- besser Machtlosigkeit. Offensichtlich hatte die Tochter die Kraft, die im Gedicht der Mutter – trotz Heimkehr aus dem KZ – für mich nicht zu spüren war?!
E. Langgässer ist übrigens unsere „Ortsheilige“, sie stammte aus Alzey, meiner Schulstadt. Sie verband auch Mythos und Katholizismus in ihren Werken, was nicht unbedingt der einfachste Spagat ist, möglicherweise habe ich damit auch ein Problem (das liegt dann aber eindeutig an mir!). In der Region um Worms, nicht weit von Alzey, gab es in der NS-Zeit einige besonders dunkle Zellen. Schon oft habe ich von Bekannten, die sich nur kurzzeitig dort aufhielten, gehört, dass sie Orte in dieser Gegend als bedrückend und kräftezehrend empfanden, ohne sich das erklären zu können. Vielleicht fließen auch solche Strömungen, die ihre Wurzeln möglicherweise nicht erst im NS haben, manchmal unwissentlich in die Dichtung mit ein.
P.S. Das Buch von Cordelia Edvardson heißt übrigens "Gebranntes Kind sucht das Feuer", dtv, 1989.
Auf der homepage des E.-Langgässer-Gymnasiums ist auch noch einiges über sie zusammengefasst: http://www.elg-alzey.de
Auf der homepage des E.-Langgässer-Gymnasiums ist auch noch einiges über sie zusammengefasst: http://www.elg-alzey.de
e.u. hat geschrieben:Vielleicht ist auch das Gedicht von Elisabeth Langgässer zur gleichen Blume etwas?
Frühling 1946
Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, wenn sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht?
Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
gräßlich noch im Ohr.
Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört‘ ich flüstern, daß sie tauge
mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
laß mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.
Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren,
ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!
mir fällt nur ein, dass paul celans frau interessanterweise anemone latzina heißt... blumengedichte hat er meines wissens nach zur anemone keine geschrieben, dafür weiß ich eins und finde es wunderschön...
Stille!
Stille! Ich treibe den Dorn in dein Herz,
denn die Rose, die Rose
steht mit den Schatten im Spiegel, sie blutet!
Sie blutete schon, als wir mischten das Ja und das Nein,
als wirs schlürften,
weil ein Glas, das vom Tisch sprang, erklirrte:
es läutete ein eine Nacht, die finsterte länger als wir.
Wir tranken mit gierigen Mündern:
es schmeckte wie Galle,
doch schäumt' es wie Wein -
Ich folgte dem Strahl deiner Augen,
und die Zunge lallte uns Süße . . .
(So lallt sie, so lallt sie noch immer.)
Stille! Der Dorn dringt dir tiefer ins Herz:
er steht im Bund mit der Rose.
Stille!
Stille! Ich treibe den Dorn in dein Herz,
denn die Rose, die Rose
steht mit den Schatten im Spiegel, sie blutet!
Sie blutete schon, als wir mischten das Ja und das Nein,
als wirs schlürften,
weil ein Glas, das vom Tisch sprang, erklirrte:
es läutete ein eine Nacht, die finsterte länger als wir.
Wir tranken mit gierigen Mündern:
es schmeckte wie Galle,
doch schäumt' es wie Wein -
Ich folgte dem Strahl deiner Augen,
und die Zunge lallte uns Süße . . .
(So lallt sie, so lallt sie noch immer.)
Stille! Der Dorn dringt dir tiefer ins Herz:
er steht im Bund mit der Rose.
Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.
Hallo,
zur Anemone fand ich gerade eine schöne Stelle, wo Rilke schreibt:
"Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber soweit aufgegangen, daß sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte! Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weltoffen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde. Und daneben alle die klugen Schwestern, jede zugegangen um ihr kleines Maß Überfluß." (an Lou, Paris, 1914).
Mona
zur Anemone fand ich gerade eine schöne Stelle, wo Rilke schreibt:
"Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber soweit aufgegangen, daß sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte! Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weltoffen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde. Und daneben alle die klugen Schwestern, jede zugegangen um ihr kleines Maß Überfluß." (an Lou, Paris, 1914).
Mona
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)