Klage um Antinous

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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arme
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Klage um Antinous

Beitrag von arme »

Hallo, Forummitglieder! In den Neuen Gedichten II steht das Gedicht Klage um Antinous. In diesem Gedicht verstehe ich nicht richtig die Zeile "Nun ist er am Nil der stillenden Götter einer". Gerade das beschreibende Wort "stillenden". Hätte jemand von euch eine Idee? Dankbar für Interpretationen, arme

KLAGE UM ANTINOUS

Keiner begriff mir von euch den bithynischen Knaben
(daß ihr den Strom anfaßtet und von ihm hübt...).
Ich verwöhnte ihn zwar. Und dennoch: wir haben
ihn nur mit Schwere erfüllt und für immer getrübt.

Wer vermag denn zu lieben? Wer kann es?—Noch keiner.
Und so hab ich unendliches Weh getan—.
Nun ist er am Nil der stillenden Götter einer,
und ich weiß kaum welcher und kann ihm nicht nahn.

Und ihr warfet ihn noch, Wahnsinnige, bis in die Sterne,
damit ich euch rufe und dränge: meint ihr den?
Was ist er nicht einfach ein Toter. Er wäre es gerne.
Und vielleicht wäre ihm nichts geschehn.
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lilaloufan
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Re: Klage um Antinous

Beitrag von lilaloufan »

Der aus Bithynion-Claudiopolis stammende Jüngling Antinoos ist nach seinem Tod im Nil (im Jahre 130, dort wo später aus schweren Steinen die Stadt Antinopoulis erbaut wurde) in außergewöhnlicher Weise als Heros, ja in neugeprägten kultischen Tempelhandlungen (Antinoes) als mythologische Gottheit (auch Osiris war im Heiligen Strom ertrunken) verehrt worden. Neben den im ganzen Reich verbeiteten Baumonumenten, freiplastischen Standbildern und Reliefs zählte dazu auch ein Obelisk, der als Stätte von „Osirantinoos“' Wiedergeburt galt. Das alles beklagt Hadrian hier.
Antinoos, der am Nil lebendig war, kann nun trotz seines Ertrinkens nicht wirklich sterben: Er ist einer der vielen mumifizierten Götter geworden, die durch die Bild-Konservierung gespenstergleich „untot“ aufbewahrt bleiben. „Stillen“: Da hilft wieder einmal der gute Grimm weiter (http://woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=S47174): Es heißt hier nicht transitiv tränken, sättigen, sondern intransitiv „zur Ruhe kommen“, Ruhe finden. Der Grimm gibt in bewährter Weise viele literarische Beispiele für diesen Gebrauch des Begriffs.
Und tatsächlich wurde bald, im Höhepunkt der Vergötterung, im Sternbild Aquila ein in 7⅙ Tage-Periodik veränderlicher Stern nach Antinoos benannt: Ein Adler habe Antinoos zum Himmel geholt – wie Hadrian ihn zuvor aus der Unschuld der Jugend in die Trübe erotischer Niederung entführt hatte: Und beides wäre denn Liebe?

»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
arme
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Re: Klage um Antinous

Beitrag von arme »

Danke, lilalou! Das war ja interessant, und ich dachte, daβ es etwas mit ”befriedigen, geben” zu tun hat. Daβ Antinoos einer der Götter geworden ist, der den Menschen die Geschenke des Nils gibt, wie reichliche Ernten usw. Aber ”still werden” ist doch wohl mehr logisch. Aber wer redet Hadrian eigentlich zu? Zu den Menschen oder zu den Göttern? Und wenn er sagt ”Ihr warfet ihn noch…” welche meint er dann? Und warum ”werfen”? arme
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lilaloufan
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Re: Klage um Antinous

Beitrag von lilaloufan »

Guten Abend arme,
der Stern, der den Ägyptern die Nilschwemme ankündigte, die Bodenfruchtbarkeit und Aussicht auf reiche Ernte bringt, ist Sirius im Canis major, nicht Antinoos im Aquila. Σωθις (Sothis) hieß die entsprechende Göttin, deren Wirken der Ägypter im jährlichen Auf- und Untergang des Sirius sah.
Da ist also Mythologie einer früheren Kulturzeit gegeben; der Stern Antinoos hingegen wurde erst in spätgriechischer Zeit benannt, nicht nach einem spirituell tradierten, sondern nach einem willkürlich glorifizierenden Mythos.
Ja, das „lyrische Ich“ darf man ohne Zweifel hier als Hadrian identifizieren, der sicher nicht die Götter beklagt, sondern jene Menschen, die den Personenkult um Antinoos in solchem Übermaß getrieben haben, dass Antinoos nun als ein künstlich bzw. propagandistisch zum Unsterblichen Gewordener nicht Ruhe findet.
(In Klammern: Arno Schmidt hätte sich diese Art von ewigem Leben wohl eher gewünscht – zumindest geht das Gerücht, er habe eine sorgsam versiegelte Flasche, in der auf einem Zettel sein Name geschrieben war, ins Meer versenkt, in die Tiefe also — eitle Verewigung hatte damals Vorrang vor Umweltrücksicht, und das Feuilleton hat gefeixt.)
Nun fragst Du noch nach dem Prädikat in dem Satz: „Ihr warfet ihn“ – also hinauf in die Höhe des Firmaments.
Rilke gebraucht dieses Verb jacĕre recht oft in diesem ungewöhnlichen Duktus; ich gebe einmal ein bekanntes Beispiel wieder: „…wie das Jahr | die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme, | die eine ältre einer jungen Wärme | hinüberschleudert über Meere“ – das ist aus: «Solang du Selbstgeworfnes fängst». Das Loslassen eines Beizvogels von der Longa hieß in der Falknerei auch „Wurf“. Und: „Durch wurfähnliche Bewegung etwas hervorbringen, entstehen lassen“ (Grimm) ist eine der Bedeutungen, die „werfen“ hat; man denke an den Schattenwurf, aber auch den (Ent-)Wurf etwa des genialen Architekten, und die mehrlingsgebärenden Tiere schenken dem Arterhalt einen „Wurf“.
So haben posthum gewisse Antinoos-Verehrer der astronomischen Nomenklatur eine Bezeichnung geboren. Das hätten sie besser nicht getan, meint Hadrian.
l.
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arme
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Re: Klage um Antinous

Beitrag von arme »

Danke, lilaloufan! Ich habe deine Antwort erst neulich gesehen (habe nicht die Stelle ”hier geht es zum Rilke-Forum” gemerkt). Du hast mir viel zu denken gegeben, und ich bin sehr dankbar dafür. Das Verb ”werfen” ist interessant. Daβ es ja auch in ”entwerfen” vorkommt. Solche Konnotationen sind bereichend und fein, aber – wie wir wissen – leider oft unmöglich in eine andere Sprache zu überführen. Aber wichtig zu wissen. Bis zum nächsten Mal, arme
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