Gesetz im Requiem - für eine Freundin

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Gesetz im Requiem - für eine Freundin

Beitrag von stilz »

Liebe Arja,

nun hat es doch noch etwas länger gedauert - ich versuche jetzt also eine Antwort auf Deine drei letzten Fragen:
arme hat geschrieben:8) Gebräuche her! wir haben nicht genug
Gebräuche. Alles geht und wird verredet.

Ich möchte "alles geht und wird verredet" richtig gut verstehen.
Rilke spricht ja unmittelbar davor von Klagefrauen, die man vielleicht doch hätte auftreiben sollen...
Diesen Brauch gab es in früheren und gibt es heute noch in anderen Kulturkreisen - siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Klageweib
Es ist etwas anderes, ob man seine Trauer in Worte faßt, oder ob man ihr in anderer Weise Ausdruck verleiht.

Ich habe das vor ein paar Jahren erlebt, als meine Freundin viel zu früh verstarb. Sie wurde, in ihrem Heimatdorf in Südtirol, drei Tage lang im Haus ihrer Schwester aufgebahrt, Freunde und Bekannte kamen, brachten Geschenke, beteten jeden Abend gemeinsam den Rosenkranz (es waren so viele, daß sie bis auf die Straße hinaus standen...); am dritten Tag schritten alle in einer langen Prozession vom Haus bis zur Kirche, zuerst in Stille, dann kam uns die Musikkapelle entgegen, mit feierlich langsamem Trommeln, ohne jedes Melodieinstrument.
In der Kirche gab es viel Musik (meine Freundin war selbst Musikerin), und es bedeutete mir sehr viel, in dieser Situation die "Erbarme dich"-Arie aus Bachs Matthäuspassion zu singen, statt meine Gefühle bloß zu "verreden"...
Die Vorsilbe "ver" deutet meist auf ein Verschwinden oder Beseitigen hin (gewissermaßen die Gegenrichtung zur Vorsilbe "er"): verschwinden, verzichten, verjubeln, vertrinken, verlieren, verdrängen... oder auch auf eine Fehlleistung: verschreiben, verrechnen, verlegen, (sich) versprechen, verkennen...
(Wenn auch nicht ganz so zerstörerisch wie die Vorsilbe "zer" - zerstören, zerfetzen, zerreißen, auch: zerreden...).

Rilkes Alles geht und wird verredet begreife ich als ein Reden über Gefühle anstelle eines restlosen Durchlebens der Gefühle.

Schillers wunderbares Distichon "Sprache" fällt mir dazu ein:
  • Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!
    Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
Also: Gebräuche her, in denen die Seele sich aus-klagen kann, damit nicht Verstorbene uns erscheinen müssen, um diese Klage nachzuholen...

arme hat geschrieben:9) Engel, welche Gott erinnern.

Ist es: welche noch Gott in Erinnerung haben?
Ja, so verstehe auch ich es.
Allerdings über dieser Stelle "brüte" ich noch etwas - warum will Rilke von seinem reinsten, ihm selbst noch unbekannten Kindgewesensein nichts wissen? Warum schreien die Engel? Klagen sie, weil keiner dieses wirre Leiden von der falschen Liebe kann? Was bedeutet es, ihnen den aus diesem Kindsein gebildeten Engel hinzuwerfen?

arme hat geschrieben:10) Keiner ist weiter. Jedem, der sein Blut
hinaufhob in ein Werk, das lange wird,

"Keiner ist weiter." - Was bedeutet es eigentlich?
Keiner, der sein Blut hinaufhob in ein Werk, das lange wird, ist so weit fortgeschritten, daß er nicht mehr Gefahr läuft, dieses Blut wieder nach seiner Schwere gehen zu lassen, sodaß es - trotz aller bisher geschaffenen Werke - wertlos wird.

Das ist es, was - Rilkes Ansicht nach - Paula geschehen ist.
Blut verstehe ich hier als Leben, Lebenskraft, Lebenszeit - - -
Rilke sieht die große Arbeit nur möglich, indem (und: solange) die schwerkraft-artigen Kräfte, die zum "normalen" Leben drängen, überwunden werden.

