Abendmahl Neue Gedichte 2

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
arme
Beiträge: 67
Registriert: 8. Nov 2016, 15:06

Abendmahl Neue Gedichte 2

Beitrag von arme »

Liebes Forum! Könnte jemand möglicherweise etwas über den Inhalt im Gedicht Abendmahl in Neuen Gedichten 2 sagen?

Abendmahl

Ewiges will zu uns. Wer hat die Wahl
und trennt die großen und geringen Kräfte?
Erkennst du durch das Dämmern der Geschäfte
im klaren Hinterraum das Abendmahl:

wie sie sich's halten und wie sie sich's reichen
und in der Handlung schlicht und schwer beruhn.
Aus ihren Händen heben sich die Zeichen;
sie wissen nicht, daß sie sie tun

und immer neu mit irgendwelchen Worten
einsetzen, was man trinkt und was man teilt.
Denn da ist keiner, der nicht allerorten
heimlich von hinnen geht, indem er weilt.

Und sitzt nicht immer einer unter ihnen,
der seine Eltern, die ihm ängstlich dienen,
wegschenkt an ihre abgetane Zeit?
(Sie zu verkaufen, ist ihm schon zu weit.)

Ich weiß schon, daß man durch ein Geschäft das Hinterraum anschaut und in dem profanen Abendmahl den christlichen Abendmahl sehen kann. Aber diese Zeilen kann ich nicht deuten:

Denn da ist keiner, der nicht allerorten
heimlich von hinnen geht, indem er weilt.

Und sitzt nicht immer einer unter ihnen,
der seine Eltern, die ihm ängstlich dienen,
wegschenkt an ihre abgetane Zeit?
(Sie zu verkaufen, ist ihm schon zu weit.)

"Denn" ist wohl eine Erklärung zu dem, was vorher gesagt ist. Aber Wie?
Und ich verstehe, daß sich der letzte Vers irgendwie auf Judas bezieht, aber nicht wie. Das "ängstliche Dienen" öffnet sich nicht für mich, nicht das Wegschenken und auch nicht "an ihre abgetane Zeit".

An solche Sachen denke ich, wenn ich nicht an den Krieg denke.
Ich wäre dankbar für Interpretationen.

Mit lieben Grüßen arme
helle
Beiträge: 341
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Abendmahl Neue Gedichte 2

Beitrag von helle »

Hallo Arme,

Der Bezug zum biblischen Geschehen ist wohl offensichtlich, aber Rilke erzählt die Geschichte nicht einfach nach, sondern schafft einen veränderten Zusammenhang, eine dem Gedicht eigene Fiktion, indem er gerade nicht über das biblische, sondern über das spätere, rituelle Abendmahl spricht. Auf die vielen Nuancen will ich nicht eingehen, nur auf das Motiv des Verrats.

»Judas« und »Verräter« kann man geradezu synonym gebrauchen, es ist ein Beispiel einer Antonomasie. In der Bibel ist es Judas, der Christus, seinen »Meister«, dem er eigentlich ja dienen sollte, gegen 30 Silberlinge, also aus materiellen Gründen, verrät – später bereut er es und nimmt sich das Leben. Der im Gedicht gestaltete Verrat liegt anders, es sind die Eltern, die ihrerseits dienen und dennoch verraten werden. Offenbar nicht aus materiellen Gründen, das Gedicht spricht von einer immateriellen, anscheinend aus Bequemlichkeit, Nachlässigkeit, mangelnder Fürsorge etc. begangenen Untreue. Das Abendmahlsgeschehen wird ausgesprochen distanziert und kritisch geschildert, die Teilnehmer scheinen einem leeren Ritual zu folgen, sie sind sich über die Symbolik nicht im Klaren (V. 7/8), ihre Worte sind, wie es herablassend heißt, »irgendwelche«. Als Begründung dient die Beobachtung, daß sie nicht mehr mit ganzem Herzen dabei sind, ihre Gedanken schweifen ab (V. 11 u. 12), und zwar bei jedem (»da ist keiner«), noch schlimmer: »Immer« befindet sich in der gedankenlosen Menge ein Verräter (Str. 4), eine(r), der oder die seine Eltern aufgegeben hat und sie preisgibt, nicht den Hohepriestern, sondern ihrem individuellen Schicksal.

Das ist thetisch, es wird behauptet, nicht ausgeführt, begründet oder gar belegt. Das Gedicht lebt nicht nur vom Ausgesprochenen, sondern auch von dem, was es nicht sagt.

Meint helle
arme
Beiträge: 67
Registriert: 8. Nov 2016, 15:06

Re: Abendmahl Neue Gedichte 2

Beitrag von arme »

Danke, Helle, für deine Antwort. Das Gedicht hat wohl wieder so viel Raum in sich, daβ man vieles darin lesen kann, das Profane gegen den biblischen Hintergrund und umgekehrt. Vielleicht gerade deswegen denke ich noch, wie man ”an ihre abgetane Zeit” verstehen sollte. Gibt es da auch mehr Möglichkeiten? Ich wäre dankbar ob du oder jemand anders etwas dazu sagen möchte. Mit besten Grüβen arme
Antworten