Fragen zum "Buch der Bilder"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von stilz »

Vor kurzem hat arme hier einige Fragen zu Gedichten aus dem "Buch der Bilder" gestellt - der Übersichtlichkeit halber mache ich daraus ein neues Thema:
arme hat geschrieben: 5. Mär 2021, 08:37 Ich grüße wieder das Forum! Und komme immer wieder mit meinen Fragen. Es geht weiter um Das Buch der Bilder. Diese erste Frage habe ich wohl schon einmal gestellt. Ich glaubte, daß ich schon an alles gedacht hatte, aber neue Leser, neue Probleme... Also:

1) Im Gedicht Mondnacht
Süddeutsche Nacht, ganz breit im reifen Monde
und mild wie aller Märchen Wiederkehr.
Vom Turme fallen viele Stunden schwer
in ihre Tiefen nieder wie ins Meer, –
und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde,
und eine Weile bleibt das Schweigen leer;
und eine Geige dann (Gott weiß woher)
erwacht und sagt ganz langsam:
Eine Blonde ...
Meint man mit Stunden 60 Minuten oder kürzere Augenblicke?
Und bedeutet ”Ruf der Ronde” einen Ruf eines Wächters? Und macht er den Ruf mit seiner Stimme oder mit einem Instrument?

2) Im Gedicht Ritter:

und Gott ist selber vieltausendmal
an alle Straßen gestellt.

Wie sollte man diese Zeilen mit Gott deuten?

3) Das Gedicht Mädchenmelancholie

Ist es die ganze Zeit das Mädchen, das da für sich denkt? Ich habe gedacht, daß auch die Zeilen

Dann willst du in die Stille schrein
und weinst doch nur ganz leis hinein
tief in dein kühles Tuch.

wie ein Du-Passiv ist, daß das Mädchen sich selbst meint. Oder ist es ein anderer, der das Mädchen anspricht?

4) Gedicht Kindheit und die Zeilen

O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
Wohin? Wohin?

Meint man irgendwie, daß alles was man die Kindheit vergleichen will, von einem wegflieht?

5) Das Gedicht Konfirmanden:
Das war ein Aufstehn zu dem weißen Kleide
und dann durch Gassen ein geschmücktes Gehn
und eine Kirche, innen kühl wie Seide,
und lange Kerzen waren wie Alleen,
und alle Lichter schienen wie Geschmeide,
von feierlichen Augen angesehn.

Meint man hier die Flammen der Kerzen?

Vielleicht nicht zu schwere Fragen :) arme
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
stilz
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von stilz »

Liebe arme,

zum Gedicht Ritter:

Vom Turme fallen viele Stunden schwer
in ihre Tiefen nieder wie ins Meer, –
und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde,

arme hat geschrieben:Meint man mit Stunden 60 Minuten oder kürzere Augenblicke?
Ich denke, es sind wohl die Schläge der Turmuhr, auf die Rilke sich hier bezieht.
arme hat geschrieben:Und bedeutet ”Ruf der Ronde” einen Ruf eines Wächters? Und macht er den Ruf mit seiner Stimme oder mit einem Instrument?
Damit ist der Ruf des Nachtwächters auf seinem Rundgang (=Ronde) gemeint. Er singt das Nachtwächterlied - hier der Text (für jede Stunde eine andere Strophe), und hier eine schöne Aufnahme.

Und zur zweiten Frage:

und Gott ist selber vieltausendmal
an alle Straßen gestellt.


Ich verstehe darunter zunächst alles, was Gott (der Vatergott) geschaffen hat: Steine, Blumen, Feldfrüchte, Tiere, Menschen...
In einem weiteren Gedanken könnte man auch das Neue Testament einbeziehen, Matthäus 25/34-40 („Vom Weltgericht“)
- wie oft hätten wir entlang der Straße Gelegenheit zu Werken der Barmherzigkeit...
Ich bin mir aber nicht sicher, ob Rilke hier darauf anspielt.

Deine dritte Frage gilt dem Gedicht Mädchenmelancholie:
arme hat geschrieben:Ist es die ganze Zeit das Mädchen, das da für sich denkt?
Ja.
Das Mädchen stellt sich in Gedanken sich selbst gegenüber und spricht sich mit „du“ an.