Und so erbittet er Paulas Hilfe:
Denn irgendwo ist eine alte Feindschaft
zwischen dem Leben und der großen Arbeit.
Daß ich sie einseh und sie sage: hilf mir.



:-) Du hast ganz recht: meine Antwortversuche auf Deine Fragen sind mir eine sehr liebe "Mühe"!

Herzlichen Gruß!
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
arme
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Re: Gesetz im Requiem - für eine Freundin

Beitrag von arme »

Liebe Ingrid! Danke auch für deine letzten Antworte. Ich habe mit Das Buch der Bilder begonnen, aber dann auch so vieles andere gemacht. Ich wollte ja das Requiem im Buch der Bilder mit Paulas Requiem vergleichen. Beide sind sehr schön. Gerade das Verweilen bei der Grenze. Jetzt ist es so weit gekommen, das die Übersetzung auch ausgegeben wird. Beinahe sicher... Aber eine Frage muss ich noch stellen :). In dem Gedicht Ritter im Buch der Bilder heisst es:

und Gott ist selber vieltausendmal
an alle Straßen gestellt.

Über die Zeilen bin nicht ganz sicher. Meint man, dass der Ritter auf seiner Reise den Gott vieltausendmal begegnet?

Frohe Ostern wünscht Dir und allen arme
arme
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Re: Gesetz im Requiem - für eine Freundin

Beitrag von arme »

Ich grüße wieder das Forum! Und komme immer wieder mit meinen Fragen. Es geht weiter um Das Buch der Bilder. Diese erste Frage habe ich wohl schon einmal gestellt. Ich glaubte, daß ich schon an alles gedacht hatte, aber neue Leser, neue Probleme... Also:

1) Im Gedicht Mondnacht
Süddeutsche Nacht, ganz breit im reifen Monde
und mild wie aller Märchen Wiederkehr.
Vom Turme fallen viele Stunden schwer
in ihre Tiefen nieder wie ins Meer, –
und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde,
und eine Weile bleibt das Schweigen leer;
und eine Geige dann (Gott weiß woher)
erwacht und sagt ganz langsam:
Eine Blonde ...
Meint man mit Stunden 60 Minuten oder kürzere Augenblicke?
Und bedeutet ”Ruf der Ronde” einen Ruf eines Wächters? Und macht er den Ruf mit seiner Stimme oder mit einem Instrument?

2) Im Gedicht Ritter:

und Gott ist selber vieltausendmal
an alle Straßen gestellt.

Wie sollte man diese Zeilen mit Gott deuten?

3) Das Gedicht Mädchenmelancholie

Ist es die ganze Zeit das Mädchen, das da für sich denkt? Ich habe gedacht, daß auch die Zeilen

Dann willst du in die Stille schrein
und weinst doch nur ganz leis hinein
tief in dein kühles Tuch.

wie ein Du-Passiv ist, daß das Mädchen sich selbst meint. Oder ist es ein anderer, der das Mädchen anspricht?

4) Gedicht Kindheit und die Zeilen

O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
Wohin? Wohin?

Meint man irgendwie, daß alles was man die Kindheit vergleichen will, von einem wegflieht?

5) Das Gedicht Konfirmanden:
Das war ein Aufstehn zu dem weißen Kleide
und dann durch Gassen ein geschmücktes Gehn
und eine Kirche, innen kühl wie Seide,
und lange Kerzen waren wie Alleen,
und alle Lichter schienen wie Geschmeide,
von feierlichen Augen angesehn.

Meint man hier die Flammen der Kerzen?

Vielleicht nicht zu schwere Fragen :) arme
stilz
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Re: Gesetz im Requiem - für eine Freundin

Beitrag von stilz »

Liebe arme,

der besseren Übersichtlichkeit halber habe ich aus Deinen Fragen ein neues Thema gemacht - hier.
Und nun geht es ans Antworten :D

Herzlich,
stilz
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