Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Harald
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Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth

Beitrag von Harald »

Die ohnehin eindringlichen Zeilen

"Das, was geschieht, hat einen solchen Vorsprung
vor unserm Meinen, daß wirs niemals einholn
und nie erfahren, wie es wirklich aussah. "

werden transparenter, wenn man weiß, dass der junge Graf Kalckreuth, dessen Baudelaire- und Verlaine-Übersetzungen nach seinem Tod vom Insel-Verlag publiziert wurden, mit 19 Jahren im Militärdienst Selbstmord beging. Sein Vater, der Maler Leopold von Kalckreuth, schrieb an einen Freund:
"Den armen Jungen hat, obgleich täglich ihn einer von den Meinigen besuchte und Abends mit ihm war, die falsche Illusion gepackt, es gäbe aus dem schrecklichen Dienst kein Entrinnen [...] Am Morgen hat er sich im Bett erschossen, nachdem er mit Zetteln und Briefen sein Haus bestellt hatte, sein kleines Haus [...] doch man kann ihm nicht zürnen. Es lag lange in ihm, der Tod stand ihm näher als das Leben."

Die folgenden Verszeilen von Emily Dickinson (1830-1886) sind eine staunenswerte Vorwegnahme der von Rilke angesprochenen Uneinholbarkeit.
"The overtakelessness of those
Who have accomplished Death"
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
stilz
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Re: Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

(Willkommen zurück! Große Freude!)

Danke, besonders für den Hinweis auf Emily Dickinson!

overtakelessness - was für ein Wort.
Wir würden freilich "Uneinholbarkeit" sagen - was aber nicht ganz dasselbe wäre, da es eine Unmöglichkeit ausdrücken würde, während overtakelessness für mich nur bedeutet, daß etwas eben (bisher) nicht eingeholt wurde...

Mich berühren in Rilkes Requiem (hier:
http://www.rilke.de/gedichte/fuer_wolf_graf_von_kalckreuth.htm
geht's zum ganzen Text) besonders diese Zeilen (die auch erst verständlich werden, wenn man um den Selbstmord des jungen Mannes weiß):

... War das so
erleichternd wie du meintest, oder war
das Nichtmehrleben doch noch weit vom Totsein?


„Totsein“ ist für Rilke also offenbar etwas anderes als „Nichtmehrleben“...


Noch zu den Gedichten des jungen Mannes, von denen Rilke spricht:

Nur den Gedichten sehn wir zu, die noch
über die Neigung deines Fühlens abwärts
die Worte tragen, die du wähltest. ...


Hier finden sich Kalckreuths Liebesgedichte:
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/kalckreuth_wolf.htm


Herzlichen Gruß,

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Harald
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Re: Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth

Beitrag von Harald »

Lieber stilz,
die "natives" lesen das offensichtlich als "the dead cannot be overtaken". So z.B. Greg Mattingly in seinem Buch "Emily Dickinson as a Second Language: Demystifying the Poetry" von 2018. Andere gängige Wortbildungen wie baselessness oder groundlessness bestätigen die Verneinungstendenz von "lessness".
Herzlicher Gruß
Harald
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