Soviel einmal für heute - und ich versuche noch einmal den Aufruf an eventuelle Mitleser, sich auch am Gespräch zu beteiligen!

Herzlichen Gruß,
stilz
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helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Liebe arme,

ich glaube, Rilke würde sanft spotten, wenn man ihn fragte, ob er mit der »Stunde« sechzig Minuten meinte. Genauso gut könnte man fragen, ob er vielleicht 3.600 Sekunden meinte. Es gibt die physikalische, meßbare Zeit und die Zeit als Form des inneren Sinns, die man nicht mißt, aber in der man das Geschehen wahrnimmt, interpretiert und wertet. Es gibt Tage im Leben, an die man sich immer erinnert und damit meint man keine Anzahl von Stunden, sondern ihr Erlebnis. Mit einer Stunde kann man wohl auch etwas meinen, was 48 oder 65 Minuten dauert oder gedauert hat, die genaue Zahl ist aber unwichtig.

Und vielleicht ist es ja mit dem Wort und der Vorstellung »Gott« ähnlich. Ich vermute, Rilke meint nicht eine exakt zu benennende Gottheit, nicht Jesus Christus oder Siddharta Gautama oder Dionysos und wen auch immer. Einen Hinweis gibt ja vielleicht der Gedichtkontext mit dem Gegensatz des im schwarzen Panzer eingeschlossenen Ritters und der »rauschenden Welt«, die »draußen« und »Alles« ist, in der sich die Fülle des Anwesenden einschließlich »Mai« und »Maid« zeigt, was will man denn mehr? Also mir scheint es etwas pantheistisch und der hier aufgerufene Gott eher in allen, in »vieltausend« Dingen zu sein (deshalb das ostentative »und«), nur eben nicht im Gemüt des Ritters, der nicht nur von der Rüstung, sondern mit und in ihr auch von seinen finsteren Gedanken, seinem ›Sinnen und Trachten‹, wie man so sagt, gefesselt wird. Von diesem Gegensatz, aus dieser Dichotomie bezieht das Ritter-Gedicht seine Spannung.

Schöne Grüße, h.
helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Fortsetzung gewissermaßen. Ich bin nicht so sicher wie ›stilz‹, daß der Sprecher bzw. die Sprecherin in Mädchenmelancholie das Mädchen selbst ist. Daß also das Ganze die Erinnerung des Mädchens ist, dessen Melancholie hier ausgebreitet wird, indem es zu sich selbst spricht. Grammatisch und auch in der Rollenlogik ist ebenso denkbar, daß es ein anderer Sprecher ist, der die melancholische Situation der jungen Frau in Worte faßt. Mir erscheint dies plausibler als die Vorstellung, die doch sehr kunstvollen, vermittelten, manchmal etwas gezierten Bilder und Vergleiche stammten von der jungen Frau selbst, um sich über die eigene Gefühlswelt klar zu werden. Grammatisch müßte man beide Möglichkeiten zulassen.

Im Gedicht Kindheit stimme ich ›arme‹ zu. Kein späterer Vergleich wird dem ganz gerecht, was ein Kind, was das Kind in der Vergangenheit erlebt hat, einer Vergangenheit, die einst ja Gegenwart war, in einer Unmittelbarkeit und Ausdehnung, die der erwachsene Mensch normalerweise nicht mehr teilt. Aus einer späteren Perspektive die Empfindungen desjenigen Kindes und jungen Menschen beschreiben zu wollen, der man selbst gewesen ist, hat fast immer etwas von Verrat, von der Vereinnahmung durch das spätere Bewußtsein. Ein Buch, das diese Frage in wunderbar skrupulöser Form reflektiert, ist Christa Wolfs Kindheitsmuster. An anderer Stelle sagt Rilke sogar, »Nichts ist vergleichbar«, aber das würde an dieser Stelle zu weit führen.

h.
arme
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von arme »

Meine Frage über "Stunden" klingt sicherlich komisch, ich verstehe das. Ich habe das nicht so physikalisch gemeint, diese Zeitworte verhalten sich in meiner Muttersprache nur auf etwas andere Weise. (Und weil mein Deutsch mangelhaft ist, sind meine Fragen oft ein bißchen plump.) Aber was "stilz" gesagt hat, bezieht sich doch auf "die 60 Minuten", also daß die Turmuhr einmal oder zweimal in der Stunde schlägt und da kann man erleben, daß die Schläge schwer sind und in das Meer der Nacht versinken. Finde ich doch für ein schönes Bild. Diese Stunden können dann auch alles das Andere enthalten, was "helle" beschrieben hat. Danke für die erweiternden Antworten!

Das Nachtwächterlied war sehr schön, eine wunderbare Tradition. Das würden wir auch heute auf den unruhigen Strassen brauchen.

Herzlichst arme
stilz
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von stilz »

helle hat geschrieben:Ich bin nicht so sicher wie ›stilz‹, daß der Sprecher bzw. die Sprecherin in Mädchenmelancholie das Mädchen selbst ist.
Lieber helle, Du hast natürlich recht: rein grammatisch betrachtet, könnte es auch jemand anderer sein, der hier spricht. Und selbstverständlich ist es ja nicht irgendein Mädchen, sondern Rilke, der das Gedicht geschrieben hat.
Genau genommen, lautet die Frage also: läßt Rilke in diesem Gedicht das Mädchen sprechen, oder legt er die Worte des Gedichtes jemand anderem (wem?) in den Mund?

Hier noch einmal der ganze Text:
  • Mir fällt ein junger Ritter ein
    fast wie ein alter Spruch.

    Der kam. So kommt manchmal im Hain
    der große Sturm und hüllt dich ein.
    Der ging. So läßt das Benedein
    der großen Glocken dich allein
    oft mitten im Gebet...
    Dann willst du in die Stille schrein,
    und weinst doch nur ganz leis hinein
    tief in dein kühles Tuch.

    Mir fällt ein junger Ritter ein,
    der weit in Waffen geht.

    Sein Lächeln war so weich und fein:
    wie Glanz auf altem Elfenbein,
    wie Heimweh, wie ein Weihnachtsschnein
    im dunkeln Dorf, wie Türkisstein
    um den sich lauter Perlen reihn,
    wie Mondenschein
    auf einem lieben Buch.
Ich muß sagen, es fällt mir schwer, es anders zu lesen, als daß sowohl das lyrische Ich als auch das lyrische Du das Mädchen bedeuten, das sich sich selbst gegenüberstellt. Wer sonst sollte das lyrische Ich sein?
Interessant finde ich, daß im ersten Teil die inneren, gefühlsmäßigen Vorgänge im Mädchen, im zweiten Teil das Lächeln des Ritters geschildert wird - wobei die Vergleiche (Heimweh, Weihnachtsschnein, Türkisstein, Mondenschein), so mein Eindruck, vom Mädchen selbst gezogen werden (bzw natürlich von Rilke, der sich in die Rolle des Mädchens versetzt :wink: ).
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stilz
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von stilz »

Und noch zum Gedicht Kindheit:
arme hat geschrieben:Meint man irgendwie, daß alles was man die Kindheit vergleichen will, von einem wegflieht?
helle hat geschrieben:Im Gedicht Kindheit stimme ich ›arme‹ zu. Kein späterer Vergleich wird dem ganz gerecht, was ein Kind, was das Kind in der Vergangenheit erlebt hat, einer Vergangenheit, die einst ja Gegenwart war, in einer Unmittelbarkeit und Ausdehnung, die der erwachsene Mensch normalerweise nicht mehr teilt.
Auch hier erst einmal der ganze Text:
  • Kindheit

    Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit
    mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen.
    O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen...
    Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen
    und auf den Plätzen die Fontänen springen
    und in den Gärten wird die Welt so weit -.
    Und durch das alles gehn im kleinen Kleid,
    ganz anders als die andern gehn und gingen -:
    O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen,
    o Einsamkeit.

    Und in das alles fern hinauszuschauen:
    Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen
    und Kinder, welche anders sind und bunt;
    und da ein Haus und dann und wann ein Hund
    und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen -:
    O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen,
    o Tiefe ohne Grund.

    Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen
    in einem Garten, welcher sanft verblaßt,
    und manchmal die Erwachsenen zu streifen,
    blind und verwildert in des Haschens Hast,
    aber am Abend still, mit kleinen steifen
    Schritten nachhaus zu gehn, fest angefaßt -:
    O immer mehr entweichendes Begreifen,
    o Angst, o Last.

    Und stundenlang am großen grauen Teiche
    mit einem kleinen Segelschiff zu knien;
    es zu vergessen, weil noch andre, gleiche
    und schönere Segel durch die Ringe ziehn,
    und denken müssen an das kleine bleiche
    Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -:
    O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
    Wohin? Wohin?
Ich lese »entgleitende Vergleiche« nicht als Vergleiche, die ein Erwachsener mit der Kindheit anzustellen versucht (was nicht gut gelingen kann, daher „entgleitend“) --- sondern diese entgleitenden Vergleiche gehören zur Kindheit, machen gewissermaßen das Wesen der Kindheit aus:
Alltägliche Begegnungen werden mit etwas anderem „aufgeladen“ und führen so zu »Trauer ohne Sinn«, zu »Grauen«, zu »Tiefe ohne Grund«...
Ähnlich das aktive »Begreifen«, das, ganz wörtlich genommen, dem Spiel »mit Ball und RIng und Reifen« zugrundeliegt, und das »entweicht«, sobald das Spiel aus ist und man sich selbst »fest angefaßt« findet...
Oder das kleine Segelschiff am Teich, das man vergißt über den »andren, gleichen und schöneren Segeln», die »durch die Ringe ziehn« - ich verstehe diese anderen Segel als Spiegelbilder des Spielzeugschiffes, die für das Kind größere Bedeutung gewinnen als das Schiffchen selbst; ebenso wie das Spiegelbild des eigenen Gesichtes, »das sinkend aus dem Teiche schien«...

Daß jedes Ding für ein Kind etwas Anderes, „Größeres“, mit-bedeutet; daß es diese „Mit-bedeutung“ ist, in der das Kind eigentlich lebt; daß diese „Mit-bedeutungen“ aber entgleiten, sobald man wieder »fest angefaßt« in der „harten Realität“ landet; diese »Unmittelbarkeit und Ausdehnung, die der erwachsene Mensch normalerweise nicht mehr teilt«, wie helle es formuliert ---
das finde ich in diesem Gedicht ausgedrückt.
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helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Liebe stilz,

ja, sehr gut, das relativiert und erweitert entschieden, was ich geschrieben habe. Beim »Ritter« - »Mir fällt ein junger Ritter ein« - muß man allerdings großzügig sein, um es nicht als Bruch zu empfinden, daß dem Mädchen selbst, das ja offenkundig schwer in den Ritter verliebt war, das vor Unglück schreien wollte und doch nur weinen konnte, »tief« natürlich usw., der junge Ritter »einfällt«. So wie mir einfällt, daß ich noch Schalotten brauche oder zur Post muß. Also ›einfallen‹ hat etwas Beiläufiges, aproposhaftes. »Wer sonst sollte das lyrische Ich sein?« fragst Du. Das wird tatsächlich nicht mitgeliefert, ein ungefähres Gegenüber vielleicht, vielleicht eins, das sich in der Figurenrede übt und das Mädchen imaginiert, vielleicht ein Vertrauter im Gespräch mit dem Mädchen, aber ich gebe zu, das ist alles nicht zwingend, vielleicht nicht mal plausibel.

Beim Kindheitsgedicht würde ich keiner von den Sachen, die Du im Gedicht ausgedrückt siehst, widersprechen wollen, das sehe ich durchaus auch. Aber das Gedicht lebt auch vom Schein der Naivität und des sich Hineinversetzens, es ist ja nicht wirklich aus kindlicher Perspektive geschrieben, sondern ein retrospektiver Versuch, sie anschaulich zu machen: »blind und verwildert in des Haschens Hast,/ aber am Abend still, mit kleinen steifen/ Schritten nachhaus zu gehn,« so spricht nicht nur, so empfindet auch kein Kind. Und trotzdem könnte mich Dein Einwand überzeugen, daß das, was »entgleitet«, die kindliche Fülle der Assoziationen ist, wenn es in die Regelwelt der Erwachsenen zurückgerufen wird und nicht das Unvermögen des Erwachsenen, Vergleiche zu finden für das, was in ihm war. Eine schöne Beobachtung, scheint mir, also danke für den Hinweis,

helle
stilz
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von stilz »

Lieber helle,

Kindheit:
helle hat geschrieben:es ist ja nicht wirklich aus kindlicher Perspektive geschrieben, sondern ein retrospektiver Versuch, sie anschaulich zu machen
D'accord - der Erwachsene versucht, im Nachhinein das kindliche Erleben in Worte zu fassen - und auf diese Weise das, was damals noch nonverbal war, ins Bewußtsein zu heben.


Mädchenmelancholie:
helle hat geschrieben:Beim »Ritter« - »Mir fällt ein junger Ritter ein« - muß man allerdings großzügig sein, um es nicht als Bruch zu empfinden, daß dem Mädchen selbst, das ja offenkundig schwer in den Ritter verliebt war, ... der junge Ritter »einfällt«. So wie mir einfällt, daß ich noch Schalotten brauche oder zur Post muß.
:lol: Du hast natürlich recht - das wäre tatsächlich etwas seltsam.

Danke - Deine Bemerkung hat mich veranlaßt, das Gedicht noch einmal genauer zu lesen.
Und nun bin ich gar nicht sicher, ob das Mädchen tatsächlich »schwer in diesen Ritter verliebt war«: wo sollte denn eigentlich so ein wirklicher, nicht nur „eingefallener“, Ritter herkommen? Das Mädchen, so mein Eindruck, lebt ja nicht im Mittelalter, sondern in einer Zeit, in der Rittergestalten »fast wie ein alter Spruch« wirken...

In Wirklichkeit ( :wink: sofern man bei der „Handlung“ eines Gedichtes von Wirklichkeit sprechen kann) ist es ja nicht das Kommen und Weggehn des Ritters, das das Mädchen »einhüllt« bzw »allein läßt«, sondern es sind »der große Sturm« und »das Benedein/der großen Glocken«.

Könnte man das Gedicht vielleicht so lesen, daß das Mädchen sich danach sehnt, die eigenen starken Gefühle und Sehnsüchte an der konkreten Gestalt eines „Helden“ festmachen zu können, der ihm »einfällt«, den es sich erträumt?
Wieviele Mädchen träumen, sogar auch heute noch, vom strahlenden Ritter auf einem weißen Pferd, der das (natürlich schwer in ihn verliebte) Mädchen zu sich heraufhebt und mit ihm in die Ewigkeit reitet... :lol: so ähnlich kenne ich es jedenfalls aus meiner frühen Jugend...

Herzlich,
stilz
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helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Liebe stilz,

vielleicht hast Du Recht und man kann sich das ganze als Phantasmagorie vorstellen, so als würde ein Traum erzählt (zu einem bloßen Wunschtraum würde das Imperfekt nicht so gut passen).

Das Kommen und Gehen des Ritters sehe ich aber nicht als alternativ zum »großen Sturm« und »Benedein/der großen Glocken«, sondern beide Bewegungen (kommen/Sturm; Gehen/Glocken) stehen durch den Vergleich ja in enger Verbindung.

@ arme: es wäre doch schön, wenn Du einmal eine Deiner Übersetzungen hier einstellen würdest.

Freundliche Grüße,
h.
arme
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von arme »

Lieber Helle, danke für das Interesse, ich stelle gerne eine von meinen Übersetzungen hier ein. Und sie wird zwar auf Finnisch sein. Kindheit:

LAPSUUS
On koulun pitkä ahdistus ja aika
pelkkää odotusta, kaikki niin ikävää.
Oi yksinäisyyttä, aikaa jähmeää…
Ja sitten ulos: katu leiskuu ja soi,
torilla suihkukaivo ilakoi
ja puistoissa avara maailma. –
Tuon kaiken halki riennät pikku puvussa
niin toisin kuin kukaan muu –:
Oi ihmeellistä aikaa, sen venyvyyttä,
yksinäisyyttä.

Ja kaikkeen katsot kuin kauas jonnekin:
miehiä, naisia; miehiä, miehiä, naisia
ja lapsia, niin kirjavia, erilaisia;
siinä talo, tuossa koira ja tuossakin,
pelko, luottamus hetkin vaihtuvin –:
Oi surua tyhjästä, kauhua, haaveilua,
syvyyttä pohjatonta.

Ja sitten leikki: palloa, renkaita, vannetta
pehmeästi tummuvassa puistossa,
ja väliin hipaiset aikuisia
sokeasti, villinä hippasilla,
mutta illalla hiljaisena, jäykin pikku askelin
kotiin astelet, joku taluttaa –:
Yhä heikommin hahmotat maailmaa,
jokin painaa, pelottaa.

Ja tuntikaudet suuren harmaan lammen rannassa
pikku purjevenettä uittamassa;
se unohtuu, kun muita samanlaisia
vielä kauniimpia purjeita lipuu lammen renkaissa,
ja pienet kalpeat kasvot syvällä lammessa,
ajatella pitää vielä niitäkin.
Oi lapsuus, pois karkaavia kuvia.
Minne, minnehän?

Mein Problem waren jag die letzten Zeilen. Das Wort Vergleich scheint mir in meiner Sprache unmöglich. Zum Schluβ habe ich gedacht, daβ Bild eigentlich nicht so weit von einem Vergleich ist. Ein Bild ist wohl immer ein Vergleich mit der Wirklichkeit, und paβt gut zu dem Buch der Bilder. Und entfliehen würde das Verb entgleiten entsprechen. Entfliehende Bilder. Doch bin ich noch nicht ganz zufrieden. Stilz hat früher eine von meinen Übersetzungen mit Google-Translate zurückübersetzt und sie erstaunlich gut verstanden. Meine Reime sind nicht immer ähnlich mit Rilkes Reimen, ich habe meistens einen schönen Gang und eine schöne lautliche Form schaffen wollen.

Herzliche Grüβe von Arja
helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Liebe Arja,

vielen Dank! Leider kann ich gar kein Finnisch und damit auch kein Urteil abgeben (ich hatte geglaubt, Du übersetzt ins Dänische - das beherrsche ich ebensowenig, aber es ist dem Deutschen etwas näher). So schaue ich auf die Übersetzung wie auf ein Gedicht der sogenannten "Konkreten Poesie", in der sehr stark mit akustischen, perkussiven und vor allem visuellen Elementen der Lyrik gearbeitet wird. Und dabei fallen mir in Deiner Übersetzung die vielen Vokale auf, die den Charakter des Gedichts sicher sehr verändern (z.B. das "a" in der letzten Strophe). Denn das Gedicht als besonderes sprachliches Gebilde lebt ja vom Zusammenspiel von Laut und Bedeutung .

Man kann sich, da man wie ein Kind glaubt, daß die Sprache universell ist und alle Erscheinungen der Welt abbildet, kaum vorstellen, daß es keine Entsprechung für den Begriff "Vergleich" gibt. Dadurch, daß man den Begriff (im Deutschen sowie in allen sonstigen mir bekannten Sprachen) kennt und gebraucht, glaubt man unwillkürlich, daß auch die Sache (hier also das Phänomen des Vergleichs) etwas gewissermaßen Naturgegebenes ist. Die Tätigkeit des Vergleichens wird es vermutlich auch in Finnland geben; Sprichwörter, Sentenzen, Metaphern und Sprachfiguren aller Art haben ja sehr eng damit zu tun. Oder wie stellt es sich Dir dar?

Schöne Grüße,
helle
arme
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von arme »

Lieber Helle, ich wollte deinen Glauben an die Universalitäten nicht erschüttern... Natürlich gibt es ein Wort für Vergleichnis auch in meiner Sprache. Es ist nur die Form, die mir Kummer macht. Sie wird irgendwie zu ungeschmeidig gerade in der Position. Und ein syntaktisches Problem habe ich auch. Als Gedanke war es auch ein bisschen schwer zu verstehen, aber eure Deutungen haben mir geholfen. Auf irgend eine Weise werde ich es lösen. Nun hätte ich noch die letzte von meinen Fragen, wenn jemand darauf denken möchte. Um die Lichter in dem Gedicht Die Konfirmanden, ob sie die Flammen der Kerzen sind oder alle Lichter in der Kirche.

Mit besten Grüssen arme
helle
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von helle »

Liebe Arme,

dieser Glaube ist schon seit längerer Zeit erschüttert ..

Mit den Lichtern sind sicherlich die Flammen der Kerzen gemeint - ob sie allein, erschließt sich mir nicht, aber sie in jedem Fall und vielleicht auch nur sie.

Gruß, helle
arme
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Re: Fragen zum "Buch der Bilder"

Beitrag von arme »

Danke, Helle, ein kleines Detail aber doch so wichtig. In meiner Sprache kann ich nur im Licht der Kerzen arbeiten, aber die Kerzen können nur Flammen haben. Ich werde die Flammen wählen. Einen schönen Gruss, arme
